Jeremy Narby wurde bekannt mit einer Forschungsarbeit in den Wäldern des Amazonas, die unter dem Titel «Die kosmische Schlange» 1995 in Genf erschienen ist und einen erstaunlichen Zusammenhang schafft zwischen dem modernen westlichen und dem uralten schamanischen Wissen um das Grundprinzip des Lebens – um das, was wir in unseren Breiten mit DNS oder Genetik zu umschreiben versuchen.
Der Anthropologe hat zwei Jahre bei den Ashaninka-Indianern gelebt und ihren Umgang mit den natürlichen Ressourcen studiert. Bald kam die Schamanendroge Ayahuasca ins Spiel, und die klassische Feldforschung erlebte eine unerwartete Wendung. Unser Gespräch im letzten März handelte aber nicht von Halluzinationen, sondern von Bäumen – 2011 ist das UNO-Jahr der Wälder.
Narby lebt in einem alten Haus mit einem parkähnlichen Garten, in den er aber nicht viel Zeit zu investieren scheint. Egal, was er an Gartenkunst realisieren würde – verglichen mit dem tropischen Urwald im peruanischen Amazonasgebiet schiene es lächerlich. Davon handelt auch ein Teil seines Berichts: von der «armseligen» Biodiversität des 10 000 Jahre jungen europäischen Waldes gegenüber jener des hundert Millionen Jahre alten Regenwaldes.
Von Jeremy Narby
Erstmals betrat ich den tropischen Urwald in Peru, im Tal von Pichis. Ich war begleitet von zwei Ashaninka-Indianern. Wir folgten der Schneise der Holzfäller und ihrer Bulldozer. Dann endete die Piste.
Was mir beim Eintritt in den Regenwald als Erstes den Atem verschlug, war die Grösse der Bäume. Ich musste sofort an die Kathedrale von Rheims denken, aber ich stand in einer Kathedrale aus Pflanzen: die Höhe der Decke aus Baumwipfeln, die kühle Temperatur, die eigenartige Akustik, durch welche die Waldgeräusche gleichzeitig reflektiert und geschluckt wurden … Damals sprach ich noch vom «Dschungel» und erwartete etwas Schreckliches. In Wirklichkeit umfing mich sofort eine schöne, hypnotische Stimmung. Ich war erleichtert, dass es nicht mehr so heiss und grell war wie «draussen». Ich öffnete die Augen und war hingerissen von der grenzenlosen Vielfalt der Natur. Es war, als befände ich mich in einem impressionistischen Gemälde. Keine Pflanze glich einer anderen. Ich befand mich, wie ich herausfinden sollte, im Epizentrum der Biodiversität: Auf einer einzigen Hektare gab es 330 Baumarten. Das war mehr als auf dem gesamten europäischen Kontinent.
Die Paläontologen sagen, dass der Jura vor 150 Millionen Jahren den Bahamas glich, mit Stränden aus feinem Sand und Temperaturen um dreissig Grad. Eine gute alte Zeit! Der Jura lag auf der heutigen Breite Marokkos, am Meer, und die Vegetation bestand aus primitiven Nadelbäumen. Die Biosphäre ist in einem ständigen Wandel: Die Kontinente driften, das Klima erwärmt sich oder kühlt ab, die Arten kommen und gehen. Da war noch nicht einmal eine Ahnung eines menschenähnlichen Wesens.
Wir Menschen gehören zu den Primaten, einer Ordnung der Säugetiere, die sich dem Leben in den Bäumen angepasst hatte. Die ersten bekannten Primaten hatten die Grösse eines kleinen Eichhörnchens und lebten vor ungefähr 55 Millionen Jahren. In jenen Zeiten waren die Dinosaurier schon verschwunden und die Erde war warm und feucht und mit riesigen Wäldern bedeckt.
Es lebten auch andere Säugetiere auf dem Boden, und einige wurden gross und gefährlich. Aber in den Baumwipfeln übernahmen die Primaten die Herrschaft. Die Bäume schützten sie vor den Gefahren am Boden und ernährten sie. Im Lauf der Zeit passten sie ihren Körper dem Leben in den Bäumen an: Sie entwickelten ein vertikales Rückgrat, das lang und biegsam ist; Schulterblätter für eine weite Öffnung der Arme; verlängerte Gliedmassen, bewegliche Gelenke und an den Händen drehbare Daumen; lange und sensible Finger, die schnell und präzise nach Ästen greifen können; und Nägel statt Krallen, was eine grössere Sensibilität erlaubt.
Primaten haben ihre Augen auf der Vorderseite statt auf der Seite des Kopfes, sodass sie Reliefs präzise abschätzen können: Für Tiere, die von Ast zu Ast springen, ist es nötig, Distanzen genau zu erfassen. So hat sich unsere dreidimensionale Sicht entwickelt. Ein Vierbeiner am Boden bewegt sich in zwei, ein Primat in drei Dimensionen. Auf Bäumen zu leben, ist komplexer und gefährlicher, es schärft die Sinne und macht wachsam. Deshalb haben Primaten im Vergleich zu ihrem Körper grosse Gehirne.
Die ersten menschenähnlichen Affen sind vor etwa 25 Millionen Jahren in Afrika aufgetaucht. Einige von ihnen fingen an, sich unterhalb der Äste fortzubewegen, an den Armen hängend, mit dem Körper in der Vertikalen. Das war der Beginn des Gangs auf zwei Beinen. Als Afrika einige Millionen Jahre später austrocknete und die feuchten Wälder der Savanne Platz machten, wagten sich gewisse Primaten auf den Boden. Die Anfänge des aufrechten Gangs bleiben mysteriös. Aber es waren die ersten Schritte, die uns von den Bäumen entfernten. Alle heutigen Primaten wie Gorillas und Bonobos können auf zwei Füssen gehen.
Die grossen Tiere lebten am Boden: Hyänen, Löwen und Säbelzahntiger. Da war es nützlich, auf Bäume klettern zu können. Die ersten Arten des Homo kletterten noch immer auf Bäume, um Früchte zu pflücken, Honig zu sammeln oder Schutz zu suchen. Und die Bäume blieben wichtig im Alltag für die Herstellung von Waffen und Werkzeugen. Eine der menschlichen Eigenarten ist das Feuermachen: Das Holz der Bäume wärmt uns seit unseren Anfängen.
Dann, vor 200 000 Jahren, durchtrennte der moderne Mensch, Homo sapiens sapiens, die Nabelschnur, die ihn mit den Bäumen verband. Er fand neue Möglichkeiten, sich zu ernähren und zu schützen. Erst vor 500 bis 600 Generationen haben wir angefangen, Bäume durch eigene Kulturen zu ersetzen. Indem wir Landwirte wurden, entwickelten wir uns zu Baumjägern.
Vor 20 000 Jahren gab es hier in der Schweiz keine Wälder. Es herrschte die letzte grosse Eiszeit. An bestimmten Stellen des hiesigen Hochplateaus lag eine 300 Meter dicke Eisschicht. Es gab sehr wenige Bäume. Die eisfreien Orte waren Mammutsteppen: kalt, trocken, von Gras bedeckt, mit einigen Wäldchen aus Zwergbirken.Das Eis in Europa fing erst vor 16 000 Jahren an zu schmelzen. Nach und nach kehrten die Laubbäume, die Bäume mit fallendem Laub, aus ihrem Exil im Mittleren Osten zurück und breiteten sich nach Norden aus. Dank der Klimaerwärmung wuchsen die heutigen Wälder heran. Zunächst kamen die mediterranen Olivenbäume und Eichen zurück, dann Wacholder, Weiden und Birken. Die Laubbäume rückten mit einer Geschwindigkeit von rund einem Kilometer im Jahr nach Norden vor, vom Mittelmeer bis nach Skandinavien. Der hiesige Wald ist also sehr jung, nicht mehr als 10 000 Jahre alt.
Im Vergleich dazu wurde die Entwicklung des Amazonaswaldes seit mindestens 65 Millionen Jahren nicht mehr durch Eiszeiten oder andere traumatische Ereignisse unterbrochen. Im Amazonasgebiet hat die stupende Vielfalt des Lebens mindestens 6000-mal mehr Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Wer also den Wald wirklich verstehen will, muss sich mit dem Tropenwald vertraut machen.
Vor 10 000 Jahren erzeugte der junge Wald in Europa Böden, die sich für die Landwirtschaft und die Viehzucht eigneten. Das gefallene Laub verwandelte sich in Humus. Vor 8000 Jahren stand alles bereit, und der europäische Wald glich dem heutigen. Dann kamen vor etwa 7000 Jahren die ackerbauenden Völker aus dem Orient und begannen mit Steinäxten zu entwalden. Dieser Prozess wurde durch die Erfindung von Metalläxten vor 4000 Jahren beschleunigt. Die unerbittliche Entwaldung Europas hat sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fortgesetzt.
Das englische forest (Wald) kommt vom lateinischen foris, was aussen heisst, ausserhalb der menschlichen Welt. Die europäischen Sprachen trennen das Menschliche von der Natur und insbesondere vom Wald. Von der Kultur wird erwartet, dass sie uns von der Natur unterscheidet. Aber der erste Sinn des Wortes «Kultur» ist das «Tun, die Erde zu bebauen». Davon zeugt der Begriff der «Agrikultur».
Und man kann den Boden nicht bebauen, ohne ihn zuvor gerodet zu haben. Kultur setzt also Abholzung voraus: Wir haben unsere Gesellschaften und Kulturen in Opposition zu den Bäumen gebaut. Das lateinische Wort für Wald ist übrigens silva, das in vielen Sprachen, auch in französisch, dem Wort wild zugrunde liegt (sauvage, savage, ital. selvatico).
Aber das Leben ist voller Paradoxe, und die Menschen haben die Bäume angebetet, während sie sie geschlagen haben. Die Bäume stehen im Mittelpunkt unzähliger Kosmologien: Man betrachte nur die Genesis, Kapitel 2 und 3, oder den Baum des Lebens, des Wissens um Gut und Böse in der Mitte des Gartens Eden: Seine Früchte öffneten die Augen der ersten Menschen und erlaubten es ihnen, das Leben wie Götter zu betrachten.
Weil ein Baum Wurzeln hat, die in den Boden eintauchen, und Äste, die in den Himmel reichen, ist er das universale Symbol für den Austausch zwischen Erde und Himmel. Tatsächlich ist der Baum der Welt ein Synonym für die Achse der Welt (axis mundi): Die kosmische Kette der Kelten zeigt das ebenso wie die Esche Yggdrasil in Skandinavien, der Olivenbaum im islamischen Orient und der Baum von Bodhi, unter dem Buddha Erleuchtung erlangte.
Die Bäume verlieren ihre Blätter und verwerten sie wieder. Sie symbolisieren den Kreis von Leben und Tod. Bäume haben ein langes Leben: Die meisten überdauern Jahrhunderte, einige leben länger als tausend Jahre und erlangen sogar eine Form der Unsterblichkeit über die Triebe, die sie setzen. Die Bäume befehlen die Zeit.
Die Mehrzahl der Bäume sind keine Einzelgänger, sondern siedeln in Kolonien. Aber ihre Knospen sind sozusagen eigenständige Pflanzen. Man kann einen Baum teilen, ohne dass er stirbt, was im Widerspruch steht zum Konzept des Individuums. Der Baum ist ein zwiespältiges, ein zugleich einzelnes und kollektives Wesen. Von allen Lebewesen sind die Bäume die grössten, die schwersten, die am längsten leben und sich – obwohl am Boden festgemacht – den Wolken am meisten nähern.
Wir pflegen eine Hassliebe zu den Bäumen. In junger Zeit haben wir begonnen, sie in kontinentalen Dimensionen umzulegen – während wir fortfuhren, sie zu verehren. Darin steckt eine vater- oder muttermörderische Komponente. Der Homo sapiens hat erst seine Nabelschnur zu den Bäumen zerschnitten, dann schnitt er die Bäume selbst ab. Glücklicherweise ist es noch nicht zu spät und wir haben noch nicht alle Bäume des Planeten gefällt. Die Bäume haben uns geformt. Und sie erneuern die Luft, die wir atmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir ohne sie nicht auskommen und dass eine Welt ohne Bäume eine Welt ohne uns wäre.