«Es wurden keine Grenzwerte überschritten.» So steht es in praktisch jeder Untersuchung zu Pestiziden in Lebensmitteln. Alles also kein Problem? Im Gegenteil, wie Greenpeace Schweiz mit einer Studie jetzt zeigt: Grenzwerte werden auf Wunsch der Industrie so festgelegt, dass diese kaum überschritten werden können. Die Gesamtbelastung durch Giftstoffe, denen jeder Mensch täglich ausgesetzt ist, wird dabei auf mehreren Ebenen völlig ausgeblendet. Greenpeace fordert einen Paradigmenwechsel mit einem Summengrenzwert für alle Pestizide.
Parkinson, Autoimmunerkrankungen, Lymphdrüsenkrebs, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) sind Beispiele von Krankheiten, die unter anderem mit Pestiziden in Verbindung gebracht werden[1]. Grenzwerte für Pestizide in Lebensmitteln sollten so gesetzt werden, dass die KonsumentInnen vor gesundheitlichen Schäden geschützt werden. In der Praxis sieht es anders aus: In der Studie «Gesetzliche Grenzwerte für Pestizide im Essen. Alles sicher?» (bit.ly/2g9YWdF) zeigt Greenpeace Schweiz jetzt auf, dass die Grenzwert-Festlegung die Interessen der Agrochemie stärker schützt als die Gesundheit der KonsumentInnen. Viel Unwissen beim Festlegen der duldbaren Aufnahmemenge Bereits die Ermittlung der duldbaren täglichen Aufnahmemenge (Acceptable Daily Intake, ADI) ist ein Ratespiel: Dieser wird in der Regel über Tierversuche mit Mäusen und/oder Ratten ermittelt. Zur Ermittlung des Schwellenwertes, ab welcher keine negativen Auswirkungen eines Wirkstoffes mehr gemessen wird, werden die Entwicklungsneurotoxizität und Entwicklungsimmuntoxizität zum Beispiel nicht standardmässig gemessen. Um die unterschiedlichen Empfindlichkeiten zwischen Tier und Mensch sowie innerhalb der Menschen abzubilden, wird der Wert in der Regel einfach durch 100 dividiert, um den ADI für den Menschen zu erhalten. Dabei wurden bereits zwischen verschiedenen Rattentypen Unterschiede in der Empfindlichkeit von über Faktor 800 gemessen. Auch Menschen können sehr unterschiedlich reagieren und gerade empfindliche Bevölkerungsgruppen wie Kleinkinder werden deshalb nicht ausreichend geschützt. Dass Stoffe, die auf dasselbe Organsystem wirken, sich additiv oder gar potenzierend auswirken können, wird überhaupt nicht berücksichtigt. Auch die Wirkung von Zusatzstoffen ist nicht Gegenstand der Prüfung. «Worst practice» als Massstab Noch fragwürdiger ist der Prozess zur Festlegung eines Pestizid-Grenzwertes in einem Lebensmittel. Hierzu führt der Antragsteller (meist der Hersteller eines Pestizids) acht bis zwölf Feldtests in verschiedenen Anbauregionen mit dem jeweiligen Pestizid in einer bestimmten Kultur durch. Der höchste gemessene Rückstand wird danach als Basis für die Festlegung des Grenzwertes genommen. Die Prüfung, ob dadurch möglicherweise der ADI überschritten werden kann, erfolgt aber nicht mit dem Grenzwert, sondern mit dem Median der gemessenen Rückstände aus den Feldversuchen. Dieser blendet die Hälfte der Messwerte aus und ist im Mittel sieben mal tiefer als der Grenzwert. Dies kann dazu führen, dass die duldbare Aufnahmemenge für gewisse Bevölkerungsgruppen deutlich überschritten wird. Anpassungen nach Wunsch der Industrie Erstaunlich ist auch, wie oft Grenzwerte angepasst werden. Seit dem Juni 2014 hat die EU 42 mal Änderungen an Grenzwerten vorgenommen. Teilweise wurden Werte nach unten angepasst, weil die tägliche Aufnahmemenge überschritten wurde – wie beispielsweise kürzlich bei Chlorpyrifos. In den meisten Fällen werden Grenzwerte jedoch auf Antrag der Hersteller nach oben angepasst, u.a. weil geltende Werte wegen schlechter landwirtschaftlicher Praxis zu oft überschritten wurden. Dies zeigt, dass nicht die Gesundheit der Bevölkerung im Mittelpunkt steht, sondern die Wünsche der Industrie und der Landwirtschaft. Greenpeace-Agrarexperte Philippe Schenkel sagt dazu: «Bei der Risikobewertung sowie der Festlegung von Grenzwerten wird die Hintergrundbelastung der Bevölkerung ausser Acht gelassen. Dabei ist diese neben Pestiziden einer Vielzahl weiterer Chemikalien ausgesetzt, die auf die gleichen Organe wirken können.» So nimmt beispielsweise der grösste Teil der Bevölkerung bereits mehr neurotoxisch wirkendes Blei auf als empfohlen. Die Risikobewertung geht aber davon aus, dass es neben der zu bewertenden Substanz keine weiteren Belastungen gibt. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig: An erster Stelle muss die Reduktion der Gesamtbelastung stehen. Generell muss sich die Landwirtschaftspolitik an der besten Praxis orientieren und nicht an den Schadstoffmengen, die eine Mehrzahl der Produzenten erreichen kann beziehungsweise will. Für Pestizide sollte ein Summengrenzwert von 0.01mg/kg eingeführt werden, da es durchaus möglich ist, Lebensmittel ohne Pestizidrückstände zu produzieren. Weitere Informationen unter
Philippe Schenkel, Leiter Landwirtschaftskampagne Greenpeace Schweiz, [1] www.greenpeace.org/switzerland/de/Publikationen/Landwirtschaft/Pestizide-und-unsere-Gesundheit/ |