In der Atomruine Fukushima Daiichi soll der cold shutdown gelungen sein, die kontrollierte Abschaltung. Doch der Begriff trügt: Die Situation ist nicht unter Kontrolle. Eine Untersuchungskommission fordert, dem Betreiber TEPCO die Aufsicht über die Ruine zu entziehen.
In der Atomruine Fukushima Daiichi soll der cold shutdown gelungen sein, die kontrollierte Abschaltung. Doch der Begriff trügt: Die Situation ist nicht unter Kontrolle. Eine Untersuchungskommission fordert, dem Betreiber TEPCO die Aufsicht über die Ruine zu entziehen.
16. Dez 2011: Ein Greenpeace Aktivist demonstriert in Tokyo gegen den von der Regierung verkündeten «cold shutdown».
© Reuters
Seit dem 24. März 2011 arbeitet eine unabhängige Kommission daran, den Hergang der Katastrophe von Fukushima aufzuklären. Sie wird vom früheren japanischen Premierminister Yukio Hatoyama geleitet und soll auch den derzeitigen Zustand der Reaktoren untersuchen.
Zusammen mit seinem Kollegen Tomoyuki Taira hat Hatoyama jetzt einen Kommentar im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht. Darin fordert er, dem Betreiber TEPCO die Aufsicht über die Atomruinen zu entziehen. TEPCO kann viele Fragen nicht beantworten. Mehr noch: Es entsteht der Eindruck, Aufklärung sei gar nicht gewünscht.
So konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden, ob es zu erneuten Kettenreaktionen gekommen ist, ob sich also das atomare Feuer zeitweise unkontrolliert wieder gezündet hat. Die Kontrolle der Reaktivität ist aber das erste von drei wesentlichen Schutzzielen in der Reaktorsicherheit, das hier in Frage steht.
Wasserstoff- oder Nuklearexplosion?
Weitere offene Fragen ergeben sich aus dem Befund von Curium 242 (163 Tage Halbwertszeit) und Plutonium 238 (88 Jahre Halbwertszeit). Beide Radionuklide wurden viele Kilometer entfernt gefunden. Kann eine Wasserstoffexplosion diese schweren Partikel so weit schleudern? Und kann sie die enorme Hitze hervorrufen, die das Stahlgerüst auf dem Dach des Reaktors 3 teilweise schmelzen liess? War vielmehr eine nukleare Explosion dafür verantwortlich?
Es ist ein bekanntes Sicherheitsproblem in der Reaktortechnik:
Die Regelstäbe, in gewisser Weise die Bremse des Reaktors, haben einen Schmelzpunkt von 800 bis 1000 Grad Celsius. Diese Bremsstäbe werden im Ernstfall zwischen die Kernbrennstäbe gefahren, um die Kettenreaktion zu unterbrechen und eine Kernschmelze zu verhindern.
Das Hüllenmaterial der Kernbrennstäbe (Zirkalloy) aber schmilzt bei rund 1800 Grad, der Kernbrennstoff Urandioxid bei ca. 2850 Grad. Bei einer Kernschmelze schmilzt also zuerst die Bremse. Wird der Reaktor in dieser Situation wieder mit Wasser geflutet, also auch die Neutronen wieder moderiert, kommt es zu erneuten atomaren Kettenreaktionen und sehr gefährlichen Zuständen.
Was die heftigen Explosionen in Fukushima ausgelöst hat, ist unklar.
Zustand der Kernschmelzen systematisch unterschätzt
März 2011, wenige Tage nach der Explosion: Radioaktiv verseuchter Rauch steigt aus der zerstörten Reaktoranlage auf.
© TEPCO
Wir erinnern uns an die Horrormeldungen aus Fukushima: In den ersten Tagen der Katastrophe wurde noch genau angegeben wie hoch der Wasserstand in den einzelnen Reaktordruckbehältern war, wie viel von den Brennstäben mit Wasser bedeckt war und wie viel aus dem Wasser ragte. Im Juni ging man dann in einem Bericht an die IAEO davon aus, dass zwar die Brennstäbe geschmolzen waren, sich aber der Kernbrennstoff im Wesentlichen noch im Reaktordruckbehälter befand.
Neuere Simulationen, die im November veröffentlicht wurden, legen eine viel weitergehende Kernschmelze nahe als bis dahin angenommen. So ist in Reaktor 1 nahezu der gesamte Kernbrennstoff geschmolzen, hat den Reaktordruckbehälter praktisch vollständig verlassen und ist tief in den Beton eingedrungen. Somit sagen auch Temperaturmessungen am leeren Reaktordruckbehälter wenig aus über den Zustand des Kernbrennstoffes.
Doch auch diese Annahme könnte noch zu optimistisch sein. Möglicherweise hat sich der heisse Kernbrennstoff noch tiefer in den Beton eingebrannt als in der Simulation angegeben und Radionuklide können direkt in das Grundwasser gelangen. Den tatsächlichen Zustand des Kernbrennstoffs kennt man nicht.
Wohin mit der kontaminierten Masse?
Auch die Kühlung der Kernschmelze, die immer noch enorme Hitze entwickelt, ist ein massives Problem. Gigantische Mengen von Wasser, die radioaktiv kontaminiert werden, sind erforderlich um diese Kühlung zu gewährleisten. Im Juli hatte eine Wasser-Dekontaminationsanlage den Betrieb aufgenommen, mit einer Kapazität von 40 bis 50 Tonnen Wasser pro Stunde. Zusätzlich dringt aber Grundwasser in die Atomruine, die Wassermenge steigt.
Der Plan, das kontaminierte Wasser einfach ins Meer zu kippen, wurde auch wegen massiver Proteste von Fischereiverbänden vorerst verworfen. Doch die Kapazität der Auffangbehälter von ca. 160.000 Tonnen wird bis März 2012 wohl erschöpft sein. Auch reicht die Fläche auf dem Gelände gar nicht aus, um genügend Behälter aufzustellen.
Für das eigentliche Problem, wie der gesamte Kernbrennstoff entfernt und entsorgt werden könnte, gibt es bisher noch keinen Plan. Jahrzehntelang wird man mit den Problemen der Atomanlagen kämpfen.
Kontrollierte Abschaltung
Die heute von der japanischen Regierung verkündete kontrollierten Abschaltung, ein Zustand der bei nicht zerstörten Anlagen als cold shutdown bezeichnet wird, ist eine Verharmlosung. Betreiber von intakten Atomanlagen würden sich wahrscheinlich verwahren, würde man die Meldung cold shutdown dahingehend deuten, ihre Anlage hätte nun den Zustand von Fukushima Daiichi erreicht.
Die unabhängige Untersuchungskommission unter Yukio Hatoyama spricht sich dafür aus, auch unangenehme Fakten zu nennen, ein unabhängiges Wissenschaftlerteam mit den vielen offenen Fragen zu betrauen und den gefährlichen Optimismus zu überwinden.
Was die Atomkatastrophe für die vielen Menschen bedeutet, deren Leben durch den Super-GAU schlagartig verändert wurde, lässt sich nicht beziffern. Ein schneller weltweiter Atomausstieg sollte die klare Konsequenz sein. Atomenergie hat keine Zukunft, darüber kann auch Zweckoptimismus nicht hinwegtäuschen.
*Heinz Smital ist langjähriger Atomexperte bei Greenpeace Deutschland
Bildgalerie zu den Aufräumarbeiten in Fukushima