Die Landwirtschaft der Industrieländer hat innert einem runden Jahrhundert eine Veränderung durchlaufen, die sie an den Rand der Selbstzerstörung führt: Mit der Vergiftung ihrer eigenen Grundlagen durch die Anwendung chemischer Mittel im Pflanzenbau und der Aufgabe beinahe jeglicher Ethik gegenüber den Nutztieren aufgrund ihrer industrialisierten Verwertung. Ein wenig beachtetes Ergebnis dieser rasanten Entwicklung im 20. Jahrhundert war die Enthornung der Kühe. Sie ging mit der spezialisierten Züchtung auf Höchstleistungen bei der Milch- oder Fleischproduktion einher. Denn ohne Hörner können Kühe und Stiere effizienter gehalten werden, das heisst auf weniger Platz mit weniger Aufwand und Aufmerksamkeit durch uns Menschen. So kam es, dass heute in der Schweiz nur noch rund 10% der Rinder Hörner tragen, in Realität, auf der Wiese. Im Kopf hingegen, aufgrund der Milchpackungen, Ansichtskarten und Kalenderbilder, sind die Verhältnisse umgekehrt.
Lehrstück in Hartnäckigkeit und politischem Gespür
Armin Capaul, früher Alphirt, heute jurassischer Bergbauer, geht das seit Jahren nicht in seinen Bündner Grind. Er, der sich indianischem Gedankengut genauso wie dem gesunden Menschenverstand verpflichtet fühlt, will den Hornkühen wieder eine Chance geben. Er hätte auf ein simples Verbot der Enthornung drängen können, im Wissen, dass es heutzutage genügend hornlos gezüchtete Milch- und Fleischviehrassen gibt. Doch er wählte einen schweizerischen Weg, in doppelter Hinsicht:
Erstens setzte er, nach dem erfolglosen Gang durch die verwinkelten Gänge des Bundesamtes für Landwirtschaft und dem Schiffbruch im Parlament, auf die direkte Demokratie. Er sammelte mit seinen UnterstützerInnen sagenhafte 150’000 Unterschriften für seine Hornkuh-Initiative.
Zweitens formulierte er sie so, dass sich eigentlich niemand dagegen wehren müsste: Die Entscheidung über Enthornung oder nicht bleibt weiterhin bei den Tierhaltern. Wer jedoch als Bauernfamilie seinen Rindern oder Ziegen die Hörner lässt, soll für die Mehrkosten und die achtsamere Arbeit im Umgang mit ihnen einen finanziellen Zustupf erhalten. Er dachte sich, so sei allen gedient, da die Schweizer Landwirtschaftslogik auf Direktzahlungen für ökologische Mehrleistungen setzt.
Was ist gefährlicher: Hochstamm-Bäume oder Hornkühe?
Doch Capaul täuschte sich gewaltig. Er erlitt Schiffbruch im Parlament, sogar mit einem klug formulierten Gegenvorschlag, und nun tobt eine Abstimmungsdiskussion die interessanterweise die Risiken der Hornkuhhaltung emporstilisiert. In der TV-Arena vom 2. November wurde eine halbe Sendung lang über die Gefährdung durch Hornstösse diskutiert. Martin Ott, der Präsident des Forschungsinstituts für Biologischen Landbau, konnte sich vor laufender TV-Kamera einen bissigen Spruch nicht verkneifen: «Von den Hochstamm-Obstbäume fallen jedes Jahr viel mehr Bauern als von einem Hornstoss getroffen werden. Doch niemand will Hochstämmer verbieten, im Gegenteil: Sie werden gefördert. Wieso geht das nicht auch für Hornkühe?» Bundesrat Schneider-Ammann blieb ihm die Antwort schuldig. Ebenso fehlte seine Erklärung wieso er die Forschungsergebnisse der Universität Bern aus dem Jahr 2016 negiert, die die monatelang andauernden Langzeitschmerzen bei Kälbern nach ihrer Enthornung belegt.
Beitrag an eine kleinräumige, achtsame Graswirtschaft
Greenpeace unterstützt die Hornkuh-Initiative. Sie zeigt einerseits die Auswüchse der industrialisierten Landwirtschaft exemplarisch und am liebenswürdig lebendigen Tier auf. Sollte am 25. November der Durchbruch an der Urne gelingen, hat wieder einmal ein einfühlsamer David – Armin heisst er diesmal – gegen den industriell effizienzbesessenen Goliath gesiegt. Glücklich werden aber nicht nur der eigenwillige Bergbauer und all jene Kühe und Ziegen sein, die künftig ihre Hörner mit Stolz und kommunikativem Feingefühl tragen können.
Die Hornkuh-Initiative ist auch ein Beitrag an eine Landwirtschaft mit weniger Rindern in den Ställen, die vor allem dort eingesetzt werden, wo sie ökologisch Sinn machen: Auf kleineren Betrieben im steilen Voralpen- und Alpengebiet. Dort wächst kein Getreide mehr, nur Gras, das unsere Spezies nicht verdauen kann. Dort waren und sind die Behornten am weitesten verbreitet und leisten ihren Beitrag zur Pflege der alpinen Biodiversität. Dort gehören sie hin.