Der Journalist Marcel Hänggi macht in seinem neuen Buch «Weil es Recht ist» über 70 Vorschläge für eine zukunftstaugliche Bundesverfassung. Kein trockenes Jurist:innenfutter, sondern eine leicht lesbare, kluge Auseinandersetzung darüber, dass es für den Kampf gegen die Klimakrise eine «robuste Demokratie» braucht.
In der zweiten Konferenzwoche geschah Erstaunliches. Einige Staaten, darunter die Schweiz, schlossen sich an der Pariser Klimakonferenz Anfang Dezember 2015 zu einer «Koalition der Hochambitionierten» zusammen. Sie versprachen, sich besonders dafür einzusetzen, die globale Temperatur im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter nicht über 1,5 Grad Celsius ansteigen zu lassen.
Marcel Hänggi war als Journalist vor Ort, genauso wie die damalige Bundesrätin Doris Leuthard. Ob sie nun bereit sei, auch zu Hause eine «hochambitionierte Klimapolitik» zu verfolgen, fragte Hänggi die Umweltministerin. «Ach», sagte sie, «wir wären ja schon froh, für 2 Grad auf Kurs zu sein. Und sie kennen ja unser Parlament.»
Diese Begegnung sei für ihn ein Anstoss gewesen, die Gletscher-Initiative zu lancieren, schreibt Hänggi seinem neuen Buch «Weil es Recht ist. Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung». Der Bundesrat sollte über eine Verfassungsänderung gezwungen werden, das Pariser Klimabkommens ernst zu nehmen.
Im Zwiespalt nach dem Abstimmungssieg
Am 18. Juni 2023 sagten die Schweizer Stimmbürger:innen mit 59 Prozent Ja zum Klimaschutzgesetz. Ein «politischer Sieg für mein Engagement», bilanziert Hänggi. Doch die Begeisterung über den Erfolg zum Schutz des Klimas hielt sich in Grenzen. Die demokratische Auseinandersetzung, die zu diesem Sieg geführt hatte, «war für mich eine zwiespältige Erfahrung», schreibt Hänggi:
Der Abstimmungskampf verlor sich oft «im Kleinklein wissenschaftlicher Studien», das übliche politische Hickhack halt. Hänggi hingegen wollte in die Tiefe gehen. Er wollte «gross denken». Von Greenpeace erhielt er den Auftrag zu einer Studie. Das Ziel: Herauszufinden, was die Bundesverfassung im Zeitalter der multiplen Umweltkrisen taugt. Die Studie war ein weiterer Anstoss für das Buch.
Vorschläge für Verfassungsrevisionen sind nicht neu. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Bundesrat, Parlament und Verwaltung Verfassungsartikel über Gesetze und Verordnungen bis fast zur Unkenntlichkeit verwässern. Der Umweltschutzartikel (Art. 74, Bundesverfassung) ist ein Musterbeispiel dafür. Das Parlament diskutierte zwölf Jahre lang, bis es 1985 ein unzureichendes Umweltschutzgesetz verabschiedete.
Die Verfassung braucht eine Auffrischung
Und dennoch. Gemäss Hänggi stellt das schweizerische Rechtssystem «taugliche Lösungen für Umweltprobleme bereit». Die Rechtswissenschaftlerin Dunia Brunner von der Universität Lausanne findet gar, dass «eine im strengen Sinne nachhaltige Wirtschaftsweise» mit der aktuellen Bundesverfassung kompatibel sei. Mehr noch, «ihr sogar besser gerecht würde als der heutige Zustand».
Die geltende Bundesverfassung hat Potenzial, aber sie braucht eine radikale Auffrischung. Hänggi hat sich akribisch durch die 197 Artikel gearbeitet. Das Resultat: über 70 Vorschläge, wie die Verfassung neu geschrieben werden könnte, damit sie zukunftstauglich wird.
Es braucht zum Beispiel einen neuen Artikel zur «Globalen Verantwortung». Die Schweiz ist auch ausserhalb des Landes für die Folgen ihres Handelns verantwortlich. Es braucht einen Artikel, der den Verwendungszweck der Abgaben im Strassenverkehr erweitert. Das Geld muss auch eingesetzt werden können für den Rückbau von Überkapazitäten im Strassennetz inklusive Renaturierungen.
Die Schweiz kann das schaffen
Solche Vorschläge mögen realitätsfern tönen. Doch Hänggis Blick in kantonale Verfassungen zeigt: Vieles ist schon formuliert.
Genf kennt ein «Recht auf Leben in einer gesunden Umwelt» (Art. 19). Und der Staat schafft «ein günstiges Umfeld für eine verantwortungsvolle, diversifizierte und solidarische Wirtschaft» (Art. 185). Die Verfassung des Kantons Appenzell Ausserrhoden postuliert, «dass die natürliche Umwelt für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten und wo möglich wiederherzustellen» (Art. 29) sei.
Bleibt die zentrale Frage der Umsetzung. Gegner gibt es viele: Wirtschaftsverbände, Firmen, Parteien und Politiker:innen, deren Selbstverständnis durch die erforderliche Transformation vom Kopf auf die Füsse gestellt wird.
Hänggi bleibt Optimist. Eine «robuste Demokratie» schafft das. Die Schweiz kann das schaffen. Klar ist, die Aufgabe der Transformation hin zu einer umweltverträglichen Gesellschaft und Rechtsordnung ist riesig und sie wird, wie Hänggi schreibt, nicht ohne Kämpfe abgehen.
Marcel Hänggi, Weil es Recht ist. Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung, Rotpunktverlag Zürich, 256 Seiten, Fr. 29.–
Buchvernissage, Samstag, 26. Oktober 2024, 19.30 – 21 Uhr im Kulturpark, Pfingstweidstrasse 16, Zürich. Gäste sind die Rechtsprofessorin Helen Keller von der Universität Zürich und die Präsidentin der Grünen Schweiz Lisa Mazzone.
Vier Fragen an Marcel Hänggi
Was hat der Schutz des Klimas mit dem Schutz der Demokratie zu tun?
«Umweltkatastrophen bedrohen die Demokratie. Anfang Oktober haben namhafte Autor:innen in der amerikanischen Zeitschrift BioScience in einem Aufsatz mit dem Titel «2024 state of the climate report» vor dem Risiko eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs wegen der Klimakrise gewarnt. Wir brauchen eine robuste Demokratie, um die nötigen, radikalen Systemübergänge, die wir laut dem Weltklimarat IPCC brauchen, zu beschliessen und umzusetzen. Eine Autokratie kann (oder will) das nicht.»
Die Bundesverfassung schützt Menschen, Tiere und Pflanzen samt ihren Lebensräumen (Art. 74). Mehr geht nicht. Wo liegt das Problem?
«Die Bundesverfassung schützt die Umwelt tatsächlich sehr gut. Nur ist die Realität eine sehr andere. Es fehlt vor allem am Vollzug. Auch wenn wir die Umwelt schützen, wie es Bundesverfassung und Gesetze verlangen, genügte das nicht mehr. Erstens haben wir die Grenzen dessen, was die Ökosysteme vertragen, längst überschritten. Wir müssen Vieles, was beschädigt ist, wiederherstellen. Und zweitens müssen wir uns und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät.»
Du schreibst, «Menschen sind bereit, sich zu ändern, wenn sie es als notwendig erkennen». Wie kommst Du darauf?
«Es gibt unzählige Beispiele aus der Geschichte: Krisen mobilisieren enorme gesellschaftliche Energien. Allerdings können diese Energien die Solidarität in einer Gesellschaft stärken – oder aber destruktiv und ausgrenzend genutzt werden.»
Was braucht es für eine zukunftstaugliche Demokratie?
«Ich wäre glücklich, wüsste ich die endgültige Antwort! Aber diese Antwort kann es wohl auch nicht geben, denn wie Gesellschaften sich wandeln, muss auch Demokratie sich wandeln. Was man sagen kann: Eine gute Demokratie bezieht möglichst alle Betroffenen mit ein und ermöglicht Aushandlungsprozesse unter Menschen, die sich bestmöglich informieren. Viermal im Jahr abstimmen ist gut – aber das allein macht noch lange keine perfekte Demokratie!»
Zur Person
Marcel Hänggi, 1969 geboren, hat an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik studiert. Er ist Journalist und Buchautor. 2016 entwickelte er die Idee einer klimapolitischen Volksinitiative, die 2019 vom Verein Klimaschutz Schweiz unter dem Namen Gletscher-Initiative eingereicht wurde. Bis 2024 war Hänggi als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Initiative respektive für den Gegenvorschlag, das Klimaschutzgesetz, tätig.