Ende März waren die Schweizer KlimaSeniorinnen zur Anhörung ihrer Klage in Strasbourg. Am 27. September setzen sich die siebzehn Richter:innen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Klage von sechs portugiesischen Jugendlichen auseinander. Angeklagt sind 32 Staaten, sie unternähmen nicht genug gegen den fortschreitenden Klimawandel. Die Stellungnahmen der Staaten – oder müsste man sie Verteidigungsschriften nennen? – lassen tief blicken: Sie reichen von fein ziselierten juristischen Argumenten bis zur Leugnung der Risiken des Klimawandels für die Menschheit. 

Beginnen wir mit der Eingabe der offiziellen Schweiz, die bereits anlässlich der Klage der KlimaSeniorinnen eine wenig überzeugende Figur gemacht hat. Und die jetzt erneut auf der Anklagebank sitzt. Sie schreibt zu ihrer Verteidigung gegen die sechs portugiesischen Jugendlichen: “Nach Ansicht der Schweizer Regierung zielt ihr Antrag auf die Wahrung des kollektiven Interesses ab. Die Bedrohung ihrer persönlichen Situation erscheint künstlich konstruiert auf der Grundlage von disparaten Indizien, allgemeinen Befürchtungen und einfachen Vermutungen.» Der Zusammenhang zwischen Waldbränden und Extremwetter ist zwar wissenschaftlich erwiesen, für die offizielle Schweiz scheint es sich dabei jedoch um nicht mehr als um nicht zueinander passende (=disparate) Indizien zu handeln. Bemerkenswert. 

Auch andere Länder verniedlichen in ihren Stellungnahmen zuhanden des Gerichts die Zukunftsängste der portugiesischen Jugendlichen. Allen voran deren Heimatland: “Die Argumente der Kläger:innen bestehen nur aus Zukunftsängsten, die blosse

Vermutungen oder allgemeine Wahrscheinlichkeiten sind. Es fehlt der Nachweis, dass eine ernsthafte Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese bei den Antragstellern persönlich eintreten werden.»  Noch plakativer formuliert es Estland: «Jeder Mensch kann aus irgendeinem Grund Angst vor der Zukunft haben.» Mehrere Staaten bemängeln, dass die portugiesischen Jugendlichen beziehungsweise das unterstützende Rechtsteam keine Beweise für den Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und der erlebten Situationen eingereicht haben. Das Vereinigte Königreich formuliert es so: “Es gibt jedoch keine Belege für diese angeblichen Auswirkungen (die Jugendlichen führen Antriebslosigkeit, Eingesperrtsein, Schlaflosigkeit ins Feld), geschweige denn Beweise dafür, dass sie durch den Klimawandel verursacht wurden und nicht zu den normalen Auswirkungen des Lebens in Südeuropa gehören.”

Geradezu verstörend ist die Argumentation von Griechenland, das dieses Jahr zum wiederholten Mal von verheerenden Waldbränden heimgesucht wurde: «Die bisher festgestellten Auswirkungen des Klimawandels scheinen sich nicht direkt auf das menschliche Leben oder die menschliche Gesundheit auszuwirken.” Und an anderer Stelle: “Der Temperaturanstieg kann sich positiv auf die Sterblichkeit auswirken, wenn Länder mit kälterem Klima begünstigt werden: es ist zu betonen, dass grosse Unsicherheit darüber besteht, ob die endgültige Sterblichkeitsbilanz (als Folge des Klimawandels) positiv oder negativ ausfallen wird.» In die Nähe von Klimaleugner:innen begibt sich auch Ungarn: “Die Kläger:innen haben nicht nachgewiesen, dass sie persönlich nicht zu diesem globalen Phänomen beitragen; ganz im Gegenteil, der vorliegende Antrag selbst hat bereits einen riesigen CO2-Fussabdruck erzeugt. Daher sind sie teilweise für die Umweltauswirkungen verantwortlich, die angeblich ihre Rechte im Rahmen der europäischen Menschenrechtskonvenion beeinträchtigen.”

Der Haken: Die Paragrafen 2 und 4.2 des Pariser Abkommens

Fast ausnahmslos führen die angeklagten Staaten ins Feld, dass die CO2-Reduktionsziele des Pariser Abkommens für die Vertragsstaaten freiwillig und nicht verbindlich sind. Zur Erinnerung: Diese Freiwilligkeit war ein Kompromiss, ohne den das Klimaabkommen (COP21, 2015 in Paris) gar nicht zustande gekommen wäre.
Irland formuliert in seiner Eingabe an das Gericht: «Die Verpflichtungen der Vertragsparteien aus dem Pariser Abkommen sind weder kollektive Verpflichtungen, unteilbare Verpflichtungen oder Ergebnisverpflichtungen. Vielmehr handelt es sich bei den auferlegten Verpflichtungen um individuelle Verhaltenspflichten.” Und die Niederlande: “Das 1,5°C-Ziel wird im Pariser Abkommen als Bestreben (‹pursuing efforts›) ausgedrückt, nicht als verbindliches Ziel oder als Verpflichtung, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen.» Fast schon frivol mutet der Optimismus in der Stellungnahme Polens an: ”Es ist davon auszugehen, dass die Durchführung der im Abkommen vorgesehenen Massnahmen ausreicht, um das Ziel des Abkommens zu erreichen.”

Fazit

Die Eingabe der sechs Jugendlichen an den EGMR mag aus rein juristischer Perspektive ihre Schwächen haben. Immerhin hat das höchste europäische Gericht ihre Klage nicht nur zugelassen, sondern sogar der Grossen Kammer zugewiesen und ihr damit hohe Priorität eingeräumt. Das enorme internationale Interesse an den dieses Jahr in Strasbourg angehörten Klimafällen macht klar: Der EGMR ist gewillt, sich ernsthaft und vertieft mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der KIimawandel die Menschen in einer Art und Weise tangiert, dass deren verbriefte Menschenrechte verletzt werden. 

Die Urteile in den drei vom EGMR behandelten Klagen – neben den Schweizer KlimaSeniorinnen und den portugiesischen Jugendlichen hat der Bürgermeister einer französischen Stadt geklagt – werden für 2024 erwartet. Je nach Urteil könnten die angeklagten Staaten darauf verpflichtet werden, ambitioniertere Klimaziele zu verfolgen.

Die zitierten Stellungnahmen hat das Global Legal Action Network (GLAN) zusammengetragen. Der Originalwortlaut der Zitate ist in englischer oder französischer Sprache, die deutschen Übersetzungen stammen von Greenpeace Schweiz.

Wer sind die Klimaseniorinnen?