Heribert Rausch, emeritierter Professor für öffentliches Recht, wirft der schweizerischen Atomaufsichtsbehörde (Ensi) in einer Rechtsschrift „gravierende Rechtsverdrehung“ vor. Er verlangt, dass das Ensi Falschaussagen widerruft und seiner Aufsichtspflicht nachkommt, statt die gesetzlichen Vorschriften auszuhebeln. Trotz einer unbefriedigenden Antwort des ENSI auf die Eingabe sieht Greenpeace angesichts diverser juristischer und politischer Verfahren, welche die gleichen Punkte beanstanden fürs erste von einer Bundesverwaltungsgerichtsbeschwerde ab.
Der emeritierte Universitätsprofessor Heribert Rausch, einer der Väter der Schweizer Umweltgesetzgebung, kommt in der Eingabe, die er für die Umweltorganisation Greenpeace und im Namen von Mühleberg-AnwohnerInnen vergangene Woche dem Ensi zugestellt hat, zu erschreckenden Schlüssen: Das Ensi habe die Schweizer Bevölkerung im Nachgang der Fukushima-Katastrophe nicht nur falsch informiert, sondern fälschlicherweise behauptet, dass ein Atomkraftwerk erst ausser Betrieb genommen werden müsse, wenn eine „unmittelbare Gefahr“ für die Bevölkerung bestehe. Diese Auffassung sei juristisch nicht haltbar und ähnlich unsinnig, wie wenn jemand behauptet, ein Auto benötige erst dann eine Handbremse, wenn die Fussbremse zu versagen droht.
Rausch verlangt im Namen von Greenpeace vom Ensi, die Falschaussagen zu widerrufen, sich zur wahren Rechtslage zu bekennen, und seinem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, die AKW-Betreiber zu kontrollieren. Dazu gehöre, ein AKW unverzüglich ausser Betrieb zu nehmen, wenn bei einem Störfall die Grenzwerte für radioaktive Freisetzungen überschritten werden könnten. Dies ist bei Mühleberg der Fall, wie Sicherheitsuntersuchungen beruhend auf ersten Erkenntnissen aus Fukushima in den letzten Monaten gezeigt haben.
Das Problem: Das Ensi handelt eigenmächtig.
Das Resultat:
- Eingaben werden, wenn überhaupt, erst mit grosser Verzögerung behandelt.
- Die Gesetzgebung wird zugunsten der Betreiber missdeutet.
- Das Recht der Öffentlichkeit auf Einsicht von wichtigen Dokumenten wird missachtet.
- Es werden lasche Fristen für sicherheitsrelevante Nachrüstungen gesetzt.
Besonders stossend: Auch die juristische Eingabe von Greenpeace musste an das Ensi gerichtet werden, weil es keine wirksame Oberaufsicht gibt, weder durch den Bundesrat noch durch das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK. So entscheidet das Ensi eigenmächtig, wie es mit juristischen Anträgen, Eingaben und Kritik umgehen will. Das Kontrolldefizit führte in jüngster Zeit auch dazu, dass strittige Fragen wie die Ausserbetriebnahme der Altreaktoren Mühleberg und Beznau zwischen dem Ensi und der Bundesverwaltung hin- und hergeschoben werden.
«Greenpeace nimmt die willkürliche Interpretation des Gesetzes durch die Aufsichtsbehörde nicht länger hin», sagt Kaspar Schuler von Greenpeace Schweiz. Der Schutz der Bevölkerung vor einer Atomkatastrophe habe absoluten Vorrang. «Wir können uns keine Atomaufsichtsbehörde leisten, die einseitig die Interessen der AKW-Betreiber wahrnimmt. Wir können uns auch nicht leisten, dass diese Behörde selbstherrlich und ohne Oberaufsicht agiert.»
Update 28. Oktober 2011: Greenpeace zieht Verfahren nicht weiter
Das ENSI hat Ende September auf die Greenpeace-Eingabe reagiert. Die Antwort deckt sich weitgehend mit jener des Bundesrats auf vergleichbare parlamentarische Vorstösse: Über die Anwendung der Ausserbetriebnahmeverordnung seien missverständliche Botschaften gesandt worden und es bestünden unklare Punkte.
In den Augen von Greenpeace reizt das ENSI den enormen Interpretationsspielraum, was eine „akute oder unmittelbare Gefahr“ ist, zum Teil bis an die äusserste Grenze aus oder überschreitet ihn sogar, indem es für die Verbesserung von evidenten Anlagemängeln zu komfortable Fristen gewährt. Da diese Punkte, die Rolle des ENSI sowie die Mängel des AKW Mühleberg auch Gegenstand anderer juristischer und politischer Auseinandersetzungen sind, verzichtet Greenpeace auf den Weiterzug des Verfahrens an das Bundesverwaltungsgericht. Greenpeace behält sich aber vor, bei wiederholten largen Auslegungen der Gesetze erneut juristisch zu intervenieren.
Weitere Informationen:
Kaspar Schuler, Bereichsleiter Klima & Energie bei Greenpeace Tel. 079 702 86 52
Prof. Heribert Rausch Tel. 044 910 73 12