Die Geschichte einer vermasselten Prüfung und einer höchst fragwürdigen Intervention.
Die Mutter der kleinen Bea Zun wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, als diese sich grusslos an den Mittagstisch setzte mit gesenktem Haupt und abwesend im Loch im Ärmel ihres zerschlissenen Pullis herumfingerte. Nachdem Bea eine Weile lustlos auf den Teller stierend in ihren Hörnli mit Gehacktem herumgestochert hatte, fragte die Mutter schliesslich: «Was ist los, mein Schatz? War dieser Hippie, dieser Peer Gancee, wieder gemein zu dir in der Schule?»
Bea hielt ihren Blick gesenkt. «Nein, ich …» Sie stockte, den Tränen nahe. «Die Mathi-Prüfung, ich …»
Frau Zun wartete und fasste sich unbewusst an ihren Perlohrring, wie sie es immer tat, wenn die Emotionen begannen in ihr hochzusteigen. Denn sie ahnte, was jetzt kommen würde.
«Ich … bin durchgefallen. Ich … ich … muss nachsitzen», brach es schliesslich aus der Kleinen schluchzend heraus.
«Waaaaaaaaaas?», schrie die Mutter, und ihre kleine Tochter zuckte zusammen, als erwarte sie, dass sie jeden Moment verprügelt würde. Doch der Zorn ihrer Mutter galt nicht ihr. «Dieser verdammte Lehrer! Diese elende Bildungsdirektorin!» Sie belegte die beiden mit Kraftausdrücken, wegen deren sie ihrer Tochter tatsächlich mit Prügeln gedroht hätte, hätte diese sie benutzt. Frau Zun sprang auf, schnappte sich ihr Handy, das im Designer-Gestell hinter ihr lag, und wählte sogleich die Nummer der Bildungsdirektion. «Das kriegen wir schon hin, mein Schatz», sagt sie, dem Freizeichen lauschend, während sie der Tochter über ihr struppiges Haar strich. «Die sollen jetzt verdammt nochmal den Notenschnitt für diese Prüfung senken! Ja, Zun hier, jetzt hören Sie mal zu …»
An dieser Stelle würde diese kleine Geschichte wohl enden. Warum sollte die Bildungsdirektion intervenieren, um einer schlechten Schülerin das mühsame Nachsitzen zu ersparen?
Aber nehmen wir einmal an, wir reden hier nicht von Bildungs- und Erziehungssorgen einer Schweizer Kleinfamilie, sondern von sehr handfesten Sorgen um die Sicherheit der Bevölkerung. Die schlechte Schülerin heisst in dieser, sehr realen, Geschichte: Beznau. Die Prüfung, bei der das AKW durchgefallen ist, ist der Nachweis, dass es einem sehr starken Erdbeben standhalten kann. Nach geltender Rechtsordnung gilt dieser Test als bestanden, wenn bei einem solchen Jahrtausend-Erdbeben die Bevölkerung nur einer tiefen Strahlendosis von 1 Millisievert pro Jahr ausgesetzt würde. Bei Beznau wurde aber dafür ein massiv höherer Wert berechnet (nach Berechnung der Betreiberin Axpo 29 Millisievert, nach Berechnung der Aufsichtsbehörde Ensi gar 78). Eigentlich hätten deshalb beide Blöcke von Beznau abgeschaltet und nachgerüstet werden müssen. Dass sie es nicht wurden, ist auf eine offensichtlich falsche Auslegung der Verordnung zurückzuführen. Dagegen haben AnwohnerInnen des AKW geklagt, mit Unterstützung von Greenpeace und anderen Organisationen. Das Verfahren ist hängig beim Bundesverwaltungsgericht.
Und jetzt kommt die Bildungsdirektion … will sagen: der Bundesrat ins Spiel. Dieser hat sich entschieden, den zuvor erwähnten Jahrtausendbeben-Strahlendosis-Grenzwert auf nunmehr 100 Millisievert pro Jahr zu erhöhen. Das ist über dreimal mehr als das, was Schätzungen zufolge in Dörfern um Fukushima im ersten Jahr nach der Reaktorkatastrophe an Radioaktivität in der Luft lag. Der Bundesrat hat also genau das getan, was sich die wütende Frau Zun von der Bildungsdirektorin für ihre lernfaule Tochter gewünscht hätte: Die Regierung hat den Notenschnitt so gesenkt, dass auch die schlechte Schülerin Beznau durchkommt – ungeachtet dessen, dass damit eine grosse Gefahr für die Bevölkerung bestehen bleibt. Und auch ungeachtet dessen, dass das Verfahren der Beznau-AnwohnerInnen noch immer hängig ist; der Bundesrat greift also einem laufenden Verfahren vor, was staatspolitisch höchst fragwürdig ist.
Immerhin: Das letzte Wort ist in dieser Affäre noch nicht gesprochen. Noch ist die absurde und gefährliche Notenschnittsenkung des Bundesrats nicht festgeschrieben – Greenpeace und ihre Partnerorganisationen werden sich während des Anhörungsverfahrens dafür einsetzen, dass der Schutz der Bevölkerung vor jenem der AKW-Betreiber steht.