Ein Begriff greift in der Kampagnenarbeit um sich, die Theory of Change (ToC) – man braucht ihn nur zu googeln. Diese Theorie besagt, wie sich ein Campaigner den angestrebten Wandel aufgrund von Erfahrungen, Recherchen und Annahmen vor dem Start einer Kampagne oder eines grossen Kampagnenprojekts vorstellt. Das Feld wird also abgesteckt und die Ziele bestimmt. Auf dieser Grundlage wird eine Richtschnur zurecht gelegt, die zu einer Besserung einer als ungut empfundenen Situation führen soll: Die Strategie. Die Strategie ist ein Weg oder besser ein Rahmen und eine Richtung. Sie gibt eine erste Bewertung, bewusst oder unbewusst unterlegt von der eigenen Weltanschauung und den eigenen Emotionen.

Was neu tönt, ist eigentlich alt

Schon immer hat man Annahmen getroffen, um einen Weg zu entwickeln, auf dem man ein angestrebtes Ziel zu erreichen hofft. Auch im Alltag z.B. bei Zahnweh trägt man eine Theory of Change aus Erfahrung in sich wie man den Schmerz loswird: Nämlich zum Zahnarzt zu gehen. Bevor man zur Umsetzung schreitet, führt man sich vielleicht die Behandlung kurz vor Augen und überlegt sich eine Antwort auf die geahnte Frage zum schmerzenden Backenzahn: «Ziehen oder Wurzelbehandlung?». Aber erst die Praxis zeigt, ob die Annahmen richtig waren. Sie könnte beispielsweise zeigen, dass es eine Zahnfleischentzündung war. Die Praxis des Wandels war Antibiotika und die Mahnung, Zahnseide disziplinierter anzuwenden. Das Ziel blieb das gleiche, der Weg war teilweise anders und wurde praxisnah angepasst. Darauf zu beharren, die Wurzel des Backenzahns sei zu behandeln, wäre wenig zielführend.

Natürlich ist eine gesellschaftliche Wurzelbehandlung ungemein komplexer. Bei ihr steht uns nicht eine Zahnärztin zur Seite, die die Praxis mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Gelingen bringt. Es ist eine schier unmögliche Kunst, die «richtigen» Annahmen zu treffen, die sich ändernde Praxis zu verstehen, Rückkoppelungseffekte zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Folglich ist es weniger entscheidend, von welcher Theorie man genau ausgeht, als dass man sie beim Umsetzen regelmässig überprüft, relevante Informationen bewertet, ein Gefühl für die Sache entwickelt und immer wieder den Weg anpasst. Dafür braucht es neben Technik, Psychologie und einem Team vor allem eine systemische Sicht und ein dialektisches Verständnis, um iterativ von einer Theory zu einer Practice of Change zu kommen – also Theorie und effektive Praxis kontinuierlich abzugleichen: Gewisse Teil-Theorien können sich als ungute Wegweiser erweisen; manchmal gilt es, vehementer in die Praxis einzugreifen.

Es geht also um die Wirkungsorientierung in einer Kampagne, die wie ein Fluss mäandern muss. D.h. manchmal gilt es auch, ein Ziel anzupassen, z.B. dann, wenn man einen realen Kompromiss als wertvoller einschätzt als ein theoretisches Recht zu haben – und das ist unser Perma-Dilemma.

Und ein Dilemma kann lähmen (z.B. dadurch, dass man sich an einem Ziel festbeisst und der Tunnelblick die Wahrnehmung trübt). Ergo braucht es einen Entscheid. Der ist in jedem Fall schwierig, sonst wär’s kein Dilemma. Um zu entscheiden, ob ein Kompromiss gut oder jedenfalls besser als die Aufrechterhaltung der „reinen Lehre“ ist, erachte ich das Beteiligungspotenzial als einen der wichtigsten Indikatoren: Inspiriert die Sache zum Mitmachen? Lädt sie auch Nichteingefleischte ein, sich zu beteiligen? Andrerseits kann ein fauler Kompromiss – so wie ein abgedroschenes Ziel – wegen dem Gähn-Effekt entinteressieren.

Nebenwirkungen

Erschwerend für den Entscheid kommt hinzu, dass eine Intervention in ein System, wie das eine Kampagne ist, nie nur eine Wirkung hat. Einige Nebenwirkungen oder gar paradoxe Effekte können vorhergesehen werden, andere treffen einen unvorbereitet. Darauf in geeigneter Weise reagieren zu können, bedarf eines offenen Blickes.

Gefragt ist deshalb eine wirkungs- und bedürfnisorientierte Kampagnenhaltung, sprich: Das Planbare planen, damit man umso flexibler sein kann, was aus der Praxis evolviert aufzunehmen. Und um Gelegenheiten nutzen oder auf Katastrophen reagieren zu können.

Für eine solche Haltung müssen in Umweltkreisen beliebte Slogans wie etwa «Es ist fünf vor Zwölf» oder «vom Wissen zum Handeln zu kommen» über Bord geworfen werden. Solche Motti sind quasi falsche «Theories of Change» und be- bzw. verhindern, andere Wege zu begehen, z.B. solche, die Zeit brauchen. Die drängende 5vor12-Metapher, übernommen vom kritisierten «Zeit ist Geld»-System, ist für nachhaltige Erfolge eher Gift denn Dünger (siehe Kolumne «Quick-Wins»). Ebenso wenn man meint, durch Appell und Information massenhaft individuelles Verhalten korrigieren zu können. Dieses Motto müsste wenn schon umgekehrt lauten: Durchs Handeln zum Wissen zu kommen bzw. zum Können: Nichts überzeugt mehr, dass es anders geht, als die andere Praxis erlebbar zu machen.

Es gilt deshalb umso mehr, für Kampagnen gleichgewichtet bottom-up-Ansätze in Betracht zu ziehen, also gelingende Praxis im Kampagnenumfeld zu suchen: Eine bewährte Taktik verbreiten, ist auch ein Weg. Die Praxis muss geändert werden, nicht die Theorie wiederholt. Dabei ist es schwierig auszuhalten, dass man auch mit durchdachten und flexiblen Kampagnen nicht einfach mächtig wird.

Fazit

Die systemische Campaignerin ist eine Dialektikerin, die mit Intuition Entwicklungen ahnen, Gelegenheiten beim Schopf packen, Nebeneffekte einschätzen sowie Zielpublika differenzieren kann. Keine Haudegin, die lauthals Symptome beklagt, eine Bodenlegerin und Ursachenbetrachterin, die Emergenzen erkennen sowie Ambivalenz, Emotionen und Komplexität aushalten kann und diese nicht vorschnell durch mechanische Interventionen reduziert. Das ist eine besondere Herausforderung, weil es dem entgegenläuft wie der Mensch im Alltag funktioniert, wo er lebensnotwendig Komplexität mittels seiner Gewohnheiten automatisch reduziert. „Aushalten-können“ bedeutet dabei nicht, ewig lange zu planen und das kleinste denkbare Nebeneffektli auch noch zu berücksichtigen. Es heisst, nicht möglichst schnell (und also eher mechanisch) zu reagieren oder repetitiv das zu tun, was in der Praxis offensichtlich scheitert. Stures Festhalten am Ziel, ist wie ein Angebot ohne Nachfrage.

Campaigning braucht zuweilen Zeit, auch wenn sich die Welt in rasender Geschwindigkeit ändert – es ist eh fünf-nach-zwölf, also kann man sich Zeit lassen. Sozusagen. Eine Kampagne ist wie eine Sprinterin: Wenn’s drauf ankommt, muss man mal unheimlich schnell sein können. Die Sprinterin kann das – aber nur, weil sie jahrelang trainiert hat, und jedes Rennen als Training sieht.

PS: Mehr zum Thema und möglichen Praxisansätzen von Solutions-Campaigning wird an der entsprechenden Tagung am 7. Juli in Zürich diskutiert.