Rosmarie Bär hat seit dem Erdgipfel von Rio 1992 an allen internationalen Folgekonferenzen als Vertreterin der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen in der offiziellen Schweizer Delegation teilgenommen. Nach 20 Jahren zieht sie ein ernüchterndes Fazit – ohne aber die Hoffnung aufzugeben.
Von Urs Fitze, Pressebüro Seegrund
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Greenpeace: «The future we want» lautet der Titel des Entwurfs für das Abschlussdokument der UNO-Konferenz Rio+20, die im kommenden Juni, 20 Jahre nach dem Erdgipfel, über die Bühne gehen soll. Was halten Sie von dem Papier?
Rosmarie Bär: Es ist ein klarer Rückschritt, gemessen an den Beschlüssen des Erdgipfels und an dem, was im wahrsten Sinne des Wortes notwendig wäre. Man bleibt im Unverbindlichen. Es gibt keine konkreten Lösungsvorschläge, nur vage Absichtserklärungen und Appelle. Menschenrechte und soziale Fragen sind nur noch am Rande vermerkt. Das «unverträgliche Konsum- und Produktionsverhalten, vor allem der Industriestaaten», wie es in der Agenda 21 hiess, wird nicht in Frage gestellt. Dabei sollte es ja um die Leitlinien für eine grüne, nachhaltige Wirtschaft gehen.
Und vor 20 Jahren?
Da herrschte eine grosse Aufbruchstimmung. Einmütig wurde die Agenda 21 verabschiedet, das wegweisende Pflichtenheft aller Staaten für das 21. Jahrhundert. Man war sich damals einig, dass Umwelt und Entwicklung zwei Seiten derselben Medaille sind: «Der einzige Weg, der uns eine sichere und blühende Zukunft bescheren kann, besteht darin, Umwelt- und Entwicklungsfragen gleichermassen und miteinander anzugehen. Wir müssen menschliche Grundbedürfnisse befriedigen, den Lebensstandard aller Menschen verbessern und die Ökosysteme wirkungsvoll schützen und verwalten.» Das unterschreibe ich auch heute noch. Aber wir brauchen mehr denn je verpflichtende Massnahmen und keine Schönrederei.
Fragt man heute junge Leute nach der Agenda 21, dann wissen nur die wenigsten etwas damit anzufangen. Wie kann ein so wegweisendes Papier so in Vergessenheit geraten?
Es stimmt. Die Agenda 21 ist zum schubladisierten Papiertiger geworden. Dabei stehen darin konkrete, detaillierte Handlungsanweisungen – etwa, dass jede Gemeinde mit einer lokalen Agenda 21 die Ziele von Rio auf lokaler Ebene umsetzen und jeder Staat einen Rat für Nachhaltigkeit einsetzen soll, der die Politik und die Verwaltung mit Fachwissen unterstützt und Handlungsempfehlungen ausarbeitet. Zahlreiche Länder haben dies auch getan. Globale Verpflichtungen sind nämlich nationale Hausaufgaben. In der Schweiz hingegen verpuffte die Aufbruchstimmung des Jahres 1992 fast so schnell, wie sie aufgekommen war. Sie war ein laues Lüftchen, leider.
Woran lags?
20 Jahre Rio heisst 20 Jahre kollektives Versagen der Politik. Niemand war willens, den versprochenen Paradigmenwechsel einzuleiten. Der Bundesrat hat die nachhaltige Entwicklung nie zur Chefsache gemacht. Er übernahm keine Führungsarbeit und stellte keine entscheidenden Weichen, nicht einmal, als der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. An vielen Orten wurden Aktivitäten entfaltet, aber eine in sich kohärente nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben wir bis heute nicht. Ein Beispiel: Ich war Mitglied des 1998 einberufenen Nachhaltigkeitsrats. Wir hatten kein konkretes Mandat, keine Infrastruktur und schon gar keine finanziellen Mittel. Zwei Jahre später erreichte mich mitten in der Nacht ein Fax: Man danke für den Einsatz, die Aufgaben des Nachhaltigkeitsrats würden künftig in einer Kommission für Raumentwicklung wahrgenommen. Das wars.
Eine nachhaltige Wirtschaft darf nicht weiter wachsen, sie muss in einzelnen Segmenten sogar schrumpfen.
Rio 1992 darf auch als Premiere der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen gelten, die erstmals mit an den Verhandlungstischen sassen. Sie waren seit 1992 an allen einschlägigen Konferenzen dabei. Was hat das Engagement der Nichtregierungsorganisationen gebracht?
Meine Bilanz ist überwiegend positiv. Die VertreterInnen der Zivilgesellschaft sind von der internationalen Bühne nicht mehr wegzudenken. Sie haben mit fundiertem Sachwissen wichtige Impulse gesetzt und hartnäckig ihre Positionen vertreten. Die Agenda 21 anerkennt etwa erstmals die überragende Rolle der Frauen. Das wäre ohne die hartnäckige Arbeit der Frauenorganisationen sicher nicht passiert. Und wenn wir von der Schweiz reden: An den Umwelt- und Entwicklungsorganisationen liegt es nicht, dass die Agenda 21 so wenig ernst genommen wurde. Wir waren es, die in den letzten 20 Jahren die Fahne der nachhaltigen Entwicklung hochgehalten haben.
Haben die Organisationen auch selbst profitiert?
Sie sind professioneller geworden und haben sich international stärker vernetzt, auch zwischen Süd und Nord. Das war ein wichtiger Schritt, um mehr Einfluss zu gewinnen. Dass damit die latente Gefahr besteht, den Kontakt zur eigenen Basis zu Hause zu verlieren, liegt in der Natur der Sache. Es ist deshalb unabdingbar, stets mit beiden Füssen auch auf dem Boden der Basis zu bleiben. Das gilt für alle Funktionsebenen der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen. Es braucht heute beide: die Profis mit ihrer Dossier- und Sachkenntnis und die Engagierten, die AktivistInnen, die Ehrenamtlichen, die jede Nichtregierungsorganisation erst glaubwürdig zur Vertreterin der Zivilgesellschaft machen.
In der Schweiz wird diese Legitimität immer wieder angezweifelt, jüngst mit den Kampagnen gegen das Verbandsbeschwerderecht.
Da bin ich gelassen. Die Erfolgsbilanz der eingereichten Beschwerden zeigt, wie verantwortungsvoll die NGOs mit dem Instrument umgehen.
Umgekehrt suchen manche Nichtregierungsorganisationen die Nähe zu Wirtschaft und Politik, runde Tische werden gegründet, um kleine Verbesserungen in einzelnen Sachfragen zu erreichen. Das könnte man durchaus als sinnvolle Fortsetzung des Engagements bei internationalen Konferenzen interpretieren. Was halten Sie davon?
Ich bin nicht begeistert – schon gar nicht, wenn mit einzelnen Unternehmen kooperiert wird. Die Gefahr, zum «Gütesiegel» von Greenwashing zu werden, ist zu gross. Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit, unser wichtigstes Kapital, stehen auf dem Spiel. Wie will man einen Konzern, mit dem man eben noch gemeinsame Sache gemacht hat, glaubwürdig kritisieren, wenn es darauf ankommt?
Dasselbe liesse sich doch auch hinsichtlich der Teilnahme an grossen Konferenzen sagen.
Nein. Da haben die Nichtregierungsorganisationen ja Beobachterstatus. Sie machen Lobby- und Überzeugungsarbeit und präsentieren eigene Positionen. Sie reden mit, sie können aber nicht mitentscheiden. Das bewahrt ihnen jede Freiheit zur Kritik, die absolut unabdingbar ist und bleibt, gerade angesichts der aktuellen Entwicklung.
Sie ziehen 20 Jahre nach Rio eine ernüchternde Bilanz: Die damaligen Ziele sind nicht nur deutlich verfehlt worden, sondern stehen teilweise gar nicht mehr im Fokus. Wie sollen sich Nichtregierungsorganisationen künftig an internationalen Konferenzen verhalten?
Das Wichtigste ist, mit einer Stimme zu sprechen. Die Wirtschaftslobby hat längst Position bezogen zu Rio+20, um den Privatsektor schon im Vorfeld ins grüne Licht zu rücken. Hier braucht es eine Gegenstimme, die sich deutlich und mit klaren Zielsetzungen zu Wort meldet. Das schaffen die Umwelt- und Entwicklungsorganisationen nur, wenn sie geschlossen auftreten.
Und inhaltlich?
Der vorliegende Textentwurf ist in dieser Form indiskutabel. Für solche Allgemeinplätze braucht es keine neue Konferenz. Die Nichtregierungsorganisationen sollten in Rio der Staatengemeinschaft und ihren Regierungen zu Hause einen Gegenentwurf vorlegen, der die Lebensgrundlagen schützt und die Basis für eine gemeinsame Zukunft der Menschheit bildet.
Selbst dann: Wird das genug sein?
Nein. So wie heute über grüne Wirtschaft geredet wird, muss zwangsläufig der Eindruck entstehen, man könne mit neuen Technologien und mehr Effizienz nicht nur unsere Probleme lösen, sondern auch noch stattliche Wachstumsraten erzielen. Das ist schlicht nicht möglich. Es gibt eine einfache Wahrheit, die auch mit dem Adjektiv «grün» nicht umzustossen ist: In einer begrenzten Welt ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich. Unsere Erde ist ein begrenzter Raum. Der Boden und die nicht erneuerbaren Ressourcen wachsen nicht nach. Die Biosphäre kann nicht endlos Schadstoffe aufnehmen. Wir müssen also Klartext reden, auch wenn das niemand hören will: Eine nachhaltige, die Lebensgrundlagen sichernde Wirtschaft darf nicht weiter wachsen, sie muss in einzelnen Segmenten sogar schrumpfen.
Das heisst, die Grenzen des Wachstums sind erreicht?
Am Eingang des Apollo-Tempels in Delphi steht: «Von nichts zu viel.» Das ist wohl die erste bekannte Definition von Suffizienz. Diesen Begriff fürchten die Politik und leider auch viele Umwelt- und Entwicklungsorganisationen wie der Teufel das Weihwasser. Sie haben Angst, als Verzichtsmuffel und Gürtel-enger-schnallen-Apostel abgestempelt zu werden. Aber Suffizienz heisst nicht Verzicht. Es ist eine «Ökonomie des Genug». Ein bedenkenswerter Vorschlag kommt aus Sri Lanka von Mohan Munasinghe, dem Vizepräsidenten des Weltklimarats. Er empfiehlt, sich auf die 1,4 Milliarden Menschen zu konzentrieren, die das reichste Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen. Sie verbrauchen vier Fünftel der Produkte – das Sechzigfache dessen, was das ärmste Fünftel der Menschheit zur Verfügung hat. Das heisst: Bei uns machen schon kleine Einsparungen einen grossen Unterschied. Es geht um Gerechtigkeit jenseits von Wachstum. Bedingungen und Möglichkeiten einer Wirtschaft nach dem Wachstum sind jetzt auszuloten. Das ist die grosse Herausforderung des 21. Jahrhunderts.
Das klingt angesichts der vorherrschenden Meinung wenig hoffnungsvoll.
Hoffnung, schrieb Vaclav Havel, sei die Fähigkeit, für das Gelingen einer Sache zu arbeiten in der Gewissheit, dass etwas einen guten Sinn hat, egal wie es am Ende ausgeht. Diese Hoffnung allein sei es, die uns die Kraft gebe, zu leben und Neues zu wagen, selbst unter Bedingungen, die uns vollkommen hoffnungslos erscheinen. Das gilt für alle Menschen, auch für mich, die ich jetzt im Ruhegang bin.
Zur Person: Rosmarie Bär, Jahrgang 1947, war von 1996 bis 2010 Koordinatorin für Entwicklungspolitik bei Alliance Sud und verantwortlich für das Dossier Nachhaltige Entwicklung. Von 1987 bis 1995 sass sie für die Grünen im Nationalrat.