«Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon am Entstehen. An ruhigen Tagen kann ich sie bereits atmen hören.» – Arundhati Roy
Ich kann sie auch hören. Ich habe mein Arbeitsleben damit verbracht, anderen zu helfen, sie zu hören. Ich frage mich, ob ich sie diese Woche, wenn ich am jährlichen World Economic Forum (WEF) teilnehme, in der kalten Bergluft von Davos noch immer hören werde?
Sieben Frauen haben in diesem Jahr den Vorsitz in Davos, aber ich frage mich noch immer, ob Justitia sich über den Chor der Hinterzimmer-Deals und die Rhetorik über das gemeinsame Gestalten einer besseren Zukunft wird erheben können. Ich frage mich, ob wir in der Lage sein werden, das Mitgefühl und die Verbindung miteinander zu finden, um nicht nur über die grössten Herausforderungen zu debattieren, vor der die Welt heute steht, sondern auch die darin angelegten Chancen zu nutzen, um gemeinsam eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft aufzubauen. Die Zeit, einfach am bestehenden System herumzubasteln, um den Status quo zu erhalten, ist längst vorbei.
Natürlich werde ich bei meinen Kontakten in Davos besonderen Wert legen auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Gerechtigkeit als vitale Treiberin des Wandels, den wir in dieser Welt sehen müssen. Ich werde an alle meine Gesprächspartnerinnen und -partner appellieren, in sich zu gehen und sich zu fragen, was mit der Welt geschieht. Ich werde sie auffordern herauszufinden, was sie tun können, und sie dringlich bitten, es zu tun.
Jedes Jahr veröffentlicht das WEF kurz vor dem Treffen in Davos einen globalen Risiko-Bericht. In den letzten Jahren haben Greenpeace und weitere Bewegungen für Umwelt und soziale Gerechtigkeit viele der gleichen Punkte in Bezug auf Risiken, Dringlichkeit und Lösungen angesprochen. Gerade jene Systeme, aus denen Konzerne und PolitikerInnen ihre Macht und ihren Profit ziehen, versagen und schaffen die zersplitterte Welt, in der wir heute leben.
Extreme Wetterereignisse (und machen Sie sich keine Illusionen, sie sind extremer wegen des Klimawandels) wie Dürreperioden, Wirbelstürme oder Hochwasser wurden sogar von politischen und wirtschaftlichen Führungskräften zum zweiten Mal in Folge als grösste Bedrohung für die Welt bezeichnet. Was die möglichen Auswirkungen angeht, werden sie ähnlich bedrohlich eingestuft wie Massenvernichtungswaffen. Wir sind eindeutig in eine Ära alternativer Massenvernichtungswaffen eingetreten: Massenvernichtungs-Wetter.
Welcher Ort wäre daher für diese Diskussionen relevanter als Davos, wo viele der Individuen anwesend sind, die dafür sorgen können, dass wir das Schiff rechtzeitig abdrehen, bevor es in den Eisberg kracht?
Natürlich müssen wir an diese MachthaberInnen als Menschen, als BürgerInnen, als Eltern und Grosseltern appellieren. Wir dürfen nicht vergessen, an ihre Menschlichkeit zu appellieren. Gleichzeitig haben sie spezifische Macht und Verantwortung.
Ich werde auch für einen neuen Greenpeace-Bericht mit dem Titel «Gerechtigkeit für Mensch und Planet» werben. Im Bericht werden Regierungen aufgefordert, wirkungsvolle und verbindliche Regeln für das Verhalten von Wirtschaftskonzernen einzuführen, damit diese ihrer Verantwortung für die Menschen und den Planeten gerecht werden. Der Bericht zeigt, dass Regierungen, statt solche Regeln einzuführen, willentlich oder unwillentlich zu Wegbereitern der Straffreiheit für Konzerne wurden.
Eine Analyse von 20 konkreten Fällen macht deutlich wie Konzerne die Unternehmens-Gesetzgebung, Steuer- und Investitionsabkommen, ihre Lobbymacht und Schlupflöcher in der internationalen Gesetzgebung missbraucht haben, um auf Kosten von Menschenrechten und der Umwelt Profit zu machen.
Der Bericht dokumentiert unter anderem, wie unterschiedliche Rechtsstandards dazu führten, dass der VW-Konzern im Dieselskandal in den USA Bussen in Milliardenhöhe bezahlen musste, in Europa hingegen straffrei davonkommt, oder wie Firmen wie Resolute Forest Products und Energy Transfer Partners (die Firma hinter der umstrittenen Dakota Access Pipeline) ihre KritikerInnen mit sogenannten SLAPP-Verfahren zum Schweigen bringen wollen. Auch wird gezeigt, wie der Schweizer Rohstoffhändler Glencore Umwelt und Klima schädigt und private Schiedsgerichte nutzt, um Regierungen unter Druck zu setzen, oder wie die spanische ACS-Gruppe sich mit ihrer Beteiligung am Bau des Renace-Wasserkraftwerks in Guatemala zum Komplizen einer Katastrophe für Menschen und Umwelt machte.
Als Antwort skizzieren wir auf gesundem Menschenverstand fussende Prinzipien zur Konzernverantwortung, unter anderem die Forderungen «Konzerne und deren Führungskräfte sollen haftbar sein für Umweltschäden oder Menschenrechtsverletzungen, die im Inland oder Ausland durch Unternehmen begangen werden, die unter ihrer Kontrolle stehen» oder «Staaten sollen stetige Verbesserungen der Standards fördern, indem sie Unternehmen verbieten, Tätigkeiten im Ausland auszuüben, die im Land ihres Firmensitzes aufgrund von Risiken für Umwelt- und Menschenrechte verboten sind.»
Wann immer möglich, werde ich in Gesprächen die neusten Erkenntnisse der Klimaforschung einbringen und dabei insbesondere auf den Zusammenhang zwischen extremen Wetterereignissen, Klimawandel und Unternehmenshaftung hinweisen. Dies ist ein Gebiet, das sich wissenschaftlich rasch entwickelt und, weil die Auswirkungen immer häufiger und intensiver zu spüren sind, ein Thema, dessen sich die wirtschaftlichen Führungskräfte bewusst sein sollten.
Die jüngst eingereichte Schadenersatzklage der Stadt New York gegen fünf der grössten Ölkonzerne im Zusammenhang mit Auswirkungen des Klimawandels und der Plan der Stadt, die Investitionen ihres Pensionsfonds aus Erdölkonzernen abzuziehen, fussen auf solch neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Als Geschäftsführerin von Greenpeace International werde ich immer wieder gefragt, ob ich wirklich nach Davos gehen sollte. Die Antwort ist Ja. Meine Vorgänger nahmen aus einem einfachen Grund teil – es ist eine seltene Chance, den Mächtigen direkt die Wahrheit zu sagen. Natürlich gibt es wie immer keine Garantie, dass diese Leute auch zuhören werden.
Ich werde viele leitende Führungskräfte für einmal ohne deren grosse Support-Teams treffen. Irgendwie fühlen sich solche Begegnungen menschlicher an – eine Chance über Fakten und wirtschaftliche Möglichkeiten zu sprechen und ihnen helfen zu können, das Mitgefühl zu finden, das sie brauchen, um sich diesen Herausforderungen zu stellen.
Greenpeace ist oft die erste Organisation, die bei einer Ölpest oder einer nuklearen Katastrophe vor Ort auftaucht. Wieso also sollten wir nicht auch die ersten sein, die am Hofe der globalen CEOs ganz oben auftauchen und diese dazu bringen, sich für eine Zukunft einzusetzen, die auch sie sich zweifellos für ihre Kinder und Grosskinder wünschen.
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Jennifer Morgan ist Geschäftsführerin von Greenpeace International
Zuvor war sie die globale Direktorin des Klimaprogramms beim World Resources Institute. Als Klima-Aktivistin war sie als Leiterin grosser Teams bei wichtigen Organisationen tätig, unter anderem hatte sie für den WWF, das Climate Action Network und E3G gearbeitet.