Wenn alle sieben Milliarden Menschen dieser Erde eines schönen Tages beschliessen würden, sich zu versammeln, könnten sie das zum Beispiel in den Kantonen Bern und Aargau tun. Dann hätten immer noch alle einen Quadratmeter Standfläche. Wenn alle so viel konsumieren, wie sie es heute tun, brauchen sie anderthalb Planeten. Würden sie sich dem Konsum-Niveau des Durchschnittsschweizers anpassen, sogar knapp drei Planeten.
Von Thomas Niederberger
> Artikel im lesefreundlichen Magazinformat als PDF downloaden (600KB)
> Weitere Artikel zum Themenschwerpunkt Bevölkerungswachstum
Gemäss aktuellen Studien soll die Weltbevölkerung bis 2050 auf gegen 10 Milliarden wachsen. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft – und damit Konsum und Energieverbrauch vor allem in aufstrebenden Ländern wie China, Brasilien und Indien. Damit steigen die Treibhausgasemissionen und die Klimaveränderung bedroht Siedlungsräume und Landwirtschaft. «Es ist offensichtlich, dass die armen Länder eine Entwicklungschance brauchen, unter anderem um ihr Bevölkerungswachstum zu bremsen. Aber es ist ebenso klar, dass sie dafür nicht auf den gleichen klimaschädlichen Entwicklungsweg geschickt werden dürfen, den die Industrienationen gegangen sind», heisst es in einem Diskussionspapier des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In den Ländern des Südens brauche es darum vor allem Bildung, Armutsbekämpfung und Rechte für die Frauen, um das Bevölkerungswachstum zu bremsen. Die Länder des Nordens hingegen seien gefordert, ihren Verbrauch zu reduzieren. Mit anderen Worten: Es braucht globale Gerechtigkeit. So weit die Ausgangslage. Fragt sich nur, wo anfangen?
«Ein Wertewandel ist feststellbar, aber er verläuft noch viel zu träge. Und über allem hängt die Frage, wer über die Verwendung knapper Ressourcen entscheiden kann.»
Zum Beispiel in Masdar City, einer Stadt in Abu Dhabi, die frisch aus der Wüste gestampft wird. Das Geld dafür riecht stark nach Erdöl. Es gehört einer Fürstenfamilie, die weiss, dass es nicht ewig sprudelt. Masdar ist ihr Versuch, sich für die postfossile Gesellschaft zu positionieren, «geplant, um die höchste Lebensqualität mit dem tiefsten ökologischen Fussabdruck zu ermöglichen – auf eine kommerziell machbare Weise», verspricht die Website. Mit dabei sind weltweit führende Konzerne in den Bereichen Bautechnologie, Transport- und Energiesysteme. Hier betreiben sie Forschung und erproben neue Technologien im 1:1-Massstab. Es geht um den vielleicht wichtigsten Markt der Zukunft: Bereits jetzt leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land, bis 2050 soll ihr Anteil auf zwei Drittel wachsen. Die Konkurrenz ist hart. Auch China setzt auf «grüne» Technologien. Seit 2007 wurde die Produktion von Solarzellen dank strategischer Förderung jährlich verdoppelt und mit Yixing ist ebenfalls eine Ökostadt am Enstehen, in Kooperation mit dem World Business Council for Sustainable Development.
Es braucht die Einsicht und die Beteiligung aller Betroffenen
So wertvoll solche Initiativen für den technologischen Fortschritt sein mögen, sie haben ein Problem: Von autoritären Regierungen angestossen, riskieren sie, an einer Bevölkerung vorbei geplant zu werden, die nichts zu sagen hat. Und mit vereinzelten Leuchtturmprojekten allein lässt sich die grösste Herausforderung – der ökologische Umbau bestehender Städte und Infrastrukturen – nicht bewerkstelligen. Dafür braucht es die Einsicht und die Beteiligung aller Betroffenen.
Ortstermin in Dübendorf. Genauer gesagt, irgendwo im Wachstumsgebiet der «Glatttalstadt» zwischen Überlandstrasse, S-Bahn, Autobahn, einer Tankstelle und einem Autohändler neben Resten von Kuhweiden. Dazwischen steht das Null-Energie-Bürogebäude der Eawag wie ein bläulich schimmernder Kristall. Der direkte Weg von der neuen Haltestelle der Glattalbahn zur Caféteria der Eawag geht über einen Trampelpfad und durch ein Gebüsch. Einige nutzen ihn also schon.
Dr. Dominic Notter ist Forscher an der Empa, die ihre Büros gleich nebenan hat, und Mitautor einer Studie mit dem Titel «Der westliche Lebensstil – ein weiter Weg zur Nachhaltigkeit». Die Empa erforscht neue Technologien und ihre Umweltverträglichkeit, die Studie sei eine Art Nebenprodukt davon, erklärt Notter. «Speziell daran ist, dass wir mit Daten aus einer repräsentativen Umfrage zum Lebensstil der SchweizerInnen arbeiten – und dieser Querschnitt, gemessen am CO2-Ausstoss, entspricht ziemlich genau dem westlichen Lebensstil.» Erfasst wurde das private Konsumverhalten, Wohnen, Mobilität, Ernährung und Recycling. Dabei haben Notter und seine Kollegen eine Entdeckung gemacht: die «Sub-Population n». Das sind 107 Individuen von 3369 Befragten, die mit einem global nachhaltigen Energieverbrauch von rund 2000 Watt auskommen (siehe Kasten «2000-Watt-Gesellschaft» S. 37). Die Sub-Population n ist zu zwei Dritteln weiblich, im Durchschnitt 50 Jahre alt und verdient 34 600 Franken pro Jahr. Sie isst dreimal wöchentlich Fleisch, fährt drei Stunden Zug und verbraucht im Haushalt jährlich 6000 kWh Strom – kaum weniger als der allgemeine Durchschnitt. Hingegen besteigt sie nur alle sechs Jahre ein Flugzeug statt jährlich. Angenommen, die Menschen hinter der Statistik würden zu Trendsettern für den nachhaltigen Lebensstil der Zukunft, dann würden wir unseren Abfall weiterhin rezyklieren (auch wenn das für den Verbrauch kaum ins Gewicht fällt) und die Ernährung würde lokal produziert, mit wenig Fleisch und tierischen Produkten (nicht unbedeutend). Die massivsten Änderungen beträfen Mobilität und Wohnen: Frau n legt jährlich nur 1700 Kilometer mit dem Auto zurück, weniger als 20 Prozent des Schweizer Durchschnitts, und braucht nur halb so viel Heizenergie, weil sie mit 35 Quadratmetern beheizter Wohnfläche auskommt.
So weit die Statistik. Nur, was sind das für Menschen? Die perfekten Ökoasketen? Prekäre Stubenhocker, die sich weder Auto noch Ferien in Übersee leisten? StudentInnen in Wohngemeinschaften? Anhaltspunkte dazu geben die Daten zum Einkommen. Allgemein nimmt der Verbrauch mit grösserem Einkommen linear zu. Wer mehr verdient, konsumiert auch mehr – selbst wenn jemand sich ein Minergie-Einfamilienhaus und ein Hybridauto leistet, aber dafür viel Fläche braucht und täglich mit dem Auto zur Arbeit pendelt (Rebound-Effekt). Von den 216 eher gut verdienenden Individuen, die in einem Minergiehaus leben, schaffen es gerade einmal 16, mit 2000 Watt auszukommen. Anderseits verdienen die Sparsamen im Durchschnitt zwar 10 000 Franken weniger als der Schnitt, aber es gibt darunter auch einzelne mit 80 000 Franken Jahreseinkommen. «Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass die Sparsamkeit kein ökonomischer Zwang, sondern ein bewusster Entscheid zur Genügsamkeit ist», schliesst Notter und folgert: «In naher Zukunft ist eine 2000-Watt-Gesellschaft nur realistisch, wenn technologische Effizienzsteigerung mit einer intelligenten Suffizienzstrategie kombiniert wird.»
Gebaut wird seit Jahren vor allem für Singles und Doppelverdiener
Nennen wir sie also die «Suffizienten» – eine kleine Minderheit zwar, aber sie beweist, dass es durchaus möglich ist, mit zwei Dritteln weniger Energiekonsum als der Schweizer Durchschnitt zu leben, und sich damit auf einem Niveau bewegt, das global nachhaltig wäre. Notter vermutet, dass die meisten von ihnen im städtischen Raum leben, allerdings hat er keine Daten dazu. Wieso die Stadt und nicht das Häuschen auf dem Land mit eigenem Garten, das für viele immer noch der Inbegriff des «naturnahen» Lebens ist? Die Stadt ermöglicht einen ökologischen Lebensstil bei hoher Qualität, weil Wohnen, Arbeit, Beziehungen und Freizeit in Fuss- und Velodistanz liegen. Eine tiefe Pro-Kopf-Wohnfläche gehört für viele dazu – nur schon wegen der hohen Mieten muss eine typische 110-Quadratmeter-Wohnung für eine Kleinfamilie oder eine 3er-WG reichen.
«Es ist durchaus möglich, mit zwei Dritteln weniger Energiekonsum als der Schweizer Durchschnitt zu leben.»
Allerdings zieht der Immobilienmarkt in eine andere Richtung: Gebaut und saniert wird seit einigen Jahren vor allem für Singlehaushalte und Doppelverdiener, die grosszügige Wohnflächen belegen. In Neubauten in der Stadt Zürich nutzt eine Person im Schnitt fast 70 Quadratmeter. «Technologien und Lenkungsinstrumente für den ökologischen Umbau stehen eigentlich bereit», schliesst der Empa-Forscher Notter. Eine ökologische Steuerreform würde helfen. Das Benzin müsste teurer werden. Das Problem liege bei der politischen Akzeptanz «und am Ende regiert halt schon das Geld». Seinen Beitrag sieht er darin, «das Thema präsent zu halten, um ein langsames Umdenken zu bewirken». Dass in der Stadt Zürich mit 76 Prozent Ja-Stimmen das Ziel einer 2000-Watt-Gesellschaft in die Gemeindeordnung aufgenommen wurde, gibt ihm Hoffnung. «Das zeigt, dass ein Wertewandel stattfindet.»
«In Städten wie Berlin und New York besitzt die Hälfte der Menschen kein Auto.»
Ein Wertewandel kann auch ins Geld gehen. Jungen Erwachsenen scheint es immer weniger wichtig, den Führerausweis zu machen und ein eigenes Auto zu besitzen. Wie das Magazin «Spiegel» meldet, liegt das Durchschnittsalter von Neuwagenkäufern in Deutschland bereits bei 52 Jahren. In Trendsetter-Städten wie Berlin und New York besitzt die Hälfte der BewohnerInnen kein Auto und die andere lässt es meist in der Garage stehen. Den Autokonzernen macht diese Entwicklung zunehmend Sorgen, einige gehen in die Offensive: Mercedes, BMW und Citroën haben Car-Sharing-Angebote entwickelt, um die junge, urbane Klientel, die sich ums Statussymbol Auto foutiert, bei der Stange zu halten. Trendforscher sehen dies als Bestätigung, dass auch die Grosskonzerne die Entwicklung zur «Share Economy» nicht mehr ignorieren können.
Die Lösung heisst Teilen. Was mit dem Do-it-Yourself des Punk und mit esoterisch angehauchten Tauschkreisen begann, etablierte sich über die Open-Source-Informatik, Wikipedia und Filesharing und drängt nun mit Wucht in die Welt der Hardware. Von herumstehenden Autos über schlecht ausgenutzte Wohnungen und Büroräume bis zu Staub ansetzenden Bohrmaschinen und Rasenmähern – teilen kann man fast alles, das ökonomische Potenzial ist gewaltig und mit seiner Vermittlung kann Geld verdient werden. Dass Teilen effizient und ressourcenschonend ist, wird auf den entsprechenden Websites oft als angenehmer Nebeneffekt erwähnt. Für die Nutzer wird der vordergründige Nachteil, nicht jederzeit uneingeschränkt über ein eigenes Ding verfügen zu können, durch die emotionalen Vorteile wettgemacht: sozialer Austausch und ein unverkrampftes Gefühl der Zugehörigkeit. Werte, die der Vereinzelung entgegenwirken.
Beziehungen pflegen ist wertvoller als noch mehr Besitz
Das Prinzip der Share Economy geht in Richtung dessen, was der Ethnologe Marshall Sahlins als «ursprüngliche Überflussgesellschaft» bei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften beschrieben hat: Maximiert wird nicht der persönliche Besitz (der eh nur Ballast ist), sondern die Anpassungsfähigkeit an eine gegebene Ressourcenbasis mit dem Ziel, möglichst viel Zeit für die schönen Seiten des Lebens zu haben: Beziehungen pflegen, Feste feiern, Geschichten erzählen, faulenzen. Anders gesagt: An die Stelle der linearen Konsumsteigerung (Abb. 1, Kurve B) tritt die abflachende Kurve der «Glücks-Ökonomie» (Kurve A). Mehr Besitz und Konsum macht nicht immer noch glücklicher, der Grenznutzen nimmt ab. Jeremy Williams, Autor des Blogs «Make Wealth History», erklärt es so: «Einen Kaffee auf Kosten des Hauses geschenkt zu bekommen, ist super, der zweite ist willkommen, aber niemand will zehn haben.» Man könnte anfügen: «Niemand ausser ein Kaffeesüchtiger.» Die Herausforderung, die sich uns im konsumgesättigten Westen stellt, ist vergleichbar mit einem Entzug: Lernen, mit weniger glücklich zu sein. Qualität statt Quantität.
Fassen wir die Stränge zusammen. Bevölkerungswachstum reduzieren braucht globale Verteilungsgerechtigkeit. Wir sind nicht zu viele, wir brauchen aber zu viel. Technologische und organisatorische Lösungen für ein gutes Leben mit weniger materiellen Dingen sind nicht nur bekannt, sie werden auch bereits angewandt. Ein Wertewandel ist nötig und feststellbar, aber er verläuft noch viel zu träge. Und über allem hängt die omnipräsente, aber meist verdrängte Frage, wer über die Verwendung knapper Ressourcen entscheiden kann.
Diese Frage der Machtverteilung und der Demokratisierung der Wirtschaft lässt sich immer weniger ignorieren, denn sie zielt mitten in die Zentren der Metropolen – von Tahrir, Syntagma und Plaza del Sol über Occupy Wall Street bis zum Gezi-Park und nach Brasilien. Der Autor David Graeber versteht diese «transformativen Ausbrüche der Imagination», so unterschiedlich die Auslöser und Forderungen auch sein mögen, als Versuche, «gemeinsame Probleme der Menschheit auf gleichberechtigte, demokratische Weise zu lösen». Die tiefgreifenden Veränderungen, welche die Beteiligten dabei durchleben, schaffen gleichzeitig neue Modelle, Werte und Denkweisen, die auf die ganze Bevölkerung ausstrahlten – und zwar im Fast-Forward-Modus.
Gut möglich, dass man unter den Akteuren einige unserer «Suffizienten» antreffen würde, denke ich auf dem Heimweg durch den Siedlungsbrei der Glatttalstadt. Imagination – sich eine andere Lebensweise überhaupt vorstellen zu können – ist vielleicht die beste Übung für die Zukunft in einer dichten Welt.
2000-Watt-Gesellschaft
Das Konzept für eine 2000-Watt-Gesellschaft stammt ursprünglich von der ETH. Der Name bezieht sich auf den Energieverbrauch, der pro Kopf weltweit nachhaltig produziert werden kann. Der Standard kann auf Gebäude, Areale, Gemeinden, Städte und Regionen angewandt werden wie auch auf den persönlichen Verbrauch. Zu den ursprünglichen Partnerstädten Basel, Zürich und Genf sind weitere dazugekommen, darunter zehn Städte in der Bodenseeregion, die im Herbst eine eigene 2000-Watt-Kampagne lanciert haben.
> Weitere Artikel zum Themenschwerpunkt Bevölkerungswachstum