Das World Economic Forum steht vor der Tür. Politiker:innen und CEOs machen sich in Davos für «grünes Wachstum» stark. Doch dieser Fokus treibt Sozial- und Umweltkrisen an. Wachstum ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Wollen wir eine überlebensfähige, gesunde Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen, brauchen wir eine neue Wirtschaftspolitik – auch für die Schweiz. Eine Wirtschaftspolitik, die unsere Lebensfähigkeit stärkt, statt sie gefährdet. Die Zeit ist reif, unsere Gesellschaft postwachstums-kompatibel zu machen.

Nächste Woche beginnt das 54. World Economic Forum (WEF). Alles, was in Politik und Wirtschaft Rang und Namen hat, strömt wieder nach Davos. Der Bundesrat hat mindestens 40 bilaterale Treffen. Karin Keller-Sutter zum Beispiel wird gemäss Medienmitteilung das WEF nutzen, um Entwicklungen im Bereich des Wirtschaftswachstums zu erörtern. Und Wirtschaftsbundesrat Guy Parmelin nutzt das WEF, «um verschiedene thematischen Schwerpunkte in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Forschung und Innovation voranzutreiben».1

Nachhaltiger Wohlstand statt «Grünes Wachstum»

Alle besprochenen Massnahmen sind an eine Bedingung gekoppelt – sie müssen mit dem übergeordneten Ziel der bundesrätlichen Wirtschaftspolitik verträglich sein. Sie müssen den materiellen Wohlstand nachhaltig sichern, die Wettbewerbsfähigkeit fördern und den Marktzugang stärken: allesamt Massnahmen, um das Wirtschaftswachstum zu sichern.2 Das Wunschziel heisst «grünes Wachstum», das Versprechen ist «Wohlstand».

«Grünes Wachstum» hofft auf die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Naturbelastung. Um nachhaltig zu sein, muss die Entkoppelung rasch stattfinden, so dass sie unsere globale Lebensgrundlage und die künftiger Generationen vor dem Umweltkollaps schützt. Studien zeigen, dass eine solche Entkoppelung bisher noch nicht nachgewiesen werden konnte.3 Bei einer grünen, aber weiter wachsenden Wirtschaft nimmt der Ressourcenverbrauch zwar weniger stark zu, aber er nimmt immer noch zu. Werden schmutzige Volkswirtschaften grösser, tun dies auch Umweltkrisen. Das Wachstum mag grüner sein, nachhaltig ist es nicht.

© Tracy Matsue Loeffelholz

Das Problem: Wir stecken in der Wachstumsfalle

Die Welt krankt am wirtschaftspolitischen Wachstumsdrang von Ländern wie der Schweiz. Eine Greenpeace-Studie vom vergangenen Jahr zeigt: Die Schweizer Volkswirtschaft (alle Haushalte, Unternehmen und Behörden) überschreitet die planetaren Grenzen.

Was bedeutet das? Die neun planetaren Grenzen beschreiben die sichere Zone für die menschliche Zivilisation. Wird auch nur eine dieser Grenzen für längere Zeit überschritten, ist das weitere Bestehen menschlicher Zivilisationen nicht mehr gesichert. Je mehr Grenzen überschritten sind, und je stärker diese überschritten sind, desto grösser ist das Risiko für zivilisationsgefährdende ökologische Kollapse.

© Tracy Matsue Loeffelholz

Die Schweiz überschreitet derzeit nicht nur eine, sondern mindestens vier der neun planetaren Grenzen. Die Schweizer Volkswirtschaft trägt dazu bei, die Welt zu einem weniger sicheren, weniger freien und weniger bewohnbaren Ort zu machen. Die Schweiz steckt in der Wachstumsfalle: ihre Volkswirtschaft wird effizienter, aber auch immer grösser. Damit nimmt auch ihre Belastung auf die planetaren Grenzen insgesamt zu, statt dass sie sinkt.4

Das bedeutet: Unsere Volkswirtschaft trägt uns Jahr für Jahr weiter weg von einer sicheren und gerechten Zukunft, und das in immer grösseren Schritten. Die Schweizer Wirtschaftspolitik gefährdet unseren Wohlstand, anstatt ihn zu sichern. Mit ihrem grünen Wachstumswunsch wettet sie auf ein Pferd, das noch kein Rennen gewonnen hat. Kein Wunder: Es rennt in die falsche Richtung.

Gefangen in der Wachstumsabhängigkeit

Doch weshalb ist die schweizerische Wirtschaftspolitik so auf Wachstum versessen? Ein Grund liegt in dessen Geschichte, und die ist gar nicht so alt. Denn erst seit den 1950-er Jahren setzten viele Länder zunehmend auf wirtschaftliches Wachstum. Seither wird der Erfolg eines Landes hauptsächlich daran gemessen, wie stark sein Wachstum ist – egal, wie es dabei um Ungleichheit, Umweltzerstörung, Demokratie, Gesundheit und Zufriedenheit steht.

Gut 70 Jahre Wachstumspolitik hat nicht nur in der Umwelt Spuren hinterlassen. Diese Politik hat eine neue, wachstumsabhängige Gesellschaft geschaffen. Kernaufgaben wie die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen werden zunehmend über das erwartete Wirtschaftswachstum finanziert. In ihrer heutigen Form sind sie wachstumsabhängig. Das heisst, würde unsere Wirtschaft über längere Zeit schrumpfen, etwa weil plötzlich alle Menschen ihre privaten Güter reparieren statt neu kaufen, würde dies eine soziale Krise auslösen. Wir brauchen stattdessen einen Systemwandel. Was wir damit meinen, zeigen wir in diesem Video:

Konsequenzen und Chancen:
Wachstum neu denken und umsetzen

Schrumpfen des jetzigen Systems ist also keine Lösung. «Weiter wie bisher» geht auch nicht. Was wir brauchen, ist ein Umbau unserer Institutionen, so dass sie unabhängig vom Wachstum funktionieren. Mit anderen Worten: Sie müssen postwachstum-kompatibel werden. Klingt mühselig. Doch das Gegenteil ist der Fall: Viele Institutionen erreichen ihre Ziele besser, wenn sie sich auf ihre hauptsächlichen Aufgaben konzentrieren können. Beispiel öffentliche Bildung: Es ist vielfach erwiesen, dass ausreichend finanzierte öffentliche Schulen bessere Resultate erzielen, als ein profitorientiertes, privates Bildungswesen.

Weitere Beispiele: In Ländern mit starker gemeinschaftlicher Gesundheitsversorgung ist die Lebenserwartung höher als in jenen ohne. Bezahlbarer öffentlicher Nahverkehr befördert mehr Leute und ist platzsparender und umweltfreundlicher als der privatisierte Verkehr. Und: Kostenlose Freibäder bieten mehr Menschen einen Badeplausch als haufenweise Privatpools. 

Aquarell illustration of a whale and butterflies
© Tracy Matsue Loeffelholz

Darin liegt die grosse Chance: Wir können ein breiteres, gesellschaftliches Wohlergehen erreichen, wenn wir uns vom Wachstum verabschieden. Wohlstand für mehr Menschen und auf Dauer, statt mehr Wohlstand für wenige und nur noch für kurze Zeit. Hierfür gibt es eine Reihe von Massnahmen und Lösungen:

  • Universal Basic Services (universelle öffentliche Versorgung): Indem wir die gemeinschaftliche Versorgung mit grundlegenden Dienstleistungen und Gütern stärken, entziehen wir immer mehr Lebensbereiche dem Markt und damit der Wachstumslogik. Beispiele: Kostenloser öffentlicher Nahverkehr, lokale Energieinfrastruktur, sozialer Wohnungsbau.
  • Wellbeing-Indikatoren: Anstatt das Wirtschaftswachstum mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP) zu messen, entscheiden wir uns für andere Indikatoren. Wie steht es um die Zufriedenheit und die Ungleichheit? Hat unsere Volkswirtschaft einen netto-negativen oder einen netto-positiven Effekt auf die Umwelt? Nimmt die Armut zu oder ab? Wie steht es um die Gleichstellung oder um die Wohnungsnot? All diese Parameter können wir mit Wellbeing-Indikatoren messen und bewerten. Über diese Indikatoren können wir in einem demokratischen Prozess diskutieren und sie einführen.
  • Wellbeing-Budget: Wir nehmen Wellbeing-Indikatoren als Basis für die Ausrichtung des Staatsbudgets. Übergeordnetes Ziel ist das gesellschaftliche Wohlergehen.
  • Unternehmen müssen nicht rendite-orientiert geführt werden. Sie müssen sich nicht dem Wettbewerbszwang – und damit dem Wachstumszwang – aussetzen. Stattdessen können sie zum Beispiel auf Verantwortungseigentum basieren und kooperativ oder gemeinschaftlich organisiert sein. Das gilt auch für Banken- und das Finanzsystem.5
  • Jene Arbeitsbereiche ausbauen, die 1) dem gesellschaftlichen Wohlergehen dienen und 2) umweltschonend- oder regenerierend sind. Dazu gehören der Pflege- und Gesundheitsbereich, die regenerative Landwirtschaft oder ein auf Kreislaufwirtschaft und Renovationen ausgerichteter Bausektor.
  • Arbeit weniger besteuern, dafür Vermögen, Erbschaften und den Verbrauch von Primärressourcen stärker belasten.
  • Make Polluters Pay: Geld von umweltzerstörerischen, kreislauf-untauglichen Bereichen, wie etwa der Rohstoffindustrie, in regenerative Bereiche umlenken.

Kurz: Life over Growth! Don’t grow a broken system, change it! Wir haben mehr zu gewinnen, als uns vielleicht bewusst ist.

© Tracy Matsue Loeffelholz

Fussnoten

1 admin.ch; Das Programm der Mitglieder des Bundesrates am WEF-Jahrestreffen 2024., Stand 12.1.2024.

2 admin.ch; Bundesrat verabschiedet die Leitlinien und Ziele für die Legislaturplanung 2023–2027., Stand 4.1.2024.

3 Haberl, H. et. al. (2020) A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights. Parrique, T. et. al. (2019) Decoupling Debunked, Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability Vogel, J. & Hickel, J. (2023) Is green growth happening? An empirical analysis of achieved versus Paris-compliant CO2–GDP decoupling in high-income countries, Stand 4.1.2024.

4 Mit Bevölkerungswachstum hat dies wenig zu tun. Vermögende schädigen die Umwelt sehr viel stärker als nicht Vermögende. Weltweit sind die Emissionen in den vergangenen 20 Jahren gewachsen. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung hat zusammen aber nur 16% dieser Zunahme verursacht, während das reichste 1% für über 21% der Zunahme verantwortlich ist. Bei ersteren geht die Zunahme auf die Verbesserung der grundsätzlichen Lebensbedingungen zurück, bei letzteren hauptsächlich auf wachstumstreibende Investitionen und Luxuskonsum. Das bedeutet, nicht das Bevölkerungswachstum ist der zentrale, sozioökonomische Auslöser der Umweltkrisen, sondern Ungleichheit und Wachstumslogik. Anders gesagt: Sehr wenige Menschen sind verantwortlich für sehr viel Krise.

5 Greenpeace, Haberstich (2023): Warum Banken postwachstum-kompatibel werden sollten, Stand 4.1.2024.