Das Meereis in der Arktis schmilzt. Jedes Jahr mehr, immer schneller! Altes Eis, das mehrere sommerliche Auftauprozesse unbeschadet «überlebt» hat, wird zur grossen Mangelware. Kleinstorganismen wie Eisalgen darin sind die wahren Überlebenskünstler dieser Welt.
Es beginnt schleichend ab Oktober – jedes Jahr, seit Urzeiten. Die Oberfläche des Meeres um den Nordpol gefriert. Zuerst in windstillen Buchten und Fjorden, dann verwandelt sich das Salzwasser des Arktischen Ozeans in Eis. Rasch wächst der eisige Deckel, gewinnt täglich immens an Fläche und an Dicke, bis das Packeis im März seine grösste Ausdehnung erreicht hat und zu Beginn des kurzen arktischen Frühlings wieder zu schmelzen beginnt. Nur im Zentrum dieses von Kontinentküsten eingefassten, eisig kalten Mittelmeeres trotzt ein grossflächiger Packeisdeckel dem Sommer.
Dieses rhythmische Tauen und Gefrieren, das das Nordpolarmeer seit über 45 Millionen Jahren prägt, verlangt denen enorme Anpassungsfähigkeit ab, die ganzjährig in der Arktis leben: Land- und Meerestieren wie Eisbären, Robben, Algen oder Walen genauso wie den Inuit, Dolganen, Ewenken, Nenzen, Tschuktschen und anderen indigenen Völkern.
Bis zu neun Monate im Jahr ist das eisbedeckte Meer ein wichtiger Bestandteil ihres Alltags. Deshalb hielten sie diesen ständigen Wechsel in Mythen und Aufzeichnungen fest. In Island lässt sich das Verhalten des Eises über tausend Jahre zurückverfolgen. Die russischen Volksstämme an der Barentssee und am Weissen Meer zeichnen seit 500 Jahren auf, was sich vor ihren Küsten abspielt, die Inuit in Westgrönland und im kanadischen Labrador seit 250 Jahren.
Mit der Suche nach dem Nordpol, nach Passagen, Walfanggründen und Ländereien ab dem 16. Jahrhundert nahm nicht nur das kartografische Bild des arktischen Mittelmeers Gestalt an, auch das Meereis rückte erstmals ins Bewusstsein der Mitteleuropäer.
«Wenn sich aber die Winde erheben, so toben die Wellen an den Eisfeldern wie an den Steinklippen und zermalmet das Eis die Schiffe», hielt der Hamburger Schiffsbarbier Friderich Martens im Jahre 1671 die Tücken eines vereisten Meeres fest. Fast zahllos sind aus jener Zeit Schilderungen von Schiffen, die vom Treibeis eingeschlossen, von der Eisdrift tage-, ja monatelang mitgetragen und dann zerdrückt wurden; aber auch von Schiffsmannschaften, die nichts retten konnten ausser dem nackten Leben und vielleicht noch einem Beiboot mit einer Flinte, um sich als Spielball des Treibeises über Presseisrücken und breite Eiskanäle in Richtung Süden durchzuschlagen. Das Schicksal jener Unglücklichen formte das Bild, das sich die europäische Gesellschaft damals vom Packeis im Nordpolarmeer machte: eine unberechenbare Gegend, deren Eismassen Verderben bringen.
Im 19. Jahrhundert verdichtete sich das wissenschaftliche Interesse am Packeis der Arktis. Schon lange hatten Walfänger, Entdecker und andere Nordlandfahrer von den weiten Eisfeldern, den Strömungsverhältnissen und den Eigenheiten aus jener weissen Wüste berichtet. Unerklärliches Strandgut aus Grönland war der Auslöser für eine der gewagtesten Unternehmungen im Packeis.
Suche nach der Eisdrift
Als der amerikanische Matrose Louis P. Noros vor dem Start einer Schiffsexpedition ins Packeis seine Polarkleidung beschriftete, konnte er nicht ahnen, dass seine Ölhosen ein paar Jahre später als Beweisstück für die Eisdrift dienen würden. Drei Jahre waren vergangen seit dem Untergang der «Jeannette» im Juni 1881 bei den Neusibirischen Inseln. Die Weltöffentlichkeit hatte den Ausgang von George W. DeLongs Entdeckungsreise ins Eismeer längst vergessen – das vom Packeis zermalmte Schiff, den Hungertod der meisten Schiffbrüchigen.
Der kurze arktische Herbst von 1884 hatte in Julianehåb (heute: Qaqortoq) im Südwesten Grönlands gerade begonnen, als ein paar Inuit am Meeresufer auf Gegenstände stiessen, die sie dem dänischen Gouverneur übergaben: eine Lebensmittelliste mit der Unterschrift DeLongs in einer Proviantkiste und … die Ölhosen des Matrosen Noros mit dem eingenähten Namen.
Wie war es möglich gewesen, dass Dinge, die eindeutig von der «Jeannette» stammten, rund 4600 Kilometer Luftlinie vom Unglücksort entfernt gefunden wurden? Schwindel, Betrug, meinten die einen. Für andere war es ein Beweis für die Eisdrift im Packeis des Nordpolarmeeres. Zufällig fiel der Blick des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen im Herbst 1884 auf eine Notiz im «Morgenbladet», die von diesen Funden berichtete. Bevor Nansen die Zeitung zugeklappt hatte, war sein Plan gefasst: «Konnte eine Eisscholle quer durch das Unbekannte treiben, so musste sich diese ‹Drift› auch im Dienste der Forschung anwenden lassen können», schrieb er Jahre später in seinem dreibändigen Expeditionsbericht. Nansen liess sich die «Fram» bauen, fuhr zu den Neusibirischen Inseln, wo die «Jeannette» 1881 vom Eis zerquetscht worden war, liess sich im September 1893 bewusst im Packeis einschliessen und hoffte auf eine Eisdrift, die ihn und sein Schiff via Nordpol nach Grönland tragen würde. Die «Fram» blieb über tausend Tage im Meereis festgefroren, bevor sie im August 1896 bei Spitzbergen wieder offenes Wasser erreichte. Die Strömung hatte das Schiff jedoch nicht in die Nähe des Nordpols getrieben, sondern im Uhrzeigersinn um den Pol herum – auch dies war damals eine neue Erkenntnis, die mit anderen Forschungsergebnissen der «Fram»-Reise das Wissen über das Packeis revolutionierte.
Heute, gut 120 Jahre nach den gewagten Unternehmen von Nansen und vielen anderen Polarforschern, sind die grundlegenden Prozesse rund ums arktische Meereis bis ins Detail erforscht – und faszinierender denn je.
Die weisse Wüste lebt!
Nur schon das Zufrieren des Nordpolarmeeres ist höchst spannend. Fällt die Temperatur des Oberflächenwassers auf unter minus 1,8 Grad, gefrieren die Süsswasserpartikel im salzhaltigen Meer. Sie bilden winzige Süsswasser-Eiskristalle, die sich in bewegtem Wasser zu Körncheneis, in ruhigerem Wasser zu Säuleneis verdichten. Bald überzieht ein dezimeterdicker Eisbrei das Meer. Der nicht gefrierende salzhaltige Anteil des Meerwassers wird zusammengedrängt zu einer stark konzentrierten Salzlauge, die in der Eisschicht kleine Kanälchen bildet. Solche Solekanäle durchziehen das Meereis in einem endlos scheinenden Labyrinth, dessen Volumen über 30 Prozent einer Eisscholle ausmachen kann. Im Winter sinkt die Temperatur in diesem Hohlraumsystem innerhalb der Eisschollen bis auf unter minus 20 Grad und die Salzkonzentration erreicht mehr als sechsmal so hohe Werte wie im Meerwasser. Trotzdem sind die Solekanäle voller Leben! Winzigen Organismen gefällt das Dasein in einer derart hoch konzentrierten, stockdunklen Salzbrühe. In diesem Extremlebensraum stösst man auf Eisalgen, aber auch auf Viren, Bakterien und Pilze.
Sogar ein- und mehrzellige Tiere (Proto- und Metazoen) bringen Leben in die Solekanäle. Während das Gros dieser Meereisfauna zwischen 100 und 500 Mikrometer klein ist, bringen es die grössten auf drei Millimeter. Ihre Namen klingen extraterrestrisch: Kammerlinge, Ruderfusskrebschen, Plathelminthen, Räder-, Wimpern- und Nesseltierchen, Borstenwürmer etc.
Lebensraum für solche Winzlinge gibt es genug – allein die Wände der Salzlaugenkanälchen bieten Algen oder Bakterien geradezu an, sich festzusetzen. Forscher haben ausgerechnet, dass jedes Kilogramm Meereis zwischen 0,6 und 4 Quadratmeter solcher eisiger Miniwändchen enthält, an denen sympagische (in Eis lebende) Mikroorganismen wachsen. Und dann erst die Unterseite des Packeises: Wahre Algenteppiche überziehen weite Teile. Während auf dem durchschnittlich 1,8 Meter dicken Packeis gelegentlich ein Eisbär vorbeitapst oder Ringelrobben ihre Geburtshöhlen im Schnee anfertigen, geht es nicht nur im Eis, sondern auch auf dessen Unterseite lebhaft zu und her. Algenteppiche unter dem Packeis sind wahre Paradiese für Flohkrebse (Amphipoden), für junge Polardorsche sowie weitere Mitglieder der Untereis-Lebensgemeinschaft. Sie sind eine wichtige Nahrungsquelle für Robben, Seevögel und Wale.
Die Lebewesen im und unter dem Meereis spielen eine fundamentale Rolle im Nahrungsnetz der Arktis. Ein weiteres Abschmelzen der polaren Eiskappe wird dieses Gefüge durcheinanderbringen und sich in der Nahrungskette bis zu Eisbär, Robbe, Narwal, Beluga und Grönlandwal auswirken.
Wie gross das Algenwachstum in den Solekanälen und an den Schollenunterseiten sein muss, deutet eine Messung in der Framstrasse an. Durch diese Meeresstrasse zwischen Svalbard und Grönland wird strömungsbedingt der grösste Teil des Meereises aus dem Nordpolarmeer abtransportiert – so erklärt sich auch die ständige breite Eiszunge vor der Küste Nordostgrönlands. Meeresforscher berechneten, dass allein durch die Framstrasse jedes Jahr rund 700 000 Tonnen Biomasse in Form von Eisalgen aus dem Polarmeer abdriften.
Neues Leben dank Erwärmung
Was hier vor Ostgrönland als «Verlust» daherkommt, wird andernorts um ein Mehrfaches wieder wettgemacht: Chinesische Wissenschaftler haben kürzlich erstmals die Schmelzwassertümpel im mehrjährigen Packeis des zentralen Nordpolarmeeres untersucht und dabei einen einzigartigen Lebensraum für Eisalgen entdeckt. Solche Tümpel auf dem Eis bilden sich im arktischen Sommer. Sie können bis zu 80 Prozent des Meereises bedecken und bestehen aus Süsswasser, weil die Salzlauge nach unten ins Meerwasser ausgeflossen ist. Das wussten schon die Walfangkapitäne des 16. und 17. Jahrhunderts, die hier die Trinkwasservorräte für ihre Fangflotten nachfüllten.
Die starke Erwärmung des arktischen Klimas führt dazu, dass das mehrjährige Packeis immer dünner wird und Schmelzwassertümpel häufig zu Eislöchern durchschmelzen. Der Kontakt mit dem Meerwasser darunter bewirkt, dass diese Schmelzlöcher einen viel höheren Nährstoffgehalt, also mehr Algenwachstum haben als die Tümpel. Die Produktivität wird damit just in einem Ökosystem mächtig angekurbelt, in dem eine solche zusätzliche Nahrungsquelle willkommen ist: unter den horizontweiten Packeisflächen des mehrjährigen Eises.
Globale Erwärmung als Spielverderber
Doch gerade altes Eis, das mehrere sommerliche Auftauprozesse unbeschadet «überlebt» hat, wird im Nordpolarmeer zur grossen Mangelware. Zu warm ist das Meer geworden – in Teilen der Beaufort-, der Laptew- und der Karasee waren zum Beispiel die Oberflächentemperaturen im August 2012 über zwei Grad höher als im Durchschnitt der Jahre 1982 bis 2006. Liest man in Lexika noch von einer Ausdehnung des Packeises von über 15 Millionen Quadratkilometern im Winter und sieben Millionen Quadratkilometern im Sommer, ist der Kontrast zur Wirklichkeit im Jahr 2012 frappant. Einer relativ guten maximalen Eisausdehnung im März mit 15,24 Millionen Quadratkilometern stand eine extrem verkleinerte Sommer-Meereisfläche im September gegenüber – bloss noch 3,41 Millionen Quadratkilometer! Nie zuvor in der jahrzehntelangen Satellitenüberwachung des Nordpolarmeers ging in einem Sommer derart viel Meereis verloren. Anstatt wie schneebedecktes Packeis gegen 95 Prozent der Wärmestrahlung der Sonne zu reflektieren, nimmt offenes Wasser solche Strahlung auf – was die Eisschmelze ankurbelt. 2012 wurde die zweitkürzeste Schneebedeckung in der Arktis festgestellt. Zunehmend fehlt dem arktischen Meereis somit jene Schneeschicht, die das Eis bisher dank einem hohen Rückstrahlungsfaktor (Albedo) vor zu viel Sonnenlicht geschützt hat. Weil die Schneedecke abnimmt, ist immer mehr Packeis der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt. Das Eis schmilzt schneller.
Während Sie diesen Beitrag lesen, setzt die grosse Eisschmelze wieder ein. Das Packeis des Nordpolarmeers bricht auf. Wind und Strömung schieben Treibeisschollen vor sich her, die immer schneller schmelzen, je näher der Sommer kommt. In wenigen Monaten werden weite Teile des Nordpolarmeers wieder eisfrei sein und es ist zu befürchten, dass auch dieses Jahr das Packeis grossflächiger und schneller auftaut als in den Jahren davor.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen im Greenpeace Magazin 2/2013.