Der parteilose Politiker und Wissenschaftler Riccardo Rossi aus Brindisi plädiert für einen konsequenten Ausstieg aus den fossilen Energien. Im Interview skizziert er die Voraussetzungen, die es dafür braucht. Für den europaweit einzigen Wirtschaftsstandort mit 30 000 Arbeitslosen gibt es keinen anderen Weg.
von René Worni, freier Journalist (das Gespräch fand am 20. Mai 2012 in Brinsisi statt).
Riccardo Rossi, Du bist vor 15 Tagen zusammen mit weiteren Exponenten einer neuen und umweltbewussten Politik als Gemeinderat ins Stadtparlament gewählt worden. Was bedeutet das für Brindisi und die Region?
Wir haben mit einem Schlag sechs Prozent der Sitze im Parlament erreicht. Die Stimmberechtigten haben damit für eine Bewegung gestimmt, die nicht aus Politikern besteht und die von der Basis aus eine Veränderung will. Ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung dieser Stadt ist also bereit, ein Umdenken in der Wirtschaft und in der Energie mitzutragen.
Wer seid Ihr?
Wir sind Vertreter verschiedener ausschliesslich lokaler Gruppierungen, die sich bereits seit mehreren Jahren hier in Brindisi für Umweltanliegen, Gesundheit und neue Formen wirtschaftlicher Entwicklung engagieren. Das sind zum Beispiel «No al Carbone», «Movimento Salute Pubblica», «Rinascità Civiltà Brindisina» und weitere.
Ricardo Rossi ist Wissenschaftler und Forscher im Bereich Nanotechnologie mit Schwerpunkt Energie und Umwelt an der ENEA (Italienische Nationalbehörde für neue Technologien, Energie und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung).
Was sind die wichtigsten Ziele?
Wir müssen sofort mit dem Schadstoffausstoss der Kohlekraftwerke aufhören. Und dann müssen wir die Politiker damit konfrontieren, auch die Gaskraftwerke zugunsten erneuerbarer Energiequellen runterzufahren. Denn auch sie haben ohne Zweifel einen negativen Ausstoss.
Strom aus Gas anstatt erneuerbare Energien? In Italien bauen Schweizer Energiekonzerne seit Jahren Gaskombikraftwerke. Doch was tun die Konzerne dort genau? Soll dieser «dreckige» Strom (Gaskombis sind CO2-Schleudern) den Atomausstieg in der Schweiz überbrücken helfen? Auf den Spuren der Pläne der Energiekonzerne reiste Greenpeace im Mai nach Süditalien und stiess dabei auf zwielichtige Geschäftemacher, denen Profit wichtiger ist als Umweltschutz. Wir trafen aber auch visionäre Umweltaktivisten, die sich diesen Plänen entgegenstellen. Daraus entstand die Süditalien-Reportage, welche wir in fünf Teilen während der Sommerpause jeweils donnerstags (Start am 19. Juli) auf www.geenpeace.ch publizieren. Sie erscheint ausserdem leicht gekürzt am 21. August in unserem Magazin. Wir wünschen Euch gute Sommerlektüre!
Sind die erneuerbaren Energien bereits soweit nutzbar, dass man allein auf sie setzen kann?
Die Technologien haben sich in den vergangenen 10, 15 Jahren drastisch verändert und entwickelt. Noch vor 20 Jahren schien es utopisch zu behaupten, man könne alles mit erneuerbaren Energien bewältigen. Doch heute produzieren wir in Italien bereits 12 Gigawatt Strom allein aus Solarzellen. Die Effizient der Technologie steigt laufend an, und gleichzeitig sinken die Preise dafür. Wenn wir die Energiegewinnung also richtig planen wollen, sollten wir nicht bloss den aktuellen Stand der Technologie berücksichtigen, sondern auch ihre Aussichten für die nächsten 10 bis 20 Jahre.
Mir erscheint Italien wie ein grosses Eldorado, eine Art planloser Wildwest für Investoren, die in Energie machen. Praktisch jeder kann hier geschäften. Wohin führt dieses Chaos?
Diese ganze Sache hat mit der Liberalisierung des Stommarktes Ende der 90er-Jahre begonnen. Seither ist die Stromproduktion denselben Marktvoraussetzungen unterworfen wie zum Beispiel die Produktion von Babywindeln. Wer will, der kann. Doch die Energieproduktion ist stark an eine Region, an den Ort gebunden und hat dort einschneidende Auswirkungen. Das erklärt auch die relativ hohe Präsenz staatlicher Organe. Ich finde aber, die Energieproduktion sollte eine vollkommen öffentliche Sache sein. Sie darf nicht privaten Konzernen übertragen werden, die allein den Profit zum Ziel haben.
Einige der grössten Konzerne aber sind staatlich beziehungsweise halbstaatlich, so auch die Schweizer Energiekonzerne, die in Italien präsent sind. Sie benehmen sich ebenso rücksichtslos wie private Unternehmer.
Es gibt diesen Kapitalismus des Staates, der nichts anderes ist als ein Kapitalismus des freien Marktes. Denn am Ende ist die Logik dieselbe. Aus unserer Sicht heisst öffentlich, dass ein Unternehmen nicht ohne Abstimmung auf einen nationalen Energieplan Energie produzieren kann, den der Staat beziehungsweise die Regierung zusammen mit allen Beteiligten erstellt hat. Auf diese Weise ist es nicht mehr Sache des Marktes, die Bedingungen für die Produktion zu diktieren.
Und damit kommt man weg von der zentralistischen Grossproduktion?
In Italien hat sich die Energieproduktion in bestimmten Regionen konzentriert. Diese Orte sind heute praktisch dazu verdammt. Die Städte Brindisi und Taranto zum Beispiel haben eine zerstörerische industrielle Energieproduktion ohnegleichen aufgebaut. Aus unserer Sicht muss die Öffentlichkeit deshalb am Prozess beteiligt werden, weil sie nicht kapitalistisch denkt wie ein privater Produzent, der allein entscheidet, wo er investieren will. Würde ein solcher nationaler Energieplan eingeführt, der mit den Gemeinden und mit den Produzenten gemeinsam ausgehandelt worden wäre, dann führte das zu einem neuen Umgang mit der Energieproduktion und allen nötigen Beschränkungen, die es zum Schutz der Umwelt braucht. Die Debatte um den Profit würde überflüssig, es gäbe keine Diskussionen mehr darüber, ob man sich für die Kohle entscheiden soll, bloss weil sie im Vergleich zum Gas das Doppelte einbringt.
Genauso sieht aber die Realität in Italien derzeit aus. Man will wieder zurück zur Kohle, weil die anderen Ressourcen zu teuer sind.
Wir produzieren 15 Prozent unserer elektrischen Energie in Italien mit Kohle, den Rest mit Gas und mit erneuerbaren Energien wie Wasser, Fotovoltaik und Wind. Doch die ENEL, Italiens Energieriese, macht Druck. Und die Kohle-Lobby Assocarbone will die Stromproduktion aus Kohle in Italien sogar auf 30 Prozent verdoppeln.
An einem solchen Projekt in Saline Joniche im Süden Kalabriens ist die RePower aus dem Kanton Graubünden federführend.
Genau. Es gab ja auch entsprechende Proteste in der Schweiz gegen das Projekt. Aber es gibt noch einige weitere Firmen mit Kohlekraftwerk-Projekten. Der Plan der Kohlelobby entbehrt aber jeglicher technologischen Innovation. Denen geht es alleine um den Profit. Würde die Öffentlichkeit im Rahmen eines nationalen Energieplanes am Prozess beteiligt, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich für die Kohle entscheiden würde, weil die Produzenten auf diese Weise am meisten verdienen würden.
Wie steht es denn mit der Rentabilität des Gases?
Zunächst: Ein Kohlekraftwerk wie zum Beispiel «Federico II» in Brindisi hat etwa einen Wirkungsgrad von 36 bis 37 Prozent. Die Abwärme lässt sich für weiteres wie Heizung und Warmwasser nutzen. Ein Gaskraftwerk heute erreicht dagegen 55 bis 56 Prozent Wirkungsgrad. Man muss also weniger Wärme verschwenden, die Rentabilität ist also besser.
Warum ist Strom aus Gas kein Geschäft derzeit?
Tatsächlich ist die Stromproduktion aus Gas heute teurer als aus Kohle, obwohl der CO2-Ausstoss einer Gasanlage etwa die Hälfte eines Kohlekraftwerks beträgt. Die Vorteile des Gases sind also offensichtlich. Gäbe es eine echte Steuer für Kohle, wäre diese wesentlich teurer als Gas. Der ökonomische Vorteil der Kohle gegenüber Gas besteht also bloss darin, dass niemand die verursachten Umwelteffekte durch Gewinnung, Transport und Verbrennung berücksichtigt.
Jedes CO2-ausstossende Kraftwerk muss aber doch CO2-Zertifikate lösen, um die Umweltbelastung auszugleichen?
Diese Zertifikate haben aber eine völlig untergeordnete Bedeutung. Sie tauchen in den Bilanzen der Konzerne praktisch nicht auf.
Wie realistisch ist diese Wirkung eines nationalen Energieplans? Ist das nicht purer Zweckoptimismus?
Nun, ich wäre durchaus optimistisch, wenn es in der Regierung Leute gäbe, die rationaler und demokratischer im Sinne der lokalen Ressourcen der Gemeinden handeln würden.
Was genau ist unter diesen lokalen Ressourcen zu verstehen?
Dazu zählen Grund und Boden, die Luft, das Wasser aber auch die elektrische Energie. Diese muss man heute so betrachten wie Luft und Wasser, auch sie sollte allen gehören. Denn heute ist das Leben in der industrialisierten Welt ohne diese Energie nicht mehr vorstellbar und möglich. Da sie für alle produziert wird, sollen auch alle sagen können, unter welchen Bedingungen das zu geschehen hat. Wenn wir heute also eine Regierung haben, die an den Markt glaubt, der praktisch ein metaphysisches Gesetz ist, das den Fluss von Angebot und Nachfrage regelt und entscheidet, wie wir zu leben haben, dann müsste so eine von uns gewählte Regierung doch auch sagen können, ob wir das auf diese Weise geregelte Leben wollen oder nicht. Man muss die grossen Konzerne mit dieser Frage konfrontieren und zwar auf europäischer Ebene und gestützt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung. Das heisst, man muss die Demokratie von der Basis her neu überdenken. Ich spreche von einem Paradigmenwechsel.
In Italien kosten Projekte der öffentlichen Hand um bis zu 40 Prozent mehr als in anderen Ländern Europas. Wie soll man diesem Sumpf der Korruption entkommen?
Nun, wenn die Politik kraft ihrer Beziehungen zu den grossen Potentaten und den Wirtschaftsgruppen all diese zerstörerischen Projekte stützt, dann ist offensichtlich, dass dadurch ein perverses System entsteht, in dem alle Beteiligten gewinnen müssen. Die Politik hat unzählige Möglichkeiten, die Geschäfte zu steuern, was zu einem grossen Mangel an Transparenz führt. Es braucht also eine Regierung, die sehr demokratisch ist und die Basis partizipieren lässt.
Die Katastrophe von Fukushima hat alles verändert. Wie hast du das in Italien erlebt?
Fukushima war ein spezieller Moment für Italien. Kurz vorher wollte die Regierung Berlusconi in Italien das Zeitalter der Atomkraft einläuten und dafür 30 bis 40 Milliarden Euro für neue Kernkraftwerke investieren – notabene im Moment einer grossen Wirtschaftskrise. Als Fukushima kam stand das Referendum bereits, um die Rückkehr zur Nukleartechnologie zu verhindern. Es war wie eine Fügung und hat einen enormen Effekt des Nachdenkens in Italien bewirkt. Die Szenen in Japan haben uns klargemacht, dass die Atomkraft das Risiko der absoluten Zerstörung birgt.
Ist die Atomkraft in Italien damit endgültig vom Tisch?
Nicht ganz, denn es gibt immer noch Leute von Energiekonzernen die sagen, die Atomkraft sei eine verpasste Chance. Wir haben in Italien einen Nachfragepeak an Energie von etwa 55 000 Megawatt und wir haben Kraftwerke installiert, die 90 000 Megawatt leisten können. Wir brauchen also keine zusätzlichen Kraftwerke, zumal der Energieverbrauch in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise sinkt. Aber es herrscht eine grosse Nervosität in der Industrie, begleitet von einer starken Lobby der Unternehmer. Viele wollen weitere Kraftwerke bauen, weil sie zum Beispiel die Zementproduktion und weitere Industriezweige wieder ankurbeln wollen. Grossprojekte setzten einen wirtschaftlichen Kreislauf mit enormen finanziellen Interessen dahinter in Gang. Oft sind solche Vorhaben mit üblen Machenschaften des organisierten Verbrechens verknüpft.
Wie sieht der Paradigmenwechsel aus, den Du erwähnt hast?
Es geht um die weitere wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der Energieproduktion. Wir haben erkannt, dass wir nicht unendlich weiter wachsen können weil die Realität zeigt, dass sich Konsum und Nachfrage stabilisiert haben. Die ökonomischen Ressourcen sollten wir also für eine andere Art von Entwicklung nutzen, in welcher der Einzelne, die Umwelt und eine diversifizierte Wirtschaft im Mittelpunkt stehen. Diese delegiert ihre Ressourcen nicht mehr an grosse Unternehmen, denn diese konzentrieren immer.
Einfach gesagt: Man produziert Energie nur dort, wo sie gebraucht wird.
Genau. Wir sprechen dabei von der dritten Industrierevolution. Danach kann jedes Gebäude autonom Energie produzieren und ist über ein intelligentes Netz vergleichbar dem Internet mit den anderen Gebäuden verbunden. Dieses Netz regelt automatisch den Fluss der Energie. Diese Art der Energiegewinnung steht im absoluten Gegensatz zum Konzept des 19. Jahrhunderts, wobei im Zentrum das 2000 Megawatt starke Kraftwerk steht, wo sich Arbeit und Kapital konzentrieren und natürlich auch die Gewinne. Das neue Modell ist dezentral organisiert und demokratisch. Das bringt nicht nur die erwähnten technischen und ökonomischen Vorteile, sondern schafft auch neue soziale Beziehungen und Strukturen. Die ENEL hat dieser Idee den unbedingten Kampf angesagt. Sie will dieses Modell stoppen, welches das pure Gegenteil ihres Konzeptes vertritt. Denn sie handelt nach der Maxime: Ich kontrolliere die Energieproduktion, ich verkauf dir Energie zum von mir bestimmten Preis und du verbrennst das, was ich dir liefere.
Was bedeutet das konkret für den Standort Brindisi?
Wir haben die grossen Chemie- und Energie-Unternehmen und die wirtschaftliche Entwicklung hier in Brindisi analysiert. Die Betriebe schaffen heute keine Arbeitsplätze mehr. Brindisi ist das erste existierende Wirtschaftszentrum Europas mit 30 000 Arbeitslosen. Ausserdem ist ein Anstieg von gesundheitlichen Notfällen zu beklagen. Beides gehört zusammen. Denn das Industriegelände ist grösser als die Stadt selber. Wir haben hier eine Wirtschaft kreiert, die allein den grossen Konzernen dient, die das Territorium verarmt und verwüstet haben. Diese Politik, die vor 50 Jahren begonnen hat, hat der zuvor überaus armen Region ermöglicht, sich zu entwickeln und hat Brindisi letztlich zu einer Stadt gemacht. Aber in den vergangenen 20 Jahren hat sich das Blatt vollkommen gewendet.
Was muss konkret geschehen?
Wir wollen uns von der Kohle verabschieden. Wir verhandeln mit den Energiekonzernen. Wenn du 50 Millionen Euro im Jahr Gewinn machst, dann gib uns 20 Millionen, damit wir Universitäten bauen, die Küste sanieren und in sanfte Energie oder in den Tourismus investieren können. So schaffen wir wieder neue Arbeitsplätze und können in den kommenden 15 Jahren aus der fossilen Energie aussteigen. Denn wenn wir bis dahin so weitermachen wie bisher, dann werden wir nicht 30 000, sondern 40 000 Arbeitslose haben. Wir haben gar keine andere Wahl. Es gibt sonst keine Möglichkeiten, uns zu entwickeln und Arbeitsplätze zu schaffen, wenn wir die Wirtschaft nicht umbauen und dezentralisieren.
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Der fünfte und letzte Teil der Italien-Reportage führt noch weiter in den Süden, in den Salento. Im preisgekrönten Badeörtchen San Foca nahe der Stadt Lecce soll eine Gaspipeline den idyllischen Küstenstreifen durchbohren und Italien und dem übrigen Europa Gas aus Aserbaidschan anliefern. Die Schweizer Axpo ist ganz vorne mit dabei. Auch hier wehren sich die Bevölkerung und die Politiker der betroffenen Gemeinden mit Händen und Füssen gegen die bevorstehenden Eingriffe in ihren Lebensraum.