Sie ist kaum noch aufzuhalten, die Rückkehr der Wölfe in unsere Welt. Ausgerottet wurden sie in der Schweiz, in Deutschland, Italien, Frankreich und in vielen anderen europäischen Ländern Ende des 19. Jahrhunderts. Doch wie steht es nun, nach einem Jahrhundert ohne sie, um unser Verhältnis zu diesen Wildtieren?

Von Claudia Toll


© Martin Mecnarowski

 

Homo sapiens sapiens und Canis lupus verbindet eine uralte, für den Wolf oft unerfreuliche Geschichte. In der Mythologie, in Märchen, Fabeln, Gleichnissen und Sprichwörtern spielt der Wolf eine herausragende Rolle. Dabei reicht die Bandbreite seines Ansehens von Verehrung bis Verdammung. Die Gestalt(en), die er in diesen alten Überlieferungen angenommen hat, haben sich oft weit vom realen Tier entfernt.
Der Wolf war für Viehzüchter und andere Tierhalter eine Bedrohung; es galt, ihn von den Herden fernzuhalten und zu töten. Zur Hatz riefen vor allem jene, für die er im Wald ein Konkurrent war: Burgherren, die nicht duldeten, dass ihnen jemand in die Quere kam, und seien es auch nur die Hofhunde der Bauern. Liest man in historischen Aufzeichnungen, wie bei den Gelagen des Adels geprasst wurde, wird klar, dass für das gemeine Volk nicht mehr viel übrig blieb.
Unter Karl dem Grossen gab es Wolfsbeauftragte. Das waren privilegierte Hofbeamte, die nicht etwa für den Schutz der Wölfe zuständig waren, sondern für die Hatz. Um den Wolf zu verunglimpfen, wurden tatsächliche Begebenheiten aufgebauscht und Schauergeschichten kolportiert wie jene vom Rotkäppchen oder die vom bösen, die kleinen Geisslein verschlingenden Ungeheuer. Der Wolf wurde in Gruben gefangen und mit Tellereisen, Wolfsangeln, Gift und andern perfiden Methoden gnadenlos zur Strecke gebracht.

Kontroverses Bild

Der Hass auf ihn war so gross, dass er zum Urbild für Wildheit, Wildnis und Bedrohung wurde – ein beutegreifender Schmarotzer und Zivilisationsschädling, Sinnbild des Hobbes’schen Naturzustands, in dem – homo homini lupus * – der Mensch des Menschen Wolf ist, ein der Natur zugeschlagener Hilfsleibhaftiger, dem der Garaus gemacht werden musste, schliess-lich symbolisch in Dienst genommen von Strömungen unterschiedlicher politischer Couleur: So liest sich sein kulturhistorischer Steckbrief.
Lange Zeit hatte der Wolf keine Chance auf Rehabilitierung. Seit er wieder da ist, wird das Zerrbild zumindest teilweise korrigiert. Es dauerte, bis der Wolf, nunmehr im freien Feld und ohne Jagddruck lebend, zum Gegenstand echter Forschung wurde – mit der Folge, dass lange Zeit unbestrittene verhaltenswissenschaftliche «Erkenntnisse» bezüglich Rudelgrösse, Dominanz und Beutemacherei nachgebessert werden müssen.
Auch wenn er sich nur zaghaft und unter strenger Kontrolle ausbreitet, polarisiert der Wolf fast überall. Nach wie vor gilt er vielen als Inkarnation des Bösen und als Kinderfresser; seine Wiederansiedlung wird mit Bedenken bis hin zur totalen Ablehnung begleitet – er gehöre einfach nicht in unsere dicht besiedelte Welt, heisst es. Andere begrüssen ihn mit Wohlwollen, ja Begeisterung. Für sie bereichert dieses «Tier der Superlative» die heimatliche Fauna. Die Behörden sorgen dafür, dass sich das Konfliktpotenzial zwischen Nutztierhaltern und Wölfen in Grenzen hält, indem sie für die Tiere zahlen, die der Wolf gerissen hat. Man errichtet Schutzzäune und fördert die Haltung von Herdenschutzhunden. Erbost und entsetzt sind Tierbesitzer gleichwohl, wenn der Wolf nächtens kommt. Und wenn er erfolgreich jagt, ruft das nicht selten Empörung hervor – auch wenn Teile der Jägerschaft seine Ausbreitung inzwischen gelassener sehen.
Worin gründet das neu erwachte Interesse am Wolf? Was bringt Menschen dazu, sich Tattoos von Wolfsköpfen und -pfoten in die Haut ritzen zu lassen und Shirts mit Wolfsbildern zu tragen? Gerät der Wolf erneut in eine Falle, indem man ihn zu einem überfrachteten Symbol für Freiheit und Abenteuer sowie Naturverbundenheit macht? Wird er einmal mehr, wenn auch mit guten Absichten, mythologisiert und vereinnahmt?


© Biosphoto / Egon Boemsch / Imagebroker.com

 

Auf den Fährten des Wolfes

Die Art und Weise, wie der Mensch neuerdings auf den Wolf zugeht, kann interpretiert werden als Versuch zur Versöhnung von Natur und Zivilisation – oder als Abbitte des Menschen gegenüber der jahrhundertelang verfolgten und gequälten Kreatur. In beiden Fällen geht es um ökologische und politische Korrektheit, um die Arbeit am Mythos, um die Wahrheit und um die Vollendung der Aufklärung. Ist es paradoxe Ironie, dass erst unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Zivilisation die Menschen allmählich den Zugang zu diesen Tieren finden, der ihnen früher stets verwehrt war?
Im Zuge dieses Hypes genügt es manchen nicht, bei «Heulexkursionen» oder «Vollmond-Wolfsnächten» in Wildparks zu Wölfen geführt zu werden, die man von klein auf an Menschen gewöhnt hat. Sie wollen in der echten Wildnis ihren Fährten folgen und sie sozusagen im Urzustand erleben. Möglichkeiten dazu gibt es auf organisierten Reisen, auf Wanderungen und Spurensuchen in Wolfsrevieren, etwa im Yellowstone-Nationalpark, in den italienischen Abruzzen, in den tschechischen, slowakischen und polnischen Karpaten und sogar im wolfsarmen, elchreichen Schweden.
Wie nah man ihm auch kommt: Zum Kuscheltier wird der Wolf noch lange nicht. Es handelt sich bei ihm immer noch um ein Naturwesen und nicht um einen zivilisierten Gesellen, auch wenn sich in Teilen Europas Anpassungsprozesse vollziehen, die dazu führen, dass der Wolf beginnt, sich urbane Gebiete zu erschliessen, beispielsweise in Rumänien. Aber selbst dort, wo der Wolf unter Schutz gestellt wurde – das ist in fast allen europäischen Ländern mit Einschränkungen der Fall – scheinen sich die Bestände nur unmerklich zu erholen. In der Schweiz leben weiterhin etwa 25 Tiere, in Deutschland gibt es etwa 24 Rudel oder Paare, ebenso in Polen. Auf der Iberischen Halbinsel geht man von einer Population von mehr als 2400 Wölfen aus. Aus südost- und osteuropäischen Ländern liegen kaum gesicherte Daten vor; in Slowenien sollen es 40, in Mazedonien 260, in Kroatien 200, in Serbien 800 Tiere sein.

Die Jagd auf den Wolf boomt

Wie sieht die Zukunft des Wolfs aus? Eher düster. Die sowieso schon kleinen Rudel sind bedroht durch Inzucht, die genetische Vermischung mit dem allgegenwärtigen Haushund, tödliche Zusammenstösse mit Autos sowie Krankheiten, von denen vor allem Welpen betroffen sind. In wolfsreiche Gebiete lassen sich nicht nur Beobachtungs-, sondern auch Jagdreisen buchen. In Mazedonien kann ein Wolf für 3000 Euro erlegt werden, wobei «Krankschiessen» – das Tier mit einem Schuss nur verwunden – als Abschuss gilt. In manchen Gegenden wird mehr oder weniger offen zur illegalen Jagd aufgerufen.
Die Tiere haben also immer noch gute Gründe, sich zu verstecken. Mag für viele Menschen das Aufspüren eines Wolfs ein grosses Erlebnis sein, so gilt für das Tier sinngemäss, was Georg Christoph Lichtenberg über Amerikas Ureinwohner anmerkte, als Kolumbus landete: «Der Wolf, der die Spur des Menschen entdeckt, macht eine furchtbare Entdeckung.»
 



* Der Mensch ist dem Wolf eine Bestie. Eigentlich Homo homini lupus «Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf» des römischen Dichters Plautus. Der Spruch hat es dank des Philosophen Thomas Hobbes in unser politisches Vokabular geschafft.