7. März – Meine Arbeit in der Präfektur Fukushima ist beendet. Als ich ein letztes Mal mit meinen Kollegen in einem Restaurant in Tokio esse, ruft unser Tischnachbar: «Go away!» Wir sind erstaunt über diese offene Aufforderung, die so gar nicht der japanischen Art entspricht, und beginnen uns mit ihm zu unterhalten. Es stellt sich heraus, dass ein Missverständnis vorliegt: Der Mann meinte, wir würden für die Atomindustrie arbeiten.
Diese Anekdote ist alles andere als unbedeutend. Der Atomunfall von Fukushima hat zwei Mythen endgültig zerstört, die den JapanerInnen von Kindesbeinen an eingeprägt worden sind: Erstens, dass die Atomenergie keine Risiken berge – hierzu braucht es keinen Kommentar mehr. Und zweitens, dass Japan nicht ohne Atomenergie auskommt, um den landesweiten Elektrizitätsbedarf zu decken. Die komplette Stilllegung der 54 japanischen Reaktoren in den Monaten nach der Katastrophe hat mit aller Deutlichkeit das Gegenteil bewiesen: Es gab nicht die kleinste Unterbrechung in der Stromversorgung. Und die Reaktion des Mannes in Tokio auf drei Fremde, die sich bei einem Gläschen Sake über Atomenergie unterhielten, ist ein Zeichen für die Entrüstung gegenüber den Behörden, die ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger über Jahrzehnte wissentlich in die Irre geführt haben.
Meinungsumfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit der japanischen Bevölkerung genug hat von der Atomenergie. Premierminister Shinzo Abe und seine Verbündeten in der Regierung pfeifen darauf. Sie versuchen mit allen Mitteln, die stillgelegten Reaktoren wieder zum Laufen zu bringen und erneut eine bedeutende Atomindustrie aufzugleisen. Gerade bevor ich in die Schweiz zurückreise, erfahre ich, dass der Betrieb eines vierten Atomreaktors wieder aufgenommen worden ist. Allerdings nicht für lange: Einige Stunden später wurde er wegen einer beschädigten Turbine bereits wieder abgeschaltet …
Ich bin zuversichtlich, dass Abe bald von der Realität eingeholt werden wird. Seit meinem ersten Besuch in Japan sind vier Jahre vergangen. Und wenn es etwas gibt, das mich diesmal verblüfft hat, dann ist es der Aufschwung der Solarinstallationen: Innert weniger Jahre sind Solarzellen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Entwicklung ist phänomenal: Die Produktion von Solarenergie – vor dem Unfall in Fukushima praktisch gleich null – ist 2015 auf über 30 Terawattstunden gestiegen, was der Energieproduktion von fünf Atomreaktoren mittlerer Grösse entspricht. Sogar die von Greenpeace prognostizierten Werte, die gewöhnlich als realitätsfremd kritisiert werden, wurden überschritten. Wenn das nicht fantastisch ist!
Die Partie ist aber leider noch nicht gewonnen. Shinzo Abe setzt nicht nur auf Atomenergie, sondern auch auf Kohle, wodurch er das Land in zweierlei Hinsicht in die Falle führt: Zu den Risiken der Atomenergie kommen klimabedingte Umweltrisiken hinzu. Die Windenergie, für deren Produktion sich die windigen Küsten der japanischen Inselgruppe ausgezeichnet eignen, muss noch richtig in Schwung gebracht werden. Zudem verschwendet das Land weiterhin Unmengen von Strom: zum Beispiel läuft die Elektroheizung in meinem Hotelzimmer auf Hochtouren, und auch der kalte Luftzug, der durch das schlecht isolierte Fenster pfeift, zeugt nicht gerade von einem sorgsamen Umgang mit Energie.
Ich reise dennoch mit einem optimistischen Gefühl ab: Japan wird nicht mehr umkehren. Die Energiewende hat begonnen und das Land ist, wohl oder übel, unterwegs in die richtige Richtung. Meine Bürokollegen in Japan setzen sich stark dafür ein, diese Veränderungen voranzutreiben. Ihr Einsatz im Dienst der sauberen Energieträger – weniger sichtbar und weniger spektakulär als die Anti-Atomkraft-Arbeit – trägt ebenfalls Früchte: Die Präfektur Fukushima selbst hat beschlossen, voll und ganz auf erneuerbare Energie zu setzen.
Ich werde mich noch lange an dieses Bild erinnern: Vor der Küste beim AKW Daiichi erkennen wir von unserem Schiff aus Windräder, die im Meer errichtet worden sind. Obwohl ein bisschen vom Nebel verhüllt, sind sie doch da und zeigen der AKW-Ruine mit ihren eleganten Rotorblättern einen Stinkefinger nach dem anderen. So sieht es momentan aus in Japan: Auch wenn ihre Umrisse noch nicht für alle klar auszumachen sind, ist die Energie-Revolution schon sichtbar im Gang.