Am letzten 28. Mai zur Hauptsendezeit hatten viele Fernsehzuschauer ein Schockerlebnis: Auf Arte wurde der Dokumentarfilm «Sand – die neue Umweltzeitbombe» (Le sable – enquête sur une disparition) ausgestrahlt: Der Welt geht der Sand aus. Strände schwinden, Flüsse leiden, Meeresböden werden geplündert. Hauptverantwortlich ist unökologisches Bauen im Angesicht von Migration und Bevölkerungswachstum. Greenpeace hat mit Regisseur Denis Delestrac ein Gespräch geführt.
> Artikel im lesefreundlichen Magazinformat als PDF downloaden (770KB)
So weit ist es also gekommen: Jetzt geht der Menschheit selbst der Sand aus. «Wie Sand am Meer» lautete bis vor Kurzem die Redensart für unermessliche Verfügbarkeit. Die Wendung gehört nun der Vergangenheit an. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass uns bald Erdöl und Uran ausgehen werden. Aber der Sand?
Und doch ist es nicht mehr zu übersehen, weder in Miami Beach noch an fernöstlichen Stränden: Rund um den Globus schrumpfen die Strände. Zuweilen werden ganze Häuserzeilen unterspült und vom Meer weggefressen. Ganze Ökosysteme werden zerstört. Die Folgen sind schwerwiegender, als man glauben könnte. Der französische Regisseur Denis Delestrac hat von Asien bis Amerika die schleichende Umweltkatastrophe dokumentiert und ihre Ursachen verständlich und berührend in einen Film gepackt. Seine «Untersuchung eines Verschwindens» ist ein Aha-Erlebnis, das sich auf weit mehr als auf Sandstrände bezieht: auf den wichtigsten Baustoff unserer Gesellschaft.
Greenpeace: Denis Delestrac, Ihr Film hat wie eine Bombe eingeschlagen …
Denis Delestrac: Die erste Reaktion erfolgte noch vor der Ausstrahlung im TV, als wir den Film an die Presse schickten. In Frankreich griffen die Medien das Thema sofort auf. Jedermann sprach davon, weil niemand bisher von der Sache gewusst hatte. Als der Film dann ausgestrahlt wurde, schlugen wir den Zuschauerrekord. Seither reise ich an viele Festivals und kriege mit, wie das Publikum reagiert.
GP: Wie reagiert es?
DD: Ohne zu übertreiben: zu 100 Prozent positiv. Die Menschen sind beeindruckt. Viele sagen mir: «Jetzt verstehe ich, warum mein Strand immer schmaler wird.» Oder: «Als ich jünger war, ging ich oft an einen breiten Strand. Jetzt ist er nicht mehr da.» Viele Leute, auch Kinder, bedanken sich bei mir und sagen: «Ich sehe den Strand jetzt mit anderen Augen.» Das ist fantastisch!
GP: Formiert sich so etwas wie eine Bewegung zum Schutz der Strände?
DD: Leider nein. Es gibt – je nach Land oder Region – Gruppierungen, die sich für den Sand einsetzen, Aktivisten, die für ihre Strände kämpfen, ob in der Bretagne oder in den USA. Doch das ist alles sehr fragmentiert. Global gesehen fehlt das Bewusstsein. Es gibt keine Leader, die sich dieses Anliegen auf die Fahne schreiben, um es zu bekämpfen.
GP: Wie haben Umweltorganisationen auf Ihren Film reagiert?
DD: Da passiert noch wenig. Es gibt Coastal Care, eine Organisation in Kalifornien (www.coastalcare.org). Das sind wirklich Pioniere beim Schutz der Küsten, der Verteidigung der Strände und im Kampf gegen das Sand Mining. Nur müssen wir jetzt einen Gang höherschalten, um die nötige Dringlichkeit zu erzielen.
GP: Aber die Politik ist wohl weit davon entfernt, etwas zu unternehmen …
DD: Nicht unbedingt. Zumindest in Frankreich benutzen Politiker den Film, um in ihren Regionen vom Verschwinden der Strände zu reden. Nun haben sie ein Werkzeug, um auch anderen zu erklären, was passiert. Vorher wussten sie nicht, wie sie die Probleme verständlich machen sollten. Es ist ein sehr wissenschaftliches Thema, bei dem es um die Dynamik der Küsten, um Strömungslehre und so weiter geht. Ich glaube, wir haben das Ganze verdaulich dargestellt.
Ein komplexes Thema spannend wie einen Krimi darzustellen, das haben Denis Delestrac und seine Crew wirklich geschafft. Die Bilder sind nicht nur für alle verständlich, sie sind auch intensiv, aufrüttelnd und doch sachlich und unaufgeregt. Ein Kunststück, wenn man bedenkt, wie verzwickt sich die Sache mit dem Sand verhält.
Sand ist der am meisten unterschätzte Rohstoff. Aus ihm wird Glas gemacht. Ohne Sand gäbe es keine Mikroprozessoren in unserer Elektronikgeräten. Sand steckt in Flugzeugen, Waschmitteln und im Wein – vor allem aber im Beton. Heute bestehen zwei Drittel der Gebäude weltweit aus Stahlbeton, und der enthält zu zwei Dritteln Sand. Ein durchschnittliches Haus verschlingt 200, ein Kilometer Autobahn 30 000, ein AKW 12 Millionen Tonnen. Jedes Jahr verbraucht die Menschheit 15 Milliarden Tonnen Sand. Und zwar keinen Wüstensand, der zum Bauen unbrauchbar ist, sondern Meersand und Strandsand. Auf der Erde sind schätzungsweise 75 bis 90 Prozent der Strände auf dem Rückzug. Für die Bauwirtschaft wird vor den Küsten mit gigantischen Schiffen Sand aus dem Meer gepumpt. Die Löcher, die so entstehen, füllen sich in kurzer Zeit wieder mit Sand, der von den Stränden ins Meer wandert.
Singapur. Die «asiatische Schweiz» wächst seit Jahrzehnten. Die Wirtschaft, die Bevölkerung, die Skyline – aber auch das Territorium: Das Land ist zum Wachstum verdammt. In den letzten 40 Jahren sind nicht nur die Häuser in die Höhe geschossen, sondern es wurden auch 20 Prozent neue Landflächen aufgeschüttet, mit unermesslichen Mengen Sand.
In Dubai – dem «Sandkasten für grössenwahnsinnige Baulöwen» – steht der Burj Khalifa, das höchste Gebäude der Welt, ein gigantischer Turm aus Beton und Glas. Vor allem aber entstehen im Emirat die Projekte «The Palm» und «The World», künstliche Sandinseln vor der Küste, damit Reiche und Superreiche ihre eigene Insel, ihren eigenen Strand besitzen können.
Die Menschheit drängt an die Küsten. Bis 2025 sollen 75 Prozent in Küstennähe wohnen, und das bei ungebremstem Bevölkerungswachstum.
Greenpeace: Im Umweltschutz wird das Bevölkerungswachstum oft ausgeblendet, als wäre es ein Tabu.
Denis Delestrac: Das ist seltsam. Ich glaube, es ist die Quelle aller unserer Probleme auf dem Planeten: Wir sind zu viele … Aber da ist nicht nur das Bevölkerungswachstum, sondern auch jenes der Wirtschaft. Die sandhungrigen Golfstaaten zum Beispiel sind demografisch recht stabil.
GP: Im Binnenland Schweiz wollen immer mehr Menschen immer mehr Wohnfläche, oft im Grünen.
DD: Und weltweit verdichten sich die Küstensiedlungen – ein echtes Problem. Vor 50 oder 60 Jahren wohnten dort vor allem Fischer. Die Strände interessierten wenig. Dann entwickelte sich der Tourismus. Heute wird dort ein Drittel der Ferien verbracht. Und viele möchten am liebsten am Meer leben. Deshalb werden die Küsten zugebaut. Was man leider nicht weiss: Indem man nah an die Strände baut, hindert man sie daran zu «atmen», sich vor- und zurückzubewegen, wie jeder Strand es täte, wäre er nicht von Beton blockiert.
«Bis 2025 sollen 75 Prozent der Menschen in Küstennähe wohnen.»
Delestracs Film zeigt die Absurdität sehr anschaulich: Es zieht uns an die Küsten und Strände. Ironischerweise werden diese aufgebraucht, um Hotels und Städte zu bauen. Weil wir so nah ans Wasser bauen, können sich die Strände nicht regenerieren. In Miami Beach und anderswo werden Unsummen investiert, um die Strände mit neuem, vom Meeresgrund gepumptem Sand zu erhalten – der das Problem nur verschlimmert und ohnehin rasch wieder abgetragen wird.
Um den Sand, der einmal gratis war, ist ein gigantisches Geschäft entstanden. Sand wird rund um den Planeten verschoben – oft illegal. In Singapur dominiert der Sandschmuggel. In Indien ist die Sandmafia die mächtigste kriminelle Organisation des Landes, die vor nichts zurückschreckt und immer mehr auch die Immobilienspekulation dominiert. In Mumbai leben die Hälfte der Menschen in Slums, aber 50 Prozent der gebauten Wohnungen stehen leer. Auch in China stehen 65 Millionen Wohnungen leer, in Spanien sind es 30 Prozent der seit 1996 gebauten Wohnungen. Im Burj Khalifa sind gerade einmal 10 Prozent der Apartments belegt.
Aber es kommt noch schlimmer: Meersand entsteht im Landesinneren, in den Bergen, und wird von Flüssen ins Meer getragen. Nur kommt der grösste Teil gar nicht mehr an, denn die Flüsse werden ausgebaggert und Staudämme versperren dem Sand den Weg. Allein in den USA wurde seit 1776 an jedem Tag ein Staudamm gebaut. In China wird demnächst kein Wasserlauf mehr ungestaut sein. Weltweit gibt es 845 000 Stauwehre. Für die Gewinnung von sauberem Strom mag das gut sein. Für die Küsten ist es verheerend.
Wirklich schlimm wird es, wenn wir zu alledem den Klimawandel und den steigenden Meeresspiegel dazunehmen – dann ist die Umweltzeitbombe perfekt. «Die Strände sind unsere Barrikaden», sagt ein Geologe im Film. 100 Millionen Menschen leben auf weniger als einem Meter über dem Meeresspiegel, der bis 2100 um 1 bis 1,5 Meter steigen wird. In Indonesien sind bereits über 20 Inseln von der Landkarte gestrichen worden.
GP: Gibt es auch eine gute Nachricht?
DD: Ja. Es gibt tausend Möglichkeiten zu handeln – auch lokal.
GP: Zum Beispiel bei der Art, wie wir bauen?
DD: Ja. Wir könnten zum Beispiel aus Glas wieder Sand herstellen. Wir könnten Bauschutt zu Granulat rezyklieren. Aus Altmetall liessen sich sogar Hochhäuser bauen. Wir könnten mit Stroh bauen. Es ist sehr solide und brennt nicht – entgegen der vorherrschenden Meinung. Oder wir bauen aus Bambus. Es gibt sehr viel, was wir unternehmen könnten …
GP: Was muss geschehen?
DD: Wesentlich wäre ein neues Bewusstsein in der Politik, aber auch in der breiten Öffentlichkeit. Deshalb habe ich meinen Film gemacht. Das Thema soll nicht mehr nur Wissenschaftlern vorbehalten sein, sondern auch jene Menschen erreichen, die wirklich den Lauf der Dinge politisch verändern können.
Dass wir in 20 oder 30 Jahren keine Strandferien mehr machen können, mag uns vielleicht nicht den Schlaf rauben. Doch es gibt wenig, das uns mehr betrifft als die Art, wie wir leben und wohnen – wie wir bauen, für wen und wie viel. Das Bevölkerungswachstum mag zur grenzenlosen Bauwut beigetragen haben. Die Migration hat ihren Anteil daran. Vor allem aber ist es der absurde Wachstumszwang einer Wirtschaft, in der viel Geld für Prunkbauten, aber keins für die Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen zur Verfügung steht.
Das Drama um den Sand zerstört unwiderruflich einen prachtvollen Teil unserer Welt. Wenn wir jetzt nicht handeln, zerrinnt uns die Zeit wie Sand zwischen den Fingern.
Denis Delestrac
Der 45-jährige Franzose war Jurist und Fotograf. Heute gehört er zu den renommiertesten Dokumentarfilmern. Sein Film «Pax Americana» über die Aufrüstung im Weltraum brachte ihm 2010 den Durchbruch. Seine Projekte haben ihn intensiv in Afrika und Asien reisen lassen. Auch die beiden nächsten Filmprojekte werden sich mit ökologischen Fragen beschäftigen. Er will sich aber kein grünes Etikett verpassen lassen. «Ich will das Unsichtbare zeigen, das uns umgibt», sagt er. «Aber ich will mich nicht spezialisieren. Ich filme, was mich leidenschaftlich interessiert. Denn ich verbringe Jahre mit einem Thema.» Denis Delestrac lebt in Barcelona.
Den Film sehen
Denis Delestracs Dokumentarfilm «Sand – die neue Umweltzeitbombe» ist auf DVD noch nicht erhältlich. Sobald er erschienen ist, informieren wir Sie in diesem Magazin.
> Weitere Artikel zum Themenschwerpunkt Bevölkerungswachstum