29. Februar – Hektik macht sich breit an Bord der Rainbow Warrior. Wir räumen den Speiseraum auf und fegen überall gründlich mit dem Besen. Der Koch ist in der Kombüse, der Kapitän erteilt seine letzten Befehle. Heute Abend wird ein ganz besonderer Gast an Bord sein. Seit mehr als zwei Wochen ist das Flaggschiff von Greenpeace nun in Japan, um an den fünften Jahrestag des Nuklearunfalls von Fukushima zu erinnern und für die Energiewende zu werben.
Der prominente Gast ist Naoto Kan. Er war Premierminister als das schreckliche Erdbeben und der Tsunami die Ostküste Japans zerstörten und die dreifache Kernschmelze in Fukushima herbeiführten. Er war es, der die Krise bewältigen und schliesslich die entsprechenden Entscheidungen treffen musste, um die Bevölkerung bestmöglich zu schützen. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, unter welch einer Anspannung dieser Mann gestanden haben muss – er, der wusste, dass je nach Verlauf der Ereignisse im Atomkraftwerk eine Evakuation der Agglomeration von Tokio und ihrer rund 40 Millionen Einwohner unausweichlich werden würde.
Heute Abend jedoch ist der ehemalige Staatsmann entspannt, als er auf die Schiffsbrücke steigt, und sichtlich zufrieden, an Bord der Rainbow Warrior zu sein. Die Formalitäten des Protokolls – in Japan manchmal gar schwerfällig – sind schnell vergessen, und wir diskutieren mit einem Glas Wein in der Hand über Fragen rund um das weltweite Thema Atomenergie.
Naoto Kan wurde heftig kritisiert für seinen Umgang mit der Nuklearkrise, was ihn dazu zwang, sein Amt einige Monate später niederzulegen. Ein Teil der Opfer hat ihm bis heute nicht verziehen. Er hatte sicher Fehler begangen – und gesteht dies auch ein in einem selbst verfassten Buch, das kürzlich erschienen ist. Ich persönlich freue mich, ihn zu treffen, denn ich habe Respekt vor diesem Mann, der nach den Ereignissen zur Einsicht gekommen ist und seine Meinung zur Nuklearfrage grundlegend geändert hat. Er, der vor dem Unfall überzeugt war von den Vorteilen dieser Technologie, hat seine Lehren gezogen aus dem Unfall und zugegeben, dass die Risiken der Atomenergie nicht kontrollierbar sind und die Folgen einer Atomkatastrophe schlicht nicht zu meistern sind. Ich denke, er weiss, wovon er spricht.
Im Lauf des Gesprächs erzähle ich ihm von der Situation in der Schweiz. Naoto Kan kann fast nicht glauben, dass der älteste Reaktor der Welt in der Schweiz steht. Ich betone, dass das so sei: Doch, doch, Beznau 1 ist mit seinen 46 Jahren wirklich der Dienstälteste unter allen Reaktoren. Dieser traurige Rekord erinnert mich daran, dass in der Schweiz die Lehren aus Fukushima noch nicht gezogen worden sind. Auch wenn der Ausstieg aus der Atomenergie 2011 beschlossen wurde, wird seine Umsetzung auf die lange Bank geschoben. Bis dahin werden unsere überalterten Reaktoren am Rand ihrer Kräfte betrieben, während die Risiken für Unfälle einfach ausgeblendet werden. Auf die Schweiz kommen «heitere» Zeiten zu – auf dieses nukleare Dorf der Weltgemeinschaft, dieses Netzwerk, wo jeder jeden kennt und man die Probleme «unter Freunden» löst, wo die Betreiber der AKW und die Aufsichtsbehörden unter einer Decke stecken. Genau das war die Wurzel der Katastrophe in Japan.
Die Mahlzeit war üppig, die Reden waren zum Glück kurz. Naoto Kan hilft einem Mitglied der Besatzung beim Ausblasen der Geburtstagskerzen. Es ist noch früh, als er sich in seine Kabine im Unterdeck des Schiffs zurückzieht. Morgen erwartet ihn ein langer Tag: Die Rainbow Warrior wird mit einem unscheinbaren, aber für den weltweiten Ausstieg aus der Atomenergie einstehenden Botschafter an Bord den Norden ansteuern und in einigen Meilen Entfernung an Fukushima Daiichi vorbeischippern.