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Mark Greif  (geb. 1975) ist ein US-amerika­nischer Essayist und Journalist. 2011 erschien die Dokumentation Occupy! Die ersten Wochen in New York, die Greif mitherausgegeben hat (Suhrkamp Verlag, Berlin).

Dieser Essay erschien erstmals in der «Edition Nr. 4» der Berliner Festspiele im August 2012. Aus dem Englischen übersetzt von Astrid Sommer.

 


Thoreaus Waldhaus

© Greenpeace

 

In Concord, Massachusetts, dem Waldensee gegenüber, beschatteten die Ahorn- und Eichenbäume rund um Walden in den Jahrzehnten, da ich dort in der Nähe aufwuchs, auch zwei betonierte Areale mit einer Ansammlung flacher, länglicher Wohnwagenbehausungen, wie Elfenbeinsärge. Stufen aus Beton verbanden die Fliegengittertüren mit der Erde. Diese Behausungen, eigentlich zur Fortbewegung gedacht, hatten ihre Beweglichkeit eingebüsst. Der Staat hatte das Land unter ihnen gekauft. Durch eine Landstrasse (nicht viel breiter als der alte Feldweg, den sie befestigte) von diesen Arealen getrennt, bildeten der finstere Wald, der tiefe See, die hellen Strände und ausgedehnten Waldgebiete hinter den Bahngleisen den Waldensee-Staatspark — ein Naturschutzgebiet und historisches Denkmal, der Aufsicht des Bundesstaates Massachusetts unterstellt. Hier war also der Staatspark — und dort die Wohnwagensiedlung. Die beiden mussten in einem ewigen Widerspruch zueinander stehen. Denn wenn die niederen, unauffälligen Behausungen auf der anderen Strassenseite im amerikanischen Sprachgebrauch einen «Trailerpark» (Wohnwagensiedlung) abgaben, so grenzte sie diese Titulierung deutlich ab von den Baumstämmen und Gräsern, dem fallenden Laub, den Wanderwegen und Aussichtspunkten; eingezäunt, damit namenlose BürgerInnen sie (gegen eine bescheidene Eintrittsgebühr) geniessen konnten, jedenfalls solange sie keine Spuren hinterliessen. «Trailerpark» — der Begriff zeugt von einem Gehege für Rentner und Angehörige der Arbeiterklasse, arm genug, um keine Häuser ohne Räder zu besitzen, aber nicht entrechtet genug, um pittoresk oder bemitleidenswert zu sein; nicht arm genug, dass es ihnen an grellbunten Kollektionen von Autos gemangelt hätte, die ihre Schnauzen an die Aussenverkleidung aus Vinyl schoben, oder an überdimensionalen Fernsehern, die bei Tag durch Fenster aus Autoglas flimmerten, die Plastikblumen auf den Fensterbänken silhouettenhaft erhellten oder durch das Gewirr der Chintzgardinen schimmerten. «Trailerpark-Trash», (Wohnwagenabschaum), ist, auf Menschen bezogen, der rare amerikanische Ausdruck der Verachtung, dem eine organisierte Gruppe fehlt, ihn übelzunehmen. Während meiner Kindheit führte die Staatsparkverwaltung einen Zermürbungskrieg gegen die Wohnwagen: Verbot der Übertragung des Platzes an Erben oder Neuankömmlinge, Verbot der Rückkehr für jeden, der daran dachte, die Räder zu benutzen und später zurückzukommen, schliesslich Entsorgung jedes Wracks, sobald seine Bewohner starben.

Der Waldensee ist Geschichte, nicht nur Natur, denn Henry David Thoreau hat hier in den 1840er-Jahren zwei Jahre lang philo­sophiert. Dieser Ursprung seiner Berühmtheit unterscheidet ihn von dem anderer Staatsparks auf der anderen Seite von Concord, an der Battle Road Richtung Lexington, wo Patrioten 1755 durch Schüsse auf eine Kompanie britischer Soldaten die amerika­nische Revolution bzw. den Unabhängigkeitskrieg auslösten. Nur zwei Generationen von «Amerikanern» später zog Thoreau in ein kleines Haus, das er auf geborgtem Land am Ufer des Waldensees errichtete, baute ­Bohnen und Kartoffeln zum Verkauf an und beobachtete, wer im Jahreslauf seine Umgebung durchwanderte — Menschen wie auch Tiere. Seinen Beitrag zur Tradition leistete er nur wenig später als Kierkegaard, nur wenig ­früher als Nietzsche — aber beide sind seine Geschwister im Geiste. Seine Sammlung von Gedanken und Beobachtungen, Walden, und ein Essay über seine Vorstellungen von Individuum und Staat, «Civil Disobedience» («Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat), reichen aus, ihn zu einem der wichtigsten Philosophen Amerikas zu machen. Thoreaus Fragen waren recht einfach: was das Leben — wirklich — ist; wie viel mehr man daraus machen könnte, zöge man sich von den gewohnheitsmässigen Verpflichtungen zurück, insbesondere von dem Gebot, «sich den Lebensunterhalt zu verdienen», Arbeit zu haben, Besitz, auf Schulden und Kredite zu schwören. Er riet dazu, lediglich geistige Geschäfte zu machen oder zwischenmenschliche.

Der genaue Standort seiner Hütte am Waldensee ist in Vergessenheit geraten, aber Besucher haben an der nordöstlichen Ecke des Sees einen Steinhaufen aufgeschichtet. Steinbrocken, der Mauer einer neuenglischen Farm würdig, mischen sich dort mit glatten, bloss handtellergrossen Kugeln. Beim Hauptparkplatz trägt ein Nachbau von Thoreaus Behausung, in den im ersten Kapitel von Walden beschriebenen Abmessungen, das perfektionierte Aussehen von maschinell bearbeitetem, gekauftem Bauholz zur Schau. Hier wird regelmässig gesaugt. In der Nähe ist der Philosoph in Bronze dem Wetter ausgesetzt. Der Souvenirladen verkauft Zitate aus Thoreaus Schriften auf Autoaufklebern, Kaffeetassen, T-Shirts und Abreisskalendern — «Die Wildnis ist es, die die Welt bewahrt»; «Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit»; «Hütet euch vor jedem Unternehmen, das neue Kleider erfordert» — neben Waren, die die Dinge verkomplizieren: neue Kleidungsstücke und Wanderausrüstung für die ausgetretenen Pfade im Walden-Wald. Auch Thoreaus Bücher werden dort sämtlich verkauft.

Der Naturschutzpark ist eine wunderbare Erfindung; das sage ich ohne jede Ironie. Er hat meine vorstädtische Kindheit auf mannigfache Weise gerettet. Er schützt Waldgebiete und erhält Eichen, Pinien und Birken, Büsche und Unkräuter, Streifenhörnchen und Frösche, Eulen und Meisen. Er macht einen Badesee jedwedem zugänglich, ungeachtet eines Wohnsitzes in der Stadt, und man wird westlich von Boston kaum einen besseren finden, der in der Hitze des Sommers so vielen Erfrischung verschafft. Aber die Wohnwagensiedlung — die war, solange sie bestand, jedem ein Dorn im Auge. Für die Parkverwalter, für Journalisten, Bewahrer, Besucher konnte sie kein glaubhaftes Beispiel des einfachen Lebens abgeben, auch keinen Ort zum Philosophieren; sie war ein Schandfleck, eine Beleidigung. Die WohnwagenbewohnerInnen, mittlerweile alle verstorben, kauften ihre Lebensmittel in Acton oder in anderen Städten, ärmer als Concord, der noblen Gemeinde, in der sie «die Zigeuner» genannt wurden. In meiner Kindheit in den 1980er-Jahren war ihre Gegenwart ein Mysterium für mich, ein wichtiges. Jeder Wohnwagen hinterliess, wenn er verschwand, ein graues Rechteck aus Beton, wie ein altes Bett. Ich überwand die Ketten und «Durchgang verboten»-Schilder um den letzten verbliebenen Wagen, war aber zu klein, um hineinschauen zu können. Und als ich, in meiner Jugend in den 1990er-Jahren, Thoreau durch seine Schriften besser kennenlernte, hielt ich die Wohnwagensiedlung für eines der wenigen Dinge, die Thoreau verteidigt hätte, gegen all das, was getan worden war am Waldensee, in seinem Namen.

Zu behalten, was Thoreau gesagt hat, ist schwierig, weil alles so verstörend ist. Für uns ist es einfacher, uns einen dünnen Mann vorzustellen, der mit seinen eigenen Händen eine Hütte am Ufer eines herrlichen Sees errichtet hat. Bewusst baute Thoreau seine Hütte nicht von Grund auf neu. Er schlug die Balken für den Rahmen aus Bäumen eines anderen, fand Freunde, die ihm beim Aufstellen halfen, und recycelte den Rest aus Material eines Arbeiterfeldlagers: Für Dach und Wände kaufte er, billig, «die Hütte von James Collins, einem Irländer, der beim Bau der Fitchburgbahn arbeitete»1. Das war philosophisch, mit all seinen Abkürzungen und Verstössen. Thoreaus Feuer brannte, um eine entscheidende Wandlung hin zu «Wirtschaftlichkeit» zu erhellen. Wirtschaftlichkeit ergab sich für ihn aus seinem Theorem: «Die Kosten eines Gegenstandes aber möchte ich die Lebenskraft nennen, die man für ihn ein­tauschen muss, über kurz oder lang.»2 «Leben» auf zwei Arten zu erfahren — einen Zollstock daran anlegen, es auf die Waagschale legen, es messen und bewerten, während man es gleichzeitig (er)lebt, sich seinen Erscheinungsformen anpasst — ist die philosophische (und tagtägliche) Hauptaufgabe. Die Herausforderung erinnert mich an Schillers berühmte Sozial­reform-Metapher in seiner Schrift «Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen», nämlich, ein Uhrwerk zu reparieren, ohne es anzuhalten oder das Anzeigen der Zeit zu unterbrechen.

In Thoreaus Concord hielt man die Landwirtschaft für die achtbarste aller Betätigungen. Wirtschaftliche Konzentration, wie bei den grossen Farmen in seiner Nachbarschaft, offenbarte sich Thoreau, kaum hatte er mit dem schicksalhaften Vermessen des Lebens begonnen, als Versklavung, von der nur der Tod ihre Nutzniesser befreien konnte: «Wenn der Farmer endlich ein Haus besitzt, so ist er deswegen nicht reicher, sondern ärmer geworden, denn nicht er hat das Haus — das Haus hat ihn.»3 Anstatt das für ihn Lebensnotwendige auf die am wenigsten kostspielige und am wenigsten zerstörerische Weise zu gewinnen, entnimmt der Farmer Mengen, die er nicht braucht. «Um seine Schuhriemen zu verdienen, spekuliert er in Viehherden.»4 Es wäre vielleicht besser, meinte Thoreau, in den sarggrossen Werkzeugkisten — wie er sie entlang der Bahngleise gesehen hatte — zu schlafen; man könnte darin hausen und hätte jedenfalls sehr viel geringere Kosten zu bestreiten als die, die uns die grossen Särge, Haus und Grundbesitz genannt, abverlangen, für die eine dreis­sigjährige Hypothek abzubezahlen ist. «Wie mancher rackert sich zu Tode, um die Miete für eine grössere und komfortablere Kiste aufzubringen, der in der kleineren sicher nicht vor Kälte gestorben wäre.»5

All seine Worte mögen schwer erträglich sein, aber kein Amerikaner bleibt verschont. «Am vierten Juli […] zog ich in mein Haus ein»6, rühmt sich Thoreau und wetteifert darin mit den Prätendenten des 4. Juli — jenen Amerikanern des Gründungsjahres 1776, die behaupteten, für die Unabhängigkeit gekämpft und die neue Nation befreit zu haben, sie aber in Wirklichkeit in unwissender Unterjochung beliessen. Thoreau führt Krieg gegen Lohnarbeit, Verschuldung, Häuser, Erbschaften, Regierungen, Staaten. Nur seine Ökonomie des Lebens kann dem bankrotten Land eine neue Chance geben. Thoreau bewundert zwar leidenschaftlich den See und die Wälder, das Wilde und die Natur, aber nicht, weil sie Ornament sind, Erquickung oder dem menschlichen Leben Trost spenden. Für das menschliche Leben sind sie grausame Lektionen. Für Männer und Frauen ist schöne Natur schön, weil sie unser Leben bis auf das Wesentliche blank­legt, uns spiegelt, uns abweist, unsere Götzen und Kunstobjekte zerstört. «Bevor wir unsere Häuser mit schönen Dingen ausstaffieren, müssen die Wände blankgelegt werden und unser Leben auch, und schöne Hauswirtschaft und schönes Leben als Fundament gelegt werden; der Sinn für das Schöne aber wird am besten im Freien ausgebildet, fernab von Häusern und Haus­haltung.»7

Der Philosoph bewohnte eine Hütte, weil er ausserhalb aller Häuser leben wollte. Er verliess auch den — allem Anschein nach himmlischen — Waldensee, sobald er bekommen hatte, was seine Seele damals brauchte, «vielleicht in dem Gefühl, dass ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne».8

Occupy Wall Street besetzte einen Park im Finanzzentrum der Vereinigten Staaten, nicht weil die BesetzerInnen im Freien schlafen, sondern weil sie in einer Demokratie leben wollten. War dieser Zusammenhang all jenen klar, die das im Fernsehen sahen, jedem, der sich eine Meinung dazu erlaubte? Acht Wochen dauerte die Besetzung — acht Wochen! —, und dann wurden sie von der Polizei mit Stöcken und Fäusten herausgedrängt, ihr Experiment blieb unvollendet. Ich hatte Parks und Zelte und kleine Camps gekannt — Ernst und Spiel; die amerikanische Landschaft ist übersät damit. Was also war Zuccotti Park, den die BewohnerInnen hartnäckig bei einem anderen (vielleicht seinem früheren, ursprünglichen) Namen nannten: Liberty Square, Platz der Freiheit? War es ein Walden, ein philosophisches Projekt? Eine weitere Wohnwagensiedlung, vom Staat geräumt, ein anrüchiges Idyll der Mittellosen? Aus diesem Grund verachtet, wie alle Zufluchtsorte derjenigen, die zu schwach sind, ihren Willen den über ihnen Stehenden aufzuzwingen?

Der Waldensee ist, ungeachtet seiner Schönheiten, nur ein kleiner Teich, kein grosses Gewässer, kein Meeresufer — eine Pfütze nur, hat man das grosse Ganze vor Augen. Thoreau wusste das wohl. Liberty Square ist ein winziges Rechteck aus wenig liebenswertem Asphalt, hat kaum je die Bezeichnung Park verdient; man wusste doch, wie störend dieser Platz war, wie unerwünscht, wie unbekannt. Was ihn zu einem Park machte, war nichts als die vertraglich garantierte öffentliche Zugänglichkeit, 24 Stunden am Tag, obwohl auch dieser Vertrag von seinen «Eigentümern» ausser Kraft gesetzt wurde. (Der Park war als jederzeit öffentlich zugänglicher Ort in den 1960er-Jahren entstanden, damit in diesem Viertel Bürogebäude zum privaten Vorteil abweichend von den gesetzlichen Vorgaben gebaut werden konnten. Deshalb galt er als «Privateigentum».) Allerdings hing es vom Standpunkt des Betrachters ab, zu welcher Art von Park der Zuccotti wurde. Sei es aus Idealismus oder Naivität, mir erschien er als Erneuerung der amerikanischen Grundfesten, der sichtbaren Präsenz des Volkes, der lebendigen Widerspenstigkeit im Herzen toter Denkmäler. Zum zehnten Jahrestag des 11. September, sechs Tage vor der ersten Occupy-Zusammenkunft am 17. September 2011, hatten die Amts- und Würdenträger nur ein paar Blocks entfernt ein albernes, nichtssagendes 9/11-Denkmal eingeweiht; und derweil konnten wir erleben, wie sie über dem Loch an einem gigantischen Büroturm privater Unternehmen weiterbauten — inmitten ihrer Krokodilstränen die wahre Opfergabe für den Massenmord an amerikanischen BürgerInnen. Die freie Meinungsäusserung im Zuccotti Park war das lebendige Denkmal im Schatten des Gebäudes.

Ziel der Besetzung war die Thematisierung des Wirtschaftssystems. Niemand kann leugnen, dass sich private Wall-Street-Banken 2008, dem Kollaps nahe, mit Milliarden aus dem Vermögen des Fiskus kuriert und grosse Summen aus den Hilfeleistungen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Sie nahmen das Geld der SteuerzahlerInnen und sie zwangsvollstreckten die Häuser der SteuerzahlerInnen. Sie machten die Mittelschicht obdachlos, während die Manager ihr drittes, viertes und fünftes Ferienhaus renovierten. Aber in erster Linie setzten die Banken — zurückgeholt von der Schwelle des Todes — ihr Gewicht und alle Macht, die ihnen die Demokratie zurückgegeben hat, gegen die Demokratie ein: Das Geld der BürgerInnen wird für die Finanzierung von Wahlkämpfen und Lobbyarbeit verwendet, um sicherzustellen, dass die in der Zeit der Grossen Depression aus der Taufe gehobenen, aber in den 1990er-Jahren in den Ruhestand versetzten guten alten Gesetze — die solch profitable (und selbstzerstörerische) Spekulationen verhindert hatten — nicht wieder eingeführt werden können. Banken verwendeten das Geld der BürgerInnen, um sicherzustellen, dass ihre Stimme mehr wiege als die eines jeden Bürgers. Die Wall-Street-Besetzung wollte also daran erinnern, dass das Land seine Demokratie noch immer einfordern, Banken der Rechtsstaatlichkeit unterwerfen und ihnen als Kompensation für unsere törichte Grosszügigkeit etwas abverlangen könnte. Viele Zyniker, Zustimmung heuchelnd, sagten: «Protestiert in Washington, nicht an der Wall Street.» Wenn aber Brandstifter Häuser abbrennen (und die Versicherung einstreichen) und die Feuerwehr legt die Hände in den Schoss (oder wurde bestochen, das zu tun), dann sollte man dorthin gehen, wo das Feuer seinen Ursprung hat, wo die Lappen getränkt und entzündet wurden — und dort stehen bleiben, bis die Nachbarn, bis die ganze Stadt sich umdreht und hinsieht.
Dennoch habe ich unterschätzt, wie sehr Liberty Square auch den Charakter einer Wohnwagensiedlung hatte und nicht nur ein philosophisches Experiment war. Weil ich bürgerlich bin. Ich hatte eine Wohnung, in die ich gehen konnte; nachts schlief ich in meinem eigenen Bett. Ich wähnte mich in meinem Bedürfnis, die Politik nicht von meinem gesamten Leben Besitz ergreifen zu lassen, mit Thoreau gut beraten; die individuellen Alltagsangelegenheiten sollten doch, ausser wenn von Ungerechtigkeit beeinträchtigt, im Vordergrund stehen. «Wenn ich mich mit anderen Gegenständen und Betrachtungen befassen will, dann muss ich mindestens darauf achten, dass ich dabei keinem anderen auf dem Rücken sitze.»9 Wohl wahr; und dann bin ich nach Hause gegangen. Im Protestcamp dagegen wurde deutlich, dass andere, ein Grossteil der zentralen Gruppe der Besetzer nämlich, tatsächlich zusammen leben wollten. Sie wollten keine symbolische Demokratie erschaffen, sondern eine reale. Ein bisschen wie die bunte alte Hafenstadt New York oder die selbst verwaltete Yankee-Stadt. Ein Dorf. Ein Zuhause. Die Leute wollten Demokratie gemeinsam leben — egal wie schlecht sich das für uns und unsere weniger engagierten KollegInnen vom ach so häuslichen Kleinbürgertum ausnahm. Allmählich schlossen sich die Obdachlosen der Occupy-Bewegung an. Wenn Bloombergs New York, diese gewaltige Metropole, sie als menschlichen Abfall betrachtet, der die Parks und Plätze — von Unternehmenskommissionen zu Schaufensterauslagen aufgehübscht — zumüllt, dann war dieser Park nicht nur ein Unterschlupf, sondern bedeutete auch Sicherheit, Schlaf, Gespräche, Unterhaltung und Essen, ohne Herablassung und ohne Bedingungen.

Dass eine Demokratie wirklich eine Gemeinschaft werden konnte, die ihre Konflikte und ihr Leiden blosslegt, die keinerlei papierene Füllsel aus Symbolen als Puffer nötig hat, dass ein Park für Menschen ein Ort zum Leben werden konnte, trotz der rigorosen Kontrolle von aussen — das bedeutete eine furchtbare Gefahr für die Proteste. Sooft die Menge, wenn die Polizei uns drohte, skandierte: «So sieht Demokratie aus», erschauerte ich angesichts der Deutlichkeit, mit der diese Worte unsere Schwäche heraus­posaunten. Kaum jemand möchte sehen, wie Demokratie aussieht, es sei denn, sie kommt als polierter Abguss strahlender Symbole daher. «Die Demokratie», wie die Bürgerschaft genannt zu werden pflegte, allzu genau zu betrachten, wird es vielen Menschen leichter machen, ihr Verschwinden zu wünschen.

Die Demokratie trägt keine neuen Kleider. Ihre Güte und ihr Anstand sind Dinge, die sich zwischen Individuen abspielen. Von hoch oben, von den Fenstern der Vorstands­etagen aus, sind sie nicht zu erkennen. Dort oben, in klimatisierten Räumen, kann man nicht riechen, dass die Demokratie sauber ist, süss; und so nennt man sie stinkend, schmutzig und ungewaschen. Die von ihr entfremdete, von ihr abgeschnittene Bürgerschaft begegnet der Demokratie mit Ekel. Auch können Teile der Demokratie arm sein, schwach; das zu sehen ist für viele schwer erträglich, besonders für diejenigen, die der Mitte oder der Armut am nächsten stehen. Es erinnert uns daran, was wir sind und wohin wir abstürzen können. Und so konnte die Polizei nach acht Wochen, ohne grossen Widerstand aus anderen Teilen der Stadt, ihre Scheinwerfer hochziehen, die Presse aussperren oder festnehmen und auf die Demokratie einschlagen: die Demokratie vertreiben und verdrängen, sie festnehmen, weil sie in die Fäuste der Polizei lief — alles im Namen der «öffentlichen Gesundheit», denn darauf liefen die Anordnungen des Bürgermeisters hinaus. Müllmänner warfen die 5000 Bücher der Besetzungsbibliothek in den Müll, um sie «sicherzustellen». Diese Bücher waren ruiniert, so sicher wie wenn sie verbrannt worden wären. Während Amerikas Kinder verletzt und blutend in Gefängniswagen oder am Strassenrand lagen, hielten die Hochdruckreiniger im Auftrag der Stadt New York auf dem leeren Platz Einzug, um einen Park, in den kein Mensch mehr durfte, glänzen zu lassen. Sie beendeten die Proteste im Namen der Sauberkeit.

Und ich, der kleine Bürgerliche, von der Polizei herumgestossen, beleidigt, verspottet, war also doch in einer Wohnwagensiedlung gelandet. Oder, der Gedanke reifte allmählich in mir heran, an einem Ort, den niemand dort bei den Demonstranten vermutet hätte: in einem Gefängnis. Die Freiheit des Platzes der Freiheit hatte in diesen zwei Monaten in Wirklichkeit ein Gefängnis hervorgebracht. An allen Seiten nahm die Polizei Aufstellung, den Blick auf uns gerichtet — Tag für Tag; und ich hatte sie für harmlos gehalten. Ich hielt ihre Präsenz für extrem aufwendig und für eine Verschwendung meiner Steuergelder, gewiss; ein Angstauslöser, zweifellos; eine Art Werbegeschenk von der Stadt an die Banken, unfair, als seien die Versammlungsfreiheit, oder vielmehr diese Meinungen, gefährlich. Ich sah, wie sich unsere Polizei vor der Bank of America aufstellte wie Angestellte, Zaunpfosten, Bedienstete der Bank; aber natürlich sind wir es, die sie bezahlen. Die blau uniformierten Wächter standen entlang des Broadways, uns gegenüber. Sie säumten die Liberty Street, sperrten sie mit Polizeiwagen ab, mit Ausrüstung und Mannschaften. Hatten diese stummen Barrieren also letztlich ein Gefängnis erzeugt, mit uns mittendrin? Oder hatte die Existenz dieses winzigen, erbärmlichen Fleckens, des in dieser Stadt einzigen Ortes für die sogenannten amerikanischen Tugenden, die verfassungsgarantierte Versammlungs- und Redefreiheit, für den Wettstreit der Meinungen im Sinne der Gründerväter, das Gefängnis aus der Stadt ringsum hervorgebracht? Jedes Bankgebäude war ein Gitterstab unserer Zelle oder ein Steinquader der Mauer. Jetzt richtete sich der scheussliche «Freedom Tower» von alleine auf, um den Blick auf den freien Himmel zu versperren.

Das Gefängnis ist, neben Hütte und See, der andere bemerkenswerte Ort, mit dem Thoreau, der amerikanische Philosoph, in Verbindung gebracht wird. Seine Heimatstadt Concord verbrachte ihn einmal dorthin, als er sich weigerte, seine Kopfsteuerschuld zu begleichen, da er den Vereinigten Staaten — die die Sklaverei aufrechterhielten, die jeden, der einen entflohenen Sklaven nicht zu seinem Besitzer zurückschickte, einsperrten, die mit ihrer Armee in Mexiko einmarschiert waren, um ihre Nachbarn wegen territorialer Interessen zu terrorisieren und zu ermorden — seine Unterstützung versagen wollte. Thoreau weigerte sich, seine Nachbarn in Concord aus der Verpflichtung zu entlassen, sich zu rechtfertigen: Warum sie zahlten, warum sie (sogar dem Steuereintreiber!) gehorchten, warum sie Ungerechtigkeit akzeptierten und nur davon redeten, dass etwas falsch sei, während sie doch gemeinsam handeln könnten.

«Unter einer Regierung, die irgend­jemanden unrechtmässig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen rechtschaffenen Menschen. Der rechte Platz, der einzige, den Massachusetts seinen freieren und weniger kleinmütigen Geistern anzubieten hat, ist eben das Gefängnis, wo sie von Staates wegen ausgesetzt und ausgeschlossen werden, nachdem sie sich durch ihre Grundsätze schon selbst ausgeschlossen haben. […] Vielleicht glauben manche, dass sie dort ihren Einfluss verlieren, dass ihre Stimme das Ohr des Staates nicht mehr erreicht, sie glauben, dass ihre Gegnerschaft innerhalb dieser Mauern unwirksam wäre — aber sie wissen nicht, um wieviel die Wahrheit stärker ist als der Irrtum und wieviel überzeugender und wirkungsvoller sie die Ungerechtigkeit bekämpfen können, wenn sie sie nur ein bisschen an sich selbst erfahren haben. Lege in deine Stimme das ganze Gewicht, wirf nicht nur einen Papierzettel, sondern deinen ganzen Einfluss in die Waagschale.»10

Die Theorie hinter der Praxis der Besetzung, die Theorie hinter jedweder «Protestaktion», bei der man zum Ort der Ungerechtigkeit oder ihrer Ableitungen und Symbole geht und dort bleibt, bis man bemerkt wird und andere dazukommen — oder man zu Unrecht ins Gefängnis geschafft wird —, ist zum Teil ein Erbe des Exzentrikers vom Waldensee: Thoreau. Andere Reformer erreichten mehr mit tatkräftiger Aktion. Aber Thoreau vermittelte mit Worten, die ihren Weg zu Gandhi in Indien und Martin Luther King in Alabama fanden, eine klare Haltung zu dem gewaltlosen Widerstand. Während Regierungen durch Wahlen bestätigt werden können, kann die Pervertierung einer Regierung nicht durch Wahlen korrigiert werden — noch braucht sie es. Wenn eure Regierung die Gerechtigkeit opfert, müssen die vielen Männer und Frauen, alle, die ein Gewissen haben, dorthin gehen, wo sich die Regierung mit der Ungerechtigkeit verbündet hat, und diese Stellen verstopfen, mit ihrem ganzen Ich, ihrem Körper und ihrer Seele: um eine Entscheidung zu erzwingen. Werden eure Landsleute — Staatsdiener eingeschlossen — nicht allmählich ihre Unterstützung für das Fehlverhalten versagen? Auch hier gilt, wie bei so vielen der Walden-Edikte: Nur indem die Menschen provoziert, in ihrer Ruhe und Bequemlichkeit gestört werden, kann ihr Bewusstsein wachgerüttelt werden — dafür, dass sie die Wahl haben.

«Diese Regierung aber, die nichts weiter als die Form ist, welche das Volk zur Ausführung seines Willens gewählt hat, kann leicht missbraucht und verdorben werden, bevor das Volk Einfluss darauf nehmen kann. […] Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt. Vor der Wahl, ob er alle anständigen Menschen im Gefängnis halten oder Krieg und Sklaverei aufgeben soll, wird der Staat mit seiner Antwort nicht zögern. […] Wenn nun aber — wie es geschehen ist — der Steuereinnehmer oder irgendein anderer Beamter mich fragt: ‹Was soll ich aber jetzt tun?›, so ist meine Antwort: ‹Wenn du wirklich etwas tun willst, dann lege dein Amt nieder.› Wenn einmal der Untertan den Gehorsam verweigert und der Beamte sein Amt niedergelegt hat, dann hat die Revolution ihr Ziel erreicht.»11

Vor einigen Monaten besuchte ich das Justizgebäude, um die Verhandlungen der letzten Verteidiger zu verfolgen, die festgenommen worden waren, als die Polizei kam und den Zuccotti-Park räumte. Sie hatten sich aneinandergeklammert in die kleine Küche gesetzt, in der die Community täglich kostenlose Mahlzeiten für Hunderte zube­reitet hatte. Verhaftet und angeklagt im ­November, wurde ihnen endlich ein Termin versprochen, um in der Öffentlichkeit des Gerichts ihre Sache zu vertreten: im Juni. Doch der Staatsanwalt erklärte sich, vor Gericht, für unvorbereitet; und ohne ein Wort der Beschuldigten verschob der Richter die Verhandlungen sehr gerne auf den Herbst. Ein Jahr nach der 2011 erfolgten Zwangsräumung des Zuccotti-Parks lässt sich noch immer nicht erfahren, ob die Festnahmen legal waren oder verfassungswidrig, noch immer gibt es — im Rahmen des staatlichen Systems — keine Beweisführung gegen den ungerechten Staat.

Was aber meine bürgerlichen Gefühle schockierte, hatte mit den jungen Männern und Frauen zu tun, die da das Gerichtsgebäude für ihre Verhandlung betraten. Ich war verblüfft, dass sie nicht einem Gerichtstermin entsprechend angezogen waren. Sie trugen keine angemessenen Kleider, weder Anzüge noch Krawatten. Aber um zu gewinnen, überlegte ich, muss man sich so verhalten, dass es Leute wie diese Anwälte und Richter akzeptieren können. Und mit diesem Gedanken hatte ich Thoreaus Weg natürlich verlassen. Vom Leben zurück zum Usus der Toten im Geist und in der Seele. Ein junger Mann, höchstens 21, trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: «ICH SCHWEIGE — NICHT». Eine weibliche Angeklagte mit Brille, eine Doktorandin, hatte sich hinten an ihre Jeansjacke ein handbeschriftetes Stück Stoff geheftet, womit sie sich für die Kampagne gegen die Studentenverschuldung einsetzte. Gedankenlos dachte ich: Für einen Richter wird das kaum nach Reue aussehen. Und schon war ich wieder beschämt. Die Stimme, die in mir sprach, hatte etwas vom Geschrei des Falschen. Das war das gehetzte Stampfen von Füssen in schmutzigen Furchen, blank­gewetzt im Trott der Jahrzehnte des Gehorsams, nicht die leichten Schritte des Daimonion auf einem Weg, der einzig der meine war. Ich musste akzeptieren, dass diese Männer und Frauen sich vor dem Gesetz nicht ändern würden. Ihrem Wesen nach waren sie Protestler, selbst hier. Mit ihrem ganzen Sein verweigerten sie sich der ungerechten Ordnung.

«Hütet euch vor jedem Unternehmen, das neue Kleider erfordert und nicht einen neuen Menschen», geht Thoreaus beliebtes Zitat weiter: «Wenn es keinen neuen Menschen gibt, wie können ihm dann neue Kleider passen?»12 Die Stunde der Philosophie ist immer jetzt und jeden Tag, denn manche von uns brauchen ein ganzes Leben dafür; vielleicht sind gerade wir die Langsamsten, das zu begreifen.

1     Henry David Thoreau, Walden. Ein Leben mit der Natur, dt. von Erika Ziha, überarb. von Sophie Zeitz, München, 1999, S. 49.
2     Ebd., S. 37.
3     Ebd., S. 40.
4     Ebd., S. 39.
5     Ebd., S. 35.
6     Ebd., S. 51 f.
7     Ebd., S. 45.
8     Ebd., S. 348.
9     Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, dt. von Walter E. Richartz, Zürich 2004, S. 27.
10     Ebd., S. 38 f.
11     Ebd., S. 10, 39 f.
12     Walden, S. 29.