Es könne «Anlass bestehen, zu prüfen, ob die bisherige Bewiligungspraxis des Bundesamts für Energie die Merkmale des Amtsmissbrauchs» aufweise. Zu diesem brisanten Schluss kommt der Zürcher Rechtsprofessor Heribert Rausch. Der Umweltrechtsexperte hat im Auftrag von Greenpeace ein Gutachten zu rechtlichen Aspekten bei Bewilligungen von Atomtransporten verfasst. Heute sagte Rausch an einer Pressekonferenz, dass im Gegensatz zur Auffassung des BfE das Atomgesetz anwendbar ist. Es sieht scharfe Strafen vor, wenn die menschliche Gesundheit durch Freisetzung von Radioaktivität gefährdet wird. Nach Auffassung des Arztes Martin Walter ist diese gesundheitliche Gefährdung unbestritten. Greenpeace fordert, dass die Schweiz sofort aus der Wiederaufarbeitung aussteigt.
Zürich. Die Ausfuhr abgebrannter Brennelemente in die Wiederaufarbeitungsanlagen Sellafield und La Hague ist seit längerem heftig umstritten. Greenpeace reichte im November 1997 Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Atomindustrie ein, weitere Strafanzeigen von Anwohnern der betroffenen Gebiete in Frankreich und England prangerten auch die Bewilligungspraxis der zuständigen Bundesbehörden an.In der Folge entbrannte ein Rechtsstreit. Ein Vertreter des Rechtsdienstes im Bundesamt für Energie meinte, für die Wiederaufarbeitung im Ausland sei nicht das Atomgesetz, sondern das Strahlenschutzgesetz anwendbar. Der Rechtsprofessor Heribert Rausch, der für Greenpeace abgeklärt hat, welches Gesetz zur Anwendung kommt, wertet diese Auffassung als «falsch». Und gemäss Atomgesetz mache sich strafbar, wer jemanden vorsätzlich oder fahrlässig einer ionisierenden Strahlung aussetzt (AtG Art. 31, Abs. 1 u. 3) – selbst wenn die Tat im Ausland geschehe und dort nicht strafbar sei (Art. 36). Prof. Heribert Rausch stellte an der Pressekonferenz unmissverständlich fest: «Haben Atomtransporte nach La Hague und Sellafield eine Gesundheitsgefährdung durch Freisetzung von ionisierender Strahlung zur Folge, so aktualisieren sich jene Strafbestimmungen des Atomgesetzes (Art. 31 in Verbindung mit Art. 36) – und diesfalls kann auch Anlass bestehen, zu prüfen, ob die bisherige Bewilligungspraxis des Bundesamts für Energie (BfE) die Merkmale des Amtsmissbrauchs aufweist.» Rausch hatte bereits in einem früheren Gutachten Ungereimtheiten bei der Bewilligung von Atomtransporten festgestellt. Dr. med. Martin Walter (ÄrztInnen für Soziale Verantwortung) betonte, es bestünden nicht die geringsten wissenschaftlichen Zweifel, dass ionisierende Strahlung Schäden am Erbgut auslöse. An der Pressekonferenz wurde das Ausmass der radioaktiven Verseuchung rund um Sellafield anhand von amtlichen Berichten des britischen Ministeriums für Landwirtschaft und Fischerei dokumentiert. Lokal produzierter Spinat etwa war dermassen verstrahlt, dass er in der Schweiz als radioaktiver Abfall behandelt werden müsste. Der internationale Protest gegen die radioaktiven Abgaben ins Meer – allen voran der skandinavischen Länder – ist in der Schweiz jahrelang ignoriert worden. Jetzt nimmt der Protest an Schärfe zu: Die Nordatlantik- Konferenz OSPAR wird im Juni über einen Antrag Dänemarks abstimmen, die Wiederaufarbeitung zu verbieten; Irland kündigte rechtliche Schritte gegen den Weiterbetrieb von Sellafield an. Die Schweiz, die das Problem jahrelang verdrängt hat, muss nachziehen: Greenpeace fordert die sofortige Einstellung der Wiederaufarbeitung des Atommülls, der zur Zeit tonnenweise im Ausland gelagert ist.