Die Schiffsuhr zeigt drei Uhr nachts. Trotzdem drängeln die Teilnehmer der Expeditionstour auf die Brücke und die Aussendecks, halb noch im Pyjama, halb schon in hastig übergeworfene Winterkleider gehüllt. Sonnenbrillen verdecken die noch verschlafenen Augen – die Mitternachtssonne steht hoch über dem dichten Treibeis am wolkenlosen Himmel über dem Nordpolarmeer. Was ist geschehen?

Von Peter Balwin


Grönlandwale beschnuppern einander, Baffininsel, Kanada.
© Flip Nicklin / Getty Images

 

Jemand hat einen Wal gesichtet, einen der hier vor Spitzbergen seltenen Grönlandwale. «Dort taucht er auf!», ruft jemand begeistert in die gleissend helle nächtliche Stille. Obwohl alle sofort in die gleiche Richtung blicken, ist der V-förmige Blas des mächtigen, gegen 19 Meter langen Meeressäugers schon fast verhaucht. Aber dann taucht sein riesiger Rücken auf.

«Der Grönlandwal ist eines der wunderbarsten Tiere der Welt», schrieb Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts in sein Tagebuch. Und erst sein Lebensraum: spektakulär, unvergesslich schön, vergänglich – das Treibeis im Arktischen Ozean. Eine atemberaubende Mischung aus blendendem Weiss und urweltlicher Ruhe. Während sich andere nordische Walarten für die Wintermonate in die Subtropen absetzen, bleibt der Grönlandwal der Kälte und dem Eis treu: Er hält sich das ganze Jahr über im vereisten Nordpolarmeer auf.

Während es dieser Walart dank Schutzmassnahmen wieder besser geht, verändert sich die Umwelt drastisch. Das Meereis taut auf, ohne das der Grönlandwal und zahlreiche weitere Säugetierarten der Arktis verloren sind.

«Und – wie war es? Merkst du schon etwas? Schmilzt das Eis?», so lauten neuerdings die Fragen in meinem Bekanntenkreis, wenn ich am Ende des Sommers aus der Arktis nach Hause zurückkehre. Das Interesse am Nordpolargebiet ist gestiegen – oder besser: Die Sorge ist gewachsen um diesen einzigartigen, fragilen Lebensraum am nördlichen Ende der Welt.

Und wie das Eis schmilzt! Messreihen aus unterschiedlichen Wissenszweigen verdeutlichen, wie dramatisch und schnell sich das Nordpolargebiet wegen der Klimaerwärmung verändert. Ein paar Beispiele:

  • Mitte September 2012 waren bloss noch 3,4 Millionen Quadratkilometer des Nordpolarmeers mit Eis bedeckt. Das ist absoluter Minusrekord – bisher. In wenigen Jahrzehnten könnte das Nordpolarmeer im Sommer eisfrei sein.
  • Die Fläche des Meereises wird ständig geringer, das Eis dünner. Betrug die durchschnittliche Dicke der Eisdecke über dem Arktischen Ozean 1980 noch 3,64 Meter, wird sie für 2008 mit 1,89 Metern angegeben: eine Abnahme um gut die Hälfte.
  • In den letzten Jahrzehnten lagen die Sommertemperaturen in der Arktis höher als jemals zuvor in den vergangenen 2000 Jahren.

Die Liste erschreckender Tatsachen aus der Arktis liesse sich problemlos verlängern. Nicht nur das Packeis des Meeres und die Gletscher schmelzen, auch die Permafrostböden tauen auf. Tauperioden unterbrechen die Winterkälte. Und Winde, Flüsse und Meeresströmungen transportieren tonnenweise Schadstoffe wie Blei, Quecksilber, DDT und andere Pestizide oder PCB aus unseren Breiten in die Arktis. Die gesamte Nahrungspyramide ist von diesem Chemiecocktail hochgradig betroffen. 

Rund 20 000 Eisbären sind gefährdet

Wenn das Meereis wegschmilzt, leiden die Tiere. Im Ozean wie auch an Land geraten Fische, Meeres- und Landsäugetiere in Bedrängnis. Das arktische Ökosystem hat sich bereits dramatisch verändert; das Schmelzen des Packeises ist bloss die augenfälligste Variante. Fast wöchentlich publizieren Naturwissenschafter neue Befunde zum (schlechten) Zustand der Arktis. Sie belegen vor allem eines: Die Klimaerwärmung hat das Leben rund um den Nordpol schon gehörig aus dem Lot gebracht.

Einer, den die Erderwärmung am stärksten trifft, ist der Eisbär. 20 000 bis 25 000 Exemplare sind rund um den Nordpol zu Hause. Das Meereis ist ihr Leben, hier finden sie Beute (vor allem Bart- und Ringelrobben), hier treffen sie paarungswillige Partner (ohne Packeis keine Paarung), hier wandert der König der Arktis bis 7100 Kilometer pro Jahr durch sein Reich.


Magere Beute: Bleiben die Robben aus, muss sich der Eisbär mit Vogeleiern begnügen.
© Polarnews

Je länger das Meer eisfrei bleibt, desto geringer sind die Chancen, die benötigte Menge Robben zu erbeuten. Trächtigen Weibchen gelingt es dann nicht mehr rechtzeitig, sich eine Fettreserve anzufressen, bevor sie sich Anfang Winter zum Gebären in eine Schneehöhle zurückziehen. Das hat nachweislich bereits zu einer verringerten Reproduktion bei den Eisbären der südlichen Beaufortsee vor Alaska sowie zu einer Abnahme der Population in der westlichen Hudson Bay in Kanada geführt. Auch die Erreichbarkeit geeigneter Gebiete steht auf dem Spiel, denn nicht überall ermöglichen es Terrain und Schneeverfrachtung den Bärenweibchen, stabile Wurfhöhlen in Schneewehen anzulegen. Der Abstand zwischen dem Südrand des Packeises und den Gebieten mit Wurfhöhlen an Land wächst. Russische Wissenschafter berichten von den Nordküsten Sibiriens, dass sich das Meereis im Sommer viel weiter nach Norden zurückzieht als bisher: Die Eisgrenze erreicht bereits den 82. Breitengrad und ist damit weiter von den Küsten entfernt als je zuvor. Irgendwann wird die offene Wasserfläche zwischen Eisrand und Festland für die Bären zu breit sein, mögen sie noch so gute Schwimmer sein. Dann werden sie Anfang Winter ihr Wurfhöhlengebiet an der Küste nicht mehr erreichen.

Die zunehmend eisfreien Sommermonate machen den Eisbären in Svalbard auf Spitzbergen ebenfalls zu schaffen. Im Sommer an Land gestrandet, bleibt ihnen nichts anderes, als sich zum Beispiel an dort brütenden Weisswangengänsen gütlich zu tun. Dank rigoroser Naturschutzmassnahmen in den letzten sechzig Jahren hat die Population dieser Gans von 300 auf 30 000 zugenommen. Die hungrigen Bären machen diesen Erfolg jetzt zunichte. So beobachteten niederländische Forscher, wie ein Eisbär in einem Aufwasch gleich tausend Gänseeier verzehrte. Von 500 Nestern im Gebiet verzeichneten nur 40 einen Bruterfolg.


Imponiergehabe: Ein bedrohter Stellerscher Seelöwe sonnt sich nahe Dutch Harbor auf Unalaska Island.
© Jiri Rezac / Greenpeace

In solch kargen Zeiten, welche die warmen Arktissommer den Eisbären bescheren, kommen auch Seetang an der Küste, andere pflanzliche Nahrung, aber auch Tierkadaver oder Vogelküken auf den Speiseplan. Das ist traurig. Denn wenn man weiss, dass ein Durchschnittseisbär mit einer einzigen Mahlzeit gegen 20 Prozent seines Körpergewichts aufnehmen kann (für uns Menschen entspricht das einem Mittagessen von 15 Kilo), ist klar, dass Probleme programmiert sind. Der grosse Magen knurrt, wenn die Robben im Sommer knapp sind, und der Eisbär – das grösste Landraubtier der Erde – seinen Hunger mit Amuse-Bouches zu stillen versucht. Statt sich Reserven für den Winter anzufressen, zehren die Bären von den körpereigenen Fettvorräten. Solchen Tieren begegnet man in der sommerlichen Tundra von Spitzbergen. Ihr Fell wirkt schmutzig, der Körper mager. Sie sind ausgezehrt und hungrig. Ihr Zustand erhöht die Gefahr bei einem Zusammentreffen mit Menschen, die immer zahlreicher als Touristen in die Arktis reisen.

Im Körperfett der Eisbären lagern sich auch Schadstoffe der Chemiedusche ab, welche die Arktis aus der bewohnten Welt erreicht. Wenn Eisbären wegen der Klimaerwärmung über immer längere Perioden fasten, belasten sie sich mit langlebigen organischen Schadstoffen, die aus dem Fettgewebe freigesetzt werden. Der König der Arktis vergiftet sich von innen. 


Mit der Eisschmelze schwindet ihr Territorium: Eisbären in Nordalaska spielen vor den Überbleibseln eines Wals.
© Bernd Roemmelt / Greenpeace

Mächtige Firmen stampfen in aller Stille Abbauprojekte aus dem Boden

Was die Tiere der Arktis in ihrer Existenz bedroht, lockt und freut die Industrie, allen voran die Erdölindustrie. Das schmelzende Meereis macht Gebiete zugänglich, in denen Rohstoffe vermutet werden. Laut jüngsten Schätzungen lassen sich über ein Fünftel der noch unentdeckten Ölvorkommen der Erde in der Arktis finden. Sollte das Nordpolarmeer im Sommer bald eisfrei sein, wie es Klimamodelle vorhersagen, wird die Ausbeutung arktischer Ressourcen im grossen Stil angegangen. Eine solche Entwicklung fügt der Bedrohung arktischer Tiere und Pflanzen durch die Klimaerwärmung weitere Komponenten hinzu: Schiffsverkehr, Verschmutzung, Lärm, seismische Aktivität, Infrastruktur etc. Schon heute berichten Forscher von Konflikten, zum Beispiel in Alaska. Dort überlappt sich das Verbreitungsgebiet der Eisbären mit geplanten und bereits aktiven Öl- und Gasförderprojekten in einer vierzig Kilometer breiten Zone entlang der Küste. Damit wächst die Gefahr von Störungen und Ölunfällen.

Die weltweite Verbrennung fossiler Brennstoffe ist massgeblich verantwortlich für die Klimaerwärmung und die Eisschmelze. Weil das Packeis schwindet, können noch mehr fossile Energiequellen ausgebeutet werden: ein Teufelskreis.


Meereis-Bedeckung am 6. August 2012 im Vergleich zu den Vorjahren. Die rote Linie zeigt den Mittelwert der Eisausdehnung der Jahre 1992 bis 2006 im August.
© UHH / Klimacampus / Kaleschke

In aller Stille stampfen mächtige Firmen grosse Abbauprojekte aus dem arktischen Boden. Passend dazu bauen Schiffswerften eisbrechende Containerschiffe und Tanker. In der russischen Petschorasee zum Beispiel, einem Randmeer der Barentssee an der russischen Eismeerküste, bringen Tanker das Rohöl vom Verladeterminal Varanday in die arktische Hafenstadt Murmansk – erstmals ohne die Hilfe von Eisbrechern, denn die Tanker können Meereis bis zu einer Dicke von 1,5 Metern selber durchpflügen. Durch die weiter östlich und nördlich gelegene Karasee verkehren bereits eisbrechende Containerschiffe – ganzjährig.

Nicht nur neue Schiffstypen rollen vom Stapel, es bieten sich dank dem schwindenden arktischen Meereis auch neue, spektakuläre Routen für die kommerzielle Schifffahrt an. Eine davon, die rund 4700 Kilometer lange Nordostpassage entlang der Nordküste Eurasiens, führt von Nordeuropa über Sibirien nach Japan. Sie lässt die Herzen von Öltankerkapitänen und Containerschiffsleuten höherschlagen. Schon haben erste Handelsschiffe die bedeutsame Abkürzung durch arktische Gewässer gewählt – und der Verkehr wird zunehmen. Im August 2011 durchfuhr der erste Supertanker die gesamte Nordostpassage, immerhin ein Schiff von 280 Metern Länge. «Dank der Nordostpassage ist die Arktis zur führenden wirtschaftlichen Region Russlands geworden», stellte der vor zwei Jahren verstorbene Wirtschaftswissenschafter Alexander Granberg bereits 2004 an einem Workshop zum arktischen Seetransportgeschäft fest. «Die Arktis», sagte Granberg voraus, «wird sich schneller entwickeln als der ganze Rest Russlands.» Etwa 80 Prozent des Erdöls und 99 Prozent des Erdgases, das bisher in der Arktis gefördert wurde, stammen aus Russland.

Die Nordostpassage ist heute schon während 20 bis 30 Tagen pro Jahr befahrbar und die Prognosen versprechen eine schiffbare Saison von 100 Tagen in naher Zukunft. Prompt weisen russische Wissenschafter darauf hin, dass die zunehmende Beliebtheit dieser Transitstrecke heute bereits die stärkste Störung für die Eisbären der russischen Arktis ist – ganz zu schweigen vom möglichen Desaster eines Tankerunfalls in diesen abgelegenen, biologisch vielfältigen und produktiven Gebieten.

Ähnliches bahnt sich in der kanadischen Arktis an. Mitte September 2012 erhielt die Baffinland Iron Mines Corporation von der Regierung des Territoriums Nunavut nach vierjährigen Verhandlungen grünes Licht, ihr Vier-Milliarden-Dollar-Projekt auf der Baffin-Insel anzugehen. Dort plant die Bergbaufirma, Eisenerze im Tagebau zu fördern und sie auf neun Eisbrecherfrachtern mit je 190 000 Tonnen Ladegewicht das ganze Jahr über durch das seichte Foxe Basin nach Europa zu verschiffen. Der Terminal käme am heute unberührten Steensby Inlet auf etwa 70°30′ nördlicher Breite zu liegen. Für die Eisbrecherflotte wird die Grubenfirma dort 50 Millionen Liter Schiffsdiesel lagern – mitten in einer heute noch unberührten Tundralandschaft. 

Schiffe stören den Aktionsraum der Wale

Das Meeresbecken des Foxe Basin, das jeden Winter zufriert, weist eine vielfältige Tierwelt auf. So etwa suchen weibliche Grönland-wale die Gegend regelmässig auf, um ihre Jungen aufzuziehen – kaum 70 Kilometer von der Frachterroute entfernt. Auch für Narwal und Weisswal/Beluga ist das Foxe Basin ein wichtiger Lebensraum – beide Arten sind sehr empfindlich. Hinzu kommt, dass das Foxe Basin rund 2200 Eisbären beherbergt. Ihr Aktionsraum im Meereis wird durch den winterlichen Schiffsverkehr massiv gestört. 

Angesichts solch unheilvoller Entwicklungen in der Arktis werde ich in Zukunft um eine eindeutige Antwort ringen müssen, wenn mich meine Bekannten fragen: «Und – wie war es im hohen Norden?» Natürlich – überwältigend schön ist es weiterhin in Nunatsiaq, dem schönen Land der Inuit. Doch der Klimawandel hat das arktische Ökosystem im Kern getroffen. 

Peter Balwin bereist die Arktis und die Antarktis seit 18 Sommern regelmässig als Polarreiseleiter auf eisgängigen Schiffen. Auf seinen 83 Fahrten in die kalten Zonen der Erde und auf rund 1800 Exkursionen in der Tundra wurde er Zeuge klimabedingter Veränderungen, auf die er in Vorträgen und Artikeln hinweist.