Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall der KlimaSeniorinnen geurteilt, dass die Schweiz mit ihrer Klimastrategie die Menschenrechte verletzt. Doch statt das Urteil seriös umzusetzen, bockt der Bundesrat und behauptet weiterhin: Die Schweiz tut genug beim Klimaschutz. Doch die Schweiz ist keine Musterschülerin beim Klimaschutz. Hier die Erklärung.
Gestern hat sich der Bundesrat endlich offiziell zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall der KlimaSeniorinnen geäussert. Er hat damit all jene bitter enttäuscht, die gehofft hatten, der Bundesrat würde das Urteil als Weckruf für mehr Klimaschutz in der Schweiz verstehen. Stattdessen heisst es in der Mitteilung, der Bundesrat sei der Auffassung, «dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfüllt». Nach dieser Stellungnahme ist klar: Der Bundesrat hält an der menschenrechtswidriger Klimastrategie der Schweiz fest. Er missachtet die vom EGMR formulierten Anforderungen an einen menschenrechtskonformen Klimaschutz.
Mit seinem Vorgehen beugt sich der Bundesrat dem Druck des Parlaments: Die Mehrheiten im Ständerat und im Nationalrat haben Anfang Sommer eine Erklärung zum KlimaSeniorinnen-Urteil unterstützt, die besagt, dass die Schweiz genügend tut beim Klimaschutz und dem Urteil keine weitere Folge zu leisten ist.
Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, dem Klima-Urteil des EGMR Folge zu leisten und hält an seiner Klimastrategie fest.
Ein Blick zurück
Am 9. April, am Tag, an dem der EGMR sein historisches Urteil bekannt gab, war dieses politische Trauerspiel noch weit weg. Die KlimaSeniorinnen, Mitarbeitende von Greenpeace, Klimaaktivist:innen und viele Sympathisant:innen lagen sich in den Armen und feierten das Präjudiz: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.
Es gibt einen menschenrechtlichen Anspruch auf wirksamen Klimaschutz. Der EGMR hat dafür kein neues Recht geschaffen. Vielmehr urteilte er, dass alle Menschen unter Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) das Recht haben, geschützt zu werden vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität. In der Konsequenz sind Staaten dazu verpflichtet, die Bürger:innen vor dem Klimawandel zu schützen.
In seinem Urteil stellte der EGMR fest, dass die Schweiz diesen Verpflichtungen aus der EMRK in Bezug auf den Klimawandel nicht nachgekommen ist. Der Gerichtshof hat die Schweiz also wegen ungenügenden Klimaschutzes verurteilt.
Waaas? Die Schweiz tut nicht genug beim Klimaschutz? Ist die Schweiz keine Musterschülerin?
Nein.
Aber die Schweiz ist doch nur für 1 Promille des weltweiten Treibhausgasausstosses (in der Fachsprache heisst es «CO2-Äquivalente») verantwortlich. Warum spielt der Beitrag der Schweiz beim weltweiten Klimaschutz überhaupt eine Rolle?
Die Zahl ist korrekt. Die Schweiz verursacht innerhalb der Landesgrenzen jährlich rund 42 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen (THG) – das sind rund 5 Tonnen pro Kopf. Der Anteil der Schweiz am weltweiten THG-Ausstoss beträgt damit rund 1 Promille, während die drei grössten Verursacher, China, die USA und Indien, die Hälfte aller Emissionen in die Atmosphäre entlassen.
ABER: Anders sieht das Bild aus, wenn die Emissionen hinzugerechnet werden, die durch unseren Konsum entstehen. Damit gemeint sind die Emissionen, die für die Herstellung der hier verbrauchten Güter im In- und Ausland verursacht werden: Mit rund 13 Tonnen Treibhausgase pro Kopf liegt die Schweiz auf Rang 16 der Länder, zwar hinter den USA, aber deutlich vor China oder Indien. «Damit liegt der sogenannte Treibhausgas-Fussabdruck der Schweiz deutlich über dem weltweiten Durchschnitt von rund 6 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Person», schreibt das Bundesamt für Umwelt BAFU.
Wenn überdies die Emissionen hinzugerechnet werden, die von unserer Wirtschaft weltweit mitverantwortet werden, dann steigt der Schweizer Anteil nochmals um ein Vielfaches. Zum Beispiel: Mit ihren Investitionen sind die Akteure des Schweizer Finanzplatzes mitverantwortlich für weltweite Emissionen, die das rund 14- bis 18-fache der hiesigen Inlandemissionen betragen.
Jeder Staat ist in der Verantwortung
Der EGMR stellt in seinem Urteil fest: Die Folgen der Klimaveränderung, dazu gehören die für ältere Frauen besonders gefährlichen Hitzeextreme, bedrohen die durch die Menschenrechtskonvention geschützten Rechte der heute lebenden Menschen und insbesondere der zukünftigen Generationen. Zum Schutz der Menschenrechte muss daher jeder Staat seinen Anteil leisten, um eine gefährliche Störung des Klimasystems zu vermeiden.
Der EGMR hat dabei das von der Schweiz und praktisch allen anderen Ländern akzeptierte Erderwärmungslimit von maximal 1.5°C als menschenrechtlich relevante Grenze festgelegt. Konkret heisst das: Jeder Staat ist in der Verantwortung, seinen Teil dazu beizutragen, dass die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C begrenzt wird. Auch die Schweiz. Trittbrettfahren ist nicht erlaubt.
Was ist das CO2-Budget?
Damit die 1.5°C-Grenze nicht überschritten wird, ist die Einhaltung des noch verbleibenden globalen CO2-Budgets massgebend. Das CO2-Budget, auch Kohlenstoffbudget, Carbon Budget oder Emissionsbudget genannt, bezeichnet die Menge an Treibhausgasemissionen, die weltweit maximal noch in die Atmosphäre freigelassen werden darf, damit die globale Erwärmung nicht über 1.5°C steigt.
Das globale CO2-Budget muss unter allen Ländern aufgeteilt werden. Das heisst, nationale CO2-Budgets von einzelnen Staaten müssen Bezug nehmen zum globalen Budget. Nationale Budgets ohne Bezugnahme zu einem globalen Budget besagen einzig, wie viel CO2 sich ein Staat selbst zugesteht – ohne Rücksicht zu nehmen auf das noch vorhandene globale Budget und die Ansprüche anderer Staaten daran.
Um das Prinzip des CO2-Budgets noch besser verstehen zu können, wird es oft auch als Kuchen verglichen, der nur einmal vorhanden ist und alle am Tisch satt machen muss. Am Tisch sitzen alle Staaten der Welt, und wenn es nicht gelingt, den Kuchen fair aufzuteilen, kann das Ziel nicht erreicht werden (die Erde erwärmt sich über 1.5°C). Nun sind solche Länder darunter, die noch fast gar nichts vom Kuchen hatten und andere, die schon viel davon in sich hineingestopft haben.
Die Schweiz hat schon sehr viel vom Kuchen gegessen, wie die Zahlen zum Treibhausgasausstoss weiter oben eindrücklich zeigen. Und sie will auch künftig viel mehr davon verschlingen, als ihr zusteht. Zwar vermochte die Schweiz bislang keine konkreten Zahlen zu einem nationalen CO2-Budget zu nennen. Doch ist heute schon klar: Mit dem bis 2030 geltenden CO2-Gesetz, dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien und dem Klimaschutzgesetz beansprucht die Schweiz ein deutlich zu grosses Stück des globalen Budgets. Würden alle so handeln wie die Schweiz, würde sich die Erde um bis zu 3°C erwärmen.
Was heisst das jetzt bezüglich des Urteils des EGMR?
Im Verfahren vor dem EGMR konnte die Schweiz nicht nachweisen, wie die eigene Beanspruchung des verbleibenden Budgets effektiv zur Einhaltung der 1.5°C-Grenze beiträgt. Erschwerend für die Schweiz kam hinzu: Sie hat bislang ihre eigenen Klimaziele verpasst, wie der EGMR im Urteil feststellte. Und sie hat über 2030 hinaus keine konkreten Massnahmen formuliert, wie sie die Treibhausgasemissionen senken, also ihre Klimaziele erreichen will.
Fazit: Die Schweizer Klimastrategie genügt den vom EGMR formulierten Anforderungen an einen menschenrechtskonformen Klimaschutz nicht.
Und jetzt?
Es wäre am Bundesrat gewesen, die festgestellte Menschenrechtsverletzung zu beheben. Doch das hat er nicht gemacht. Stattdessen BEHAUPTET er, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR im Fall der KlimaSeniorinnen Schweiz sei bereits umgesetzt. Er verpasst es, für diese politisch motivierte Positionierung wissenschaftliche Beweise vorzulegen: Der Bundesrat legt nicht dar, inwiefern die noch geplanten Emissionen der Schweiz tatsächlich damit vereinbar sind, dass die Erderwärmung global nicht über 1.5°C steigt. Die Schweizer Klimaziele basieren also nicht auf einem nationalen CO2-Budget, das auf das global noch verbleibende CO2-Budget für die Einhaltung des 1.5°C-Limits abgestimmt ist.
Mit seiner Verweigerung, den Klimaschutz in der Schweiz mit Blick auf die menschenrechtlichen Anforderungen des EGMR zu überprüfen und zu verstärken, setzt der Bundesrat die andauernden Menschenrechtsverletzungen fort. Der Bundesrat greift die Menschenrechte an. Die Menschenrechte sind universelle Rechte und gelten für uns alle. Das ist ein Schlag ins Gesicht der KlimaSeniorinnen und damit aller älterer Frauen, die besonders unter den Folgen der Klimaerhitzung leiden, wie das jüngste Schweizer Monitoring der hitzebedingten Todesfälle erneut aufzeigt. Das Vorgehen des Bundesrates ist eines Rechtsstaates nicht würdig.
Die KlimaSeniorinnen und Greenpeace fordern darum weiterhin eine unabhängige wissenschaftliche Analyse des nationalen CO2-Budgets, das mit dem global noch verbleibenden CO2-Budget für die Einhaltung des 1.5°C-Limits abgestimmt ist. Auf der Grundlage dieses nationalen CO2-Budgets ist eine menschenrechtskonforme Klimapolitik zu erarbeiten und umzusetzen. Konkret heisst das: Die Zielsetzungen und Klimaschutzmassnahmen der Schweiz müssen mit dem CO2-Budget übereinstimmen, ansonsten sind sie ungenügend.
Das Ministerkomitee ist am Zug
Sechs Monate nach der Rechtskraft eines Urteils muss der betroffene Staat dem Ministerkomitee des Europarats, das die Umsetzung des Urteils überwacht, einen Aktionsplan vorlegen. Dieser hat aufzuzeigen, mit welchen getroffenen oder geplanten Massnahmen der Staat dem Urteil nachkommen will. Im Fall der KlimaSeniorinnen ist der Aktionsplan der Schweiz also am 9. Oktober fällig.
Diesen Aktionsplan werden die KlimaSeniorinnen und Greenpeace sehr genau studieren und sich gegebenenfalls gegenüber dem Ministerkomitee dazu äussern. Denn auch die Beschwerdeführenden sowie die Zivilgesellschaft können im Rahmen des Umsetzungsverfahrens schriftliche Berichte beim Ministerkomitee einreichen.
Auch das Ministerkomitee wird den Schweizer Aktionsplan genau anschauen. Mit Entscheid vom 14. Juni 2024 hat das Gremium nämlich beschlossen, die Umsetzung des Klima-Urteils im Rahmen eines sogenannten verschärften Verfahrens (enhanced procedure) inhaltlich zu überwachen. Dies, weil die Umsetzung des Urteils komplex ist. Das Ministerkomitee kann – und wird in diesem Fall hoffentlich auch – Nachbesserungen fordern.
Auch die KlimaSeniorinnen und Greenpeace Schweiz werden dranbleiben, unsere Motivation, uns für mehr Klimagerechtigkeit einzusetzen, ist auch neun Jahre nach der Lancierung der Schweizer Klimaklage sehr gross.
Das letzte Kapitel ist also längst nicht geschrieben.
Nächste Klimaklagen vor dem EGMR International hat das Klima-Urteil bereits diverse Auswirkungen gezeitigt. Kürzlich räumte der EGMR der Klimaklage gegen Österreich Priorität ein und forderte von der österreicher Regierung eine Stellungnahme zu verschiedenen Fragen. Diese Fragen fussen mehrheitlich auf den im KlimaSeniorinnen-Urteil entwickelten menschenrechtlichen Anforderungen an den Klimaschutz. Auch das anhängige Verfahren von Greenpeace Nordic and Others v. Norway kommt mit der Beantwortung von Fragen auf der Grundlage des KlimaSeniorinnen-Urteils voran. Auf der Grundlage des Urteils werden in Finnland und Deutschland neue Klagen eingereicht. An der Anhörung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Inter-American Court of Human Rights) über ein Gutachten zum Klimanotstand und den Menschenrechten im April verwiesen diverse Staaten bereits auf das Urteil des EGMR. |