Klimaschutz und Versorgungssicherheit in der Schweiz
Die parlamentarische Sitzung in diesem Herbst hat eine historische Dimension erreicht. Die Ziele, die sich die Parlamentarier:innen in Bezug auf die Energiewende und die Klimapolitik gesetzt haben, waren noch nie so ehrgeizig. Dennoch ist es schwierig, diese Errungenschaften zu feiern, da sie mit drastischen Einschnitten in der Umweltschutzgesetzgebung und einem von der Öllobby unterstützten Referendum einhergehen. Es gibt noch viele Kämpfe zu führen, damit die Schweiz ihre Klimaziele erfüllt. Doch wir bleiben konsequent dran, die Energiewende ohne eine verstärkte Gefährdung der Biodiversität zum Erfolg zu führen. Gerade deshalb wollen wir im Folgenden auf die letzten Monate zurückblicken, die von entscheidender Bedeutung waren:
Am 25. Januar 2022 veröffentlichte Greenpeace ein umfassendes Energieszenario für die Schweiz. Anhand eines Modells mit 15-Minuten genauer Simulierung von Angebot und Nachfrage zeigten die von uns mandatierten Expert:innen auf, wie Klimaschutz und Versorgungssicherheit in der Schweiz erreicht werden kann – ohne dabei die Biodiversität weiter zu gefährden. Das Fazit: Wir können (und müssen!) die Treibhausgasemissionen der Energieversorgung bis 2035 auf netto null absenken, um eine Begrenzung der Klimaerhitzung auf 1.5°C doch noch zu realisieren.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir diese Übung durchführen: Bereits 2013 veröffentlichte Greenpeace Schweiz ein Gesamtenergieszenario. Es ging also darum, unsere Analysen an die Veränderungen im Energiesektor, die neuen Erkenntnisse der Klimawissenschaft und die technologischen Entwicklungen der vergangenen neun Jahre anzupassen. Beide Szenarien haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sowohl im Jahr 2013 als auch im Jahr 2022 spielt die Solarenergie eine ausserordentlich wichtige Rolle für den Klimaschutz wie auch für die Versorgungssicherheit. Energiesparen, Energieeffizienz und der Ausbau der Solarenergie auf den bestehenden Infrastrukturen sind dabei zentrale Faktoren beim notwendigen Umbau hin zur Unabhängigkeit von fossilen Energien und Nuklearbrennstoffen. Auch Wind und Biomasse sowie die Solarthermie müssen verstärkt genutzt werden.
Wiederbelebung der Klimapolitik
Als wir unser Energieszenario im Januar dieses Jahres veröffentlichten, waren etwas mehr als sieben Monate vergangen, seit das CO2-Gesetz in der Volksabstimmung am 13. Juni 2021 gescheitert war. Am 18. Juni 2021 veröffentlichte der Bundesrat seine Botschaft zur Revision des Energiegesetzes und des Stromversorgungsgesetzes. Die beiden Gesetze werden im «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung aus erneuerbaren Energien» zusammengefasst und nun in der Herbstsession 2022 beraten. Der Bundesrat legte damals in seiner Botschaft das Ziel für den Ausbau der neuen erneuerbaren Energieerzeugung auf 17 TWh/Jahr bis 2035 fest. Auch die Gletscherinitiative – die von Greenpeace mit aufgebaut wurde – sorgt dafür, dass es beim Klimaschutz weitergeht.
Unser Energieszenario zeigte klar, dass die vom Bundesrat vorgesehenen Ziele viel zu niedrig sind. Damit können weder die Klimaschutzziele noch eine sichere und unabhängige Versorgung erreicht werden, darum forderten wir den Ständerat auf, die erneuerbaren Energien bis 2035 auf 38 TWh/Jahr zu erhöhen.
Weil die Solarenergie für die Erreichung des von uns geforderten Umbau des Energiesystems essentiell ist – bis 2035 sollten 30 TWh/a der geforderten 38 TWh/a von der Sonne stammen – starteten wir im Januar unsere Kampagne für den «Solar-Sprint». Die Petition mit diesen Forderungen, zählte bis zur Einreichung zum Beginn der Herbstsession 20’000 Unterschriften. Bei der Lancierung dieser Kampagne war uns klar, dass es ein harter Kampf werden würde. Im Schweizer Parlament war eine schnellere Energiewende mit forciertem Ausbau der Photovoltaik bisher nicht Mehrheitsfähig. Lieber wurde um die Nutzung der letzten noch intakten Wasserressourcen gestritten. Auch in der Öffentlichkeit begegnete uns Skepsis: Einige Journalisten, die über die Veröffentlichung unseres Energieszenarios berichten, fragen sich, ob unsere Forderungen realistisch seien.
Parallel dazu kam die Gletscherinitiative in die parlamentarische Phase: Sie sollte dafür sorgen, dass der komplette Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energien endlich in der Schweiz ankommt.
Öl und Gas: der Motor der russischen Aggression
Das Ereignis, das die Meinungen zugunsten der erneuerbaren Energien kippen wird, findet weniger als einen Monat nach dem Start unserer Kampagne statt. Am 24. Februar beginnt die von Wladimir Putin angeordnete Invasion der Ukraine. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten bricht ein Krieg auf europäischem Territorium aus. Den Ländern der Europäischen Union und der Schweiz wird schnell klar, dass dieser Krieg Konsequenzen für die Energieversorgung haben wird. Die Schweiz ist, wie die meisten ihrer Nachbarn, in Bezug auf ihre Energieversorgung von Russland abhängig: 47% des in die Schweiz importierten Gases stammt aus Russland und drei der vier in Betrieb befindlichen Schweizer Atomreaktoren werden noch mit russischem Uran betrieben. Das Geld, mit dem die Granaten bezahlt werden, die ukrainische Städte und Landstriche zerstören, stammt grösstenteils aus Russlands Öl- und Gasexporten.
Die Schweiz, die Russland für Energieimporte täglich mehrere Millionen zahlte, wurde plötzlich aufgerüttelt: Eine Politik, welche auf billige fossile Energieträger setzt, dadurch die bitter nötige ambitionierte Klimapolitik blockiert und einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien verhindert, scheint nun nicht mehr tragbar. Während der ersten Kriegsmonate und bis August explodierten die Gaspreise und liessen die europäische und die Schweizer Wirtschaft das Schlimmste befürchten. Für uns ist klar, dass der Ausbau der Solarenergie und die Beschleunigung der Energiewende nicht nur gut für das Klima sind, sondern auch unsere Abhängigkeit von fossilen Energieimporten überwinden und den Frieden fördern können. Daran erinnerten Greenpeace-Aktivist:innen im Juni die politischen Entscheidungsträger:innen mit einem riesigen Sonnenbild und der Friedenstaube auf dem Bundesplatz in Bern.
Da auch die Solarenergie Schäden verursacht, zeigen wir in einem detaillierten Themenschwerpunkt auf, warum sie dennoch die bessere Lösung ist und was wir tun sollten, um die Schäden zu verringern. Auch diese Informationen schicken wir an den Ständerat.
Atomkraft wird das Klima nicht retten
Eine weitere Krise verstärkt die Sorgen um das Schweizer Energiesystem: In Frankreich bricht die Produktion zusammen – Anfang September dieses Jahres waren 32 der 56 in Betrieb befindlichen französischen Atomreaktoren abgeschaltet. Während einige Reaktoren für lange geplante Wartungsarbeiten abgeschaltet wurden, werden andere nach der Entdeckung von Korrosionsproblemen an den Kühlsystemen heruntergefahren. Auch der enorme Hitzesommer mit überhitzten und teilweise völlig ausgetrockneten Flüssen macht den Atomkraftwerken mit Wasserkühlung zu schaffen.
Von einem Tag auf den anderen explodieren die Strompreise sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bevölkerung. Die Schweiz, die in den Wintermonaten auf Stromimporte angewiesen ist, bereitet sich auf eine mögliche Strommangellage vor. Trotz des desolaten Leistungsausweises der Atomenergie forderte Mitte Juni eine von SVP-Ständerat Hansjörg Knecht eingereichte Motion, das Verbot des Baus neuer Atomreaktoren rückgängig zu machen. Sie wird von der kleinen Kammer abgelehnt. Angesichts der falschen Hoffnungen und Versprechungen, die immer wieder von der Atomlobby verbreitet werden, veröffentlichen wir auch einen Schwerpunkt zum Thema Atomenergie, in dem wir aufzeigen, dass diese nichts zur Lösung der Probleme beitragen kann.
Gemeinsame Position für Klima- und Biodiversitätsschutz
Ende Juni veröffentlichen die Organisationen der Umweltallianz – Greenpeace Schweiz, WWF Schweiz, Pro Natura und der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) mit den befreundeten Organisationen Birdlife Schweiz und der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) ein gemeinsames Energieszenario für die Schweiz. Dieses baut auf dem mittleren Szenario von Greenpeace auf und verstärkt nochmals die wichtige Botschaft, dass die Klimakrise sowie auch die Biodiversitätskrise gemeinsam gelöst werden müssen.
Ebenfalls im Juni, während der parlamentarischen Sommersession, einigte sich der Nationalrat auf einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, der ehrgeizig genug ist, um einen bedingten Rückzug zu ermöglichen.
Nach der parlamentarischen Sommersession richten sich alle Blicke auf die UREK-S. Mehr als ein Jahr nach der Botschaft des Bundesrates können sich die Kommissionsmitglieder immer noch nicht auf eine Richtung für das «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung aus erneuerbaren Energien» einigen. Die Kommission verpflichtet sich, ihre Schlussfolgerungen im Sommer vorzulegen, damit der Ständerat endlich im Plenum entscheiden kann. Die Kommission hat somit mehrere Sitzungen in den Monaten Juli und August eines ganz besonderen Sommers anberaumt. In diesen beiden Monaten werden Dürre, Brände und Hitzewellen alle europäischen Länder und einen Grossteil der nördlichen Hemisphäre stark in Mitleidenschaft ziehen. Die Öffentlichkeit bekommt zum ersten Mal ein Gefühl dafür, welche Folgen eine Klimaveränderung haben könnte, und erkennt, dass der Sommer 2022 wahrscheinlich einer der kühlsten aller kommenden Sommer sein wird.
Herbstsession: Zwei Schritte vor, einen zurück
Zwischen der Veröffentlichung unseres Energieszenarios und dem Beginn der Herbstsession des Parlaments haben sich die Welt und die öffentliche Meinung stark verändert. Um noch einmal gut sichtbar zu zeigen, dass die Stunde der Solarenergie geschlagen hat, erinnern wir mit Zeitungsinseraten, die durch 4.500 Personen finanziert und von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterstützt wurden, daran, wie wichtig es ist, die Energiewende endlich voranzutreiben. Zeitgleich übergeben wir die Petition für den Solar-Sprint mit 20’000 Unterstützer:innen an das Schweizer Parlament – und appellieren abermals an die Verantwortung der Parlamentarier:innen.
Drei Wochen nach der Übergabe unserer Petition für den Solar-Sprint wurden in der Herbstsession des Parlaments viele wichtige Entscheidungen getroffen. Einige davon waren sehr erfreulich: Das Produktionsziel für neue erneuerbare Energien wurde bis 2035 auf 35 TWh/Jahr festgelegt (wir hatten 38 TWh/Jahr gefordert). Ebenso wurden gute Ziele für die Reduktion des Energieverbrauchs pro Person festgelegt und Massnahmen beschlossen, die es möglich machen, dass die Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Zudem wird mit dem indirekten Gegenentwurf zur Gletscherinitiative das netto null Ziel im Gesetz verankert, die Förderung weiterer Innovationen beschlossen und ein Sonderprogramm für den Ersatz fossiler Heizungen gesprochen. Letzteres ist nunmehr ehrgeizig genug für einen bedingten Rückzug des Textes. Doch nun gilt es ein Déjà-vu zu verhindern, denn die SVP hat bereits angekündigt, dass sie das “Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit” mit einem Referendum bekämpfen wird.
Neben dem Mantelerlass für die sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, dem indirekten Gegenentwurf zur Gletscherinitiaitive, hat das Parlament noch ein weiteres Stück geliefert: das „Fördermittel“ sieht eine Solarpflicht bei Neubauten mit über 300 m2 Dachflächen vor (30% der Neubauten), es soll den Ausbau der Photovoltaik in den Alpen beschleunigen und erwähnt ganz konkret die Erhöhung der Staumauer am Grimsel.
Damit kommen wir zu den Rückwärtsschritten. Es ist nicht nur aus Sicht der Gewaltentrennung falsch, in einem Gesetz konkrete Projekte zu erwähnen, das Gesetz ist insbesondere auch bezüglich Naturschutz und Raumplanung sehr problematisch. Der Verzicht auf die bewährte Planungspflicht und die grundsätzliche Änderung der Interessenabwägung zu Lasten des Naturschutzes sind rechtsstaatlich fragwürdig und dürfen sich nicht wiederholen. Zumindest wird das Gesetz zeitlich terminiert, die so produzierte Energie auf maximal 2 TWh/a beschränkt und es wird festgelegt, dass nach erfolgter Produktion ein vollständiger Rückbau mit Wiederherstellung des Ursprungszustandes erfolgen muss. Unser Fazit: Das Gesetz kann tatsächlich helfen, uns unabhängiger von fossilen Energien und Importen zu machen. Und da Biotope von nationaler Bedeutung von der Nutzung ausgenommen wurden, akzeptieren wir das Gesetz.
Die Festlegung eines grundsätzlichen Vorrangs der Interessen erneuerbarer Energien vor dem Naturschutz ist unklug, denn wir brauchen eine intakte Biodiversität, um gut leben zu können. In der weiteren Beratung zum Mantelerlass für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, muss deshalb dafür gesorgt werden, dass insbesondere Biotope von nationaler Bedeutung geschützt bleiben. Die Umweltorganisationen haben während der Herbstsession mehrmals darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Klimafrage und die Frage der Biodiversität gemeinsam zu betrachten. Sie werden sich weiterhin gemeinsam für eine Energiewende einsetzen, die im Einklang mit der Natur und den Menschen vollzogen wird.
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