Als Protest gegen Atomwaffentests starteten Greenpeace-Aktivisten heute vor vierzig Jahren eine waghalsige Aktion: Am 28. August 1983 flogen sie mit einem Heissluftballon über die Mauer von West- nach Ostberlin. Einer der Überflieger war Gerd Leipold, damals Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland. Er erinnert sich an einen Schreckmoment und erzählt, was nach der Landung in der DDR passiert ist.
Die Mauer durch Berlin war damals die am besten gesicherte, militärisch bewachte Grenze der Welt. Bei dem Versuch, sie von Osten zu überwinden, wurden immer wieder Menschen erschossen. Hattet ihr keine Angst?
Nein, nicht besonders. Das lag auch am Aktionsmittel: Ein Ballon ist etwas sehr Freundliches, Friedliches. Die meisten Menschen reagieren positiv darauf. Das hatten wir beim Training erlebt. Und dann hat unser Team natürlich sofort nach dem Start alle relevanten Behörden im Westen und in der DDR angerufen. Meine größte Angst war deshalb eigentlich bei der Vorbereitung, dass wir das Budget überschreiten. Und wir hatten eine Mission: Wir waren überzeugt, dass die Aktion wichtig ist und waren bereit, dafür ein Risiko einzugehen.
Was war euer Ziel?
Die Greenpeace-Abrüstungskampagne forderte die Abschaffung von Atomwaffen und die Einstellung aller Tests. Damals war es eine der größten Greenpeace-Kampagnen. Anfang der 1980-er Jahre drohte in Vergessenheit zu geraten, dass Ost und West immer noch Atomwaffen testeten und welche katastrophalen Auswirkungen das hatte. Das wollten wir ins öffentliche Bewusstsein rücken. Und Berlin war der einzige Ort weltweit, wo wir mit unserer Botschaft vier Atommächte gleichzeitig erreichen konnten. Denn die Stadt stand damals formal immer noch unter Kontrolle der vier Alliierten Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und der USA. Und anders als die Stadt, die geteilt war, kontrollierten sie den Luftraum gemeinsam.
Ihr seid von einem Sportplatz in West-Berlin gestartet. Zuvor gab es einen Schreckmoment, weil ihr den Transporter mit dem Ballon nicht gefunden habt.
Ja, den hatte der Fahrer in den Tagen vorher immer wieder umgeparkt, damit er nicht auffällt. Und als es dann ernst wurde, hat er ihn erst nicht gefunden. Das zeigt, unter was für einer Anspannung wir alle standen. Berlin war ja damals auch die Stadt mit den meisten Spionen weltweit. Wir haben befürchtet, dass einer vorher Wind bekommt. Was aber zum Glück nicht passiert ist. Aus Sicherheitsgründen hatten wir auch nur wenige Medienvertreter zum Start eingeladen, taz, Stern, Spiegel und die Deutsche Presseagentur.
Dann trieb euch der Wind auf die Berliner Mauer zu …
Ja, als wir uns bei Lichtenrade der Grenze näherten, hat John, der Pilot, den Ballon vorsichtshalber etwas höher fliegen lassen. Aber die Grenzsoldaten haben uns nur mit Ferngläsern beobachtet und nichts unternommen. Ob sie zu dem Zeitpunkt schon informiert waren, weiss ich bis heute nicht.
Stimmt es, dass der britische Aktivist John Sprange extra für die Aktion gelernt hatte, wie man einen Ballon fliegt?
Ja, John war ausgebildeter Steuermann der britischen Handelsmarine. Und er hatte auch in der Luft ein großes Talent zum Steuern. Deshalb hat er das übernommen und ich die Kommunikation mit der Berliner Luftraumüberwachung. Einen Pilotenschein hatte keiner von uns. Das hätte aber auch keinen Unterschied gemacht, denn in ganz Berlin war es damals ohnehin verboten, privat zu fliegen.
Wie ging es dann weiter?
Wir sind ohne Zwischenfälle über Berlin hinweg geflogen und auf einem Feld runtergegangen. Kurz vor der Landung machten Passanten uns Zeichen, dass wir wieder aufsteigen sollten. Sie dachten, wir wollten mit dem Ballon aus der DDR fliehen und wollten uns sagen, dass wir immer noch im Osten waren. Dann sind sie aber schnell weitergegangen. Wir sind gelandet und erstmal im Korb geblieben, weil der Ballon sonst weggeflogen wäre. Nach ein paar Minuten kamen DDR-Grenzsoldaten und richteten die Gewehre auf uns. Mitgenommen hat uns dann aber erst die Volkspolizei.
Hattet ihr keine Angst, dass ihr in der DDR ins Gefängnis müsst?
Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass wir für einige Tage oder Wochen ins Gefängnis müssen. Dadurch hätten wir auch das Thema Atomwaffentests so lange in der Öffentlichkeit halten können. Aber wir wurden nur auf der Polizeiwache Königs Wusterhausen befragt und drei Stunden später direkt zum Grenzübergang Friedrichstrasse gebracht. Vor einer langen Haftstrafe in der DDR hatten wir keine Angst. Zum einen hatten wir ja Greenpeace als große Organisation im Rücken. Zum anderen wäre das vermutlich politisch nicht im Interesse der DDR gewesen. War es dann ja auch nicht.
Wie hat der Westen reagiert?
Dort hatten wir mehr Probleme! Und zwar nicht wegen des Fluges, sondern wegen des Ballons. Weil Berlin damals noch offiziell unter Besatzung stand, war es verboten, ein «Kriegsgerät» in die Stadt zu bringen. Dazu zählten alle Fluggeräte, also auch der Ballon. Deshalb hat die Berliner Staatsanwaltschaft gegen uns ermittelt. Die Strafe dafür ging bis zur Todesstrafe. Aber am Ende wurde das Verfahren gegen eine Geldbusse eingestellt. Den Ballon haben wir 1987 von den DDR-Behörden zurückbekommen, gegen 8523 Westmark für Lagerung und Transport.
Hat die Aktion ihr Ziel erreicht?
Das kurzfristige Ziel, den Protest gegen Atomwaffentests in die Medien zu bringen, auf jeden Fall. Die Bilder gingen um die Welt. Zum politischen Ziel, diese Tests zu stoppen, hat sie sicher beigetragen. Jeder Kampf wird ja von einer Bewegung getragen, von der man nur ein Teil ist. Aber gemeinsam verändern wir eben etwas.
Atomwaffen sind immer noch nicht abgeschafft. Wegen des Angriffs auf die Ukraine halten sie viele sogar wieder für notwendig, um Diktatoren wie Putin in Schach zu halten. Wie siehst du das?
Diktatoren sind ein Grund mehr, Atomwaffen abzuschaffen. Der russische Präsident wird ja durch seine Atomwaffen noch gefährlicher. Und je mehr Länder Atomwaffen besitzen, desto weniger kann Abschreckung funktionieren und desto mehr steigt die Gefahr, dass ein Land Atomwaffen einsetzt. Es braucht nur einen Diktator, der nichts mehr zu verlieren hat und Atomwaffen einsetzt, und schon stehen wir in einem verheerenden Atomkrieg. Leider hat die Welt es nach Ende des Kalten Krieges versäumt, alle Atomwaffen abzuschaffen, wie wir es damals gefordert haben. Die Welt wäre heute sicherer ohne Atomwaffen. Ich bin sehr froh, dass Greenpeace da immer noch wachsam ist.
Hast du heute noch Kontakt zu John?
Ja, ich bin ja der Patenonkel von seiner Tochter und habe ihn gerade letzten Monat in England besucht. Er ist bis heute mein bester Freund.