In Holland haben alle drei Rechtsinstanzen entschieden, dass die Regierung mehr unternehmen muss, um die eigene Bevölkerung angemessen vor dem Klimawandel zu schützen. In der Schweiz hingegen wurde die Klage der KlimaSeniorinnen auf allen Ebenen abgewiesen. Nun ziehen sie die Klimaklage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter. Dafür segeln sie mit dem Greenpeace-Schiff Beluga nach Strassburg und hoffen, einen wichtigen Präzedenzfall zu schaffen.
Mit zehn Seniorinnen ziehen wir es durch. Das nahmen wir uns von der Greenpeace-Klimakampagne zusammen mit sechs Frauen vor, als sie den Verein KlimaSeniorinnen ins Leben riefen. Schon bei der Gründung im August 2016 waren es über 150 Frauen, die am Gericht eine Klimaklage einreichen wollten.
Heute ziehen fast 2’000 Frauen mit einem Durchschnittsalter von über 73 Jahren ihre Klage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter. Davor haben das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), das Bundesverwaltungsgericht sowie das Bundesgericht die Klimaklage abgewiesen. Alle drei Instanzen nannten unterschiedliche Gründe.
Das UVEK war nicht bereit, sich mit dem Begehren inhaltlich zu befassen. Es wies das Gesuch im April 2017 mit der Begründung ab, die KlimaSeniorinnen würden etwas verlangen, das global angegangen werden müsse. Im Dezember 2018 folgte das Bundesverwaltungsgericht mit dem Argument, ältere Frauen seien nicht stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen als andere Bevölkerungsgruppen.
Im Mai 2020 verkündete das Bundesgericht, ein juristischer Schutz für die Seniorinnen sei erst dann gegeben, wenn die Schwelle von «deutlich unter 2°C oder möglichst 1.5°C» erreicht sei. Das wäre also dann, wenn die Folgen des Klimawandels unabwendbar geworden sind, weil wir heute nicht alles unternehmen, um die Erwärmung aufzuhalten. Das Bundesgericht stellte zudem nebenbei fest, dass die Menschenrechte der Seniorinnen durch die derzeitige Klimapolitik der Schweiz nicht verletzt seien.
Grösste Bedrohung für die Menschheit
Alle drei Begründungen kann man hinterfragen. Erstens müssen alle Länder ihren Beitrag zur Lösung des Problems beisteuern, zweitens sind ältere Menschen durch die zunehmenden Hitzewellen nachweislich stärker betroffen, und drittens müssen wir ohne Zweifel heute handeln, wenn wir den Temperaturanstieg bremsen möchten.
Zudem zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre sehr deutlich, dass die Klimakrise die grösste Bedrohung für die Menschheit ist. Da mutet es schon verkehrt an, wenn Gerichte den Zugang zum Grundrechtsschutz des Lebens und der Gesundheit verwehren. Darum ist es wichtig und richtig, den Fall nun dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorzulegen. Der Schweizer Fall könnte zum ersten Klimafall am EGMR werden und damit zu einem wichtigen Präzedenzfall für die zahlreichen anderen Klimaklagen, mit denen Regierungen oder Konzerne zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Wichtigkeit und Dringlichkeit
Eine Anpassung der Schweizer Klimapolitik an die menschenrechtlichen Verpflichtungen könnte einen neuen klimapolitischen Minimalstandard für Länder wie die Schweiz etablieren, so wie es in Holland bereits erfolgt ist. Dort kamen alle drei Rechtsinstanzen des Landes zum Schluss, dass die Regierung mehr unternehmen muss, um die eigene Bevölkerung angemessen zu schützen. Statt die Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu senken – das ist auch das Ziel für die Schweiz, das aller voraussicht nach nur knapp und nur «dank» Corona erreicht wird –, muss Holland bis Ende Jahr 25 Prozent erreichen und dafür Sofortmassnahmen ergreifen. Darüber hinaus hat sich die Klima-Diskussion im Land völlig verändert.
Das ist auch das Ziel des Schweizer Klimafalles: Dass die Wichtigkeit und Dringlichkeit eines aus menschenrechtlicher Sicht genügenden Klimaschutzes in Parlament und Gesellschaft endlich ankommen. Konkret fordern die KlimaSeniorinnen, dass der Bund auf verstärkte Klimaziele für die Jahre 2020 und 2030 hinarbeitet und dabei das begrenzte Klimabudget ernst nimmt. Würde die Beschwerde in ihrem Sinne angenommen, müsste der Bund seinen Spielraum für die Verschärfung von Massnahmen nutzen. Heute nutzt der Bundesrat sein Wirkungsfeld eher für das Gegenteil, so beispielsweise im Verkehr: Er gewährt Schweizer Autoimporteuren zwei Jahre mehr Zeit als die EU, um die Flottengrenzwerte zu erreichen. Vor allem aber müsste der Bund dem Parlament eine verschärfte Klimapolitik mit Sofortmassnahmen vorlegen, um die menschenrechtlichen Mindestanforderungen einzuhalten.