Nach dem Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) muss die Schweiz ihre Klimaziele überarbeiten sowie stärkere Massnahmen zur Begrenzung der Klimaerwärmung ergreifen. Angesichts der besorgniserregenden Entwicklung in der Rechtskommission des Ständerats fordern die KlimaSeniorinnen das Parlament und den Bundesrat auf, das Urteil ernst zu nehmen und die Institutionen zu schützen. Statt auf Basis einer fehlerhaften Erklärung das Urteil zu bekämpfen, braucht es nun eine unabhängige wissenschaftliche Analyse zu den Klimazielen unter Berücksichtigung des nationalen CO2-Budgets vis-à-vis dem verbleibenden globalen CO2-Budget. 

Mit seinem Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen hat der EGMR festgestellt, dass es einen menschenrechtlich begründeten Anspruch auf wirksamen Klimaschutz gibt: Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) umfasst ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität. «Die weithin anerkannte Unzulänglichkeit der staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels verschärft die klimabedingten Bedrohungen der Menschenrechte erheblich. Vor diesem Hintergrund hat der EGMR den Fall der KlimaSeniorinnen zum Anlass genommen, die Schutzpflicht von Staaten im Klimakontext zu konkretisieren», sagt Cordelia Bähr, leitende Anwältin der KlimaSeniorinnen. 

Bei der Konkretisierung der aus der EMRK fliessenden Schutzpflicht hat der EGMR u.a. das im Pariser Übereinkommen definierte 1,5°C-Limit sowie die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Weltklimarats IPCC herangezogen. Die Rechtskommission des Ständerates hingegen ist bei ihrer Erklärung zum Klima-Urteil unsorgfältig vorgegangen. 

Eine Erklärung voller Fehler und Unkenntnis

Falsch ist, dass durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils schon erfüllt seien. Das ist eine Behauptung, die jeder Grundlage entbehrt. 

  • Die Rechtskommission des Ständerats irrt, wenn sie suggeriert, dass mit dem Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KIG) die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt seien. Die im KIG festgeschriebenen Zielsetzungen sind ungenügend, da sie nicht auf einem fairen nationalen CO2-Budget vis-à-vis dem verbleibenden globalen CO2-Budget beruhen.
  • Die mit dem Beschluss zur Änderung des CO2-Gesetzes vom 15. März 2024 festgeschriebenen Zielsetzungen beheben zwar die vom EGMR festgestellte Regelungslücke, sie sind jedoch ungenügend, da auch sie nicht auf einem fairen nationalen CO2-Budget vis-à-vis dem verbleibenden globalen CO2-Budget beruhen. Der EGMR hält fest: Jeder Staat ist in der Verantwortung, seinen Teil dazu beizutragen, dass die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C begrenzt wird. Doch wissenschaftliche Analysen zeigen: Würden alle so handeln wie die Schweiz, würde sich die Erde um bis zu 3°C erwärmen.  
  • Es ist irrelevant, dass das Pariser Übereinkommen keine nationalen Treibhausgasbudgets vorschreibt. Diese Anforderung ergibt sich aus der menschenrechtlichen Schutzpflicht. Die RK-Ständerat liegt sodann falsch, wenn sie wie bereits die Schweiz im Verfahren vor dem EGMR darauf verweist, dass aus den nationalen Klimazielsetzungen ein CO2-Budget «abgeleitet» werden könne. «Nationale Budgets ohne Bezugnahme zu einem globalen Budget besagen einzig, wie viel CO2 sich die Schweiz selbst erlaubt; sprich: wie viel vom verbleibenden Kuchen die Schweiz essen möchte, aber nicht, wie viel sie essen kann, damit jeder noch sein Stück hat», sagt Georg Klingler, Projektinitiator und Klimaexperte bei Greenpeace Schweiz. «Die eigene Bevorteilung steht der gemeinsamen Lösung des Problems im Weg, ist zutiefst unfair und mit internationalem Recht nicht vereinbar.» 
  • Auch der Vorwurf der Rechtskommission des Ständerats, der EGMR habe mit dem Urteil den Ermessensspielraum der Staaten und seine subsidiäre Rolle missachtet, ist zurückzuweisen. «Wenn die Politik eines Staates die Menschenrechte berührt, ist dies nicht mehr nur eine Frage der Politik, sondern auch eine Rechtsfrage. Der EGMR hat sowohl die Einhaltung der EMRK sichergestellt, als auch seine subsidiäre Rolle und den Ermessensspielraum der Schweiz respektiert. So hat der EGMR der Schweiz namentlich nicht vorgeschrieben, welche Massnahmen sie zur Erreichung ihrer Klimaziele zu ergreifen hat», so Bähr.

Wer dem EGMR die dynamische Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes verbieten will, der stellt den institutionellen Schutz der Menschenrechte ganz grundsätzlich in Frage. Als die EMRK nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, konnte noch kaum jemand vorhersehen, dass sich die Erde erstens erwärmen wird, und dass dies zweitens mit erheblichen Bedrohungen für das Leben, die Gesundheit, das Wohlergehen und die Lebensqualität der Menschen einhergeht. Auch die Schweizer Gerichte legen Verfassung und Gesetze zeitgemäss aus. 

Das Urteil des EGMR ist für die Schweiz bindend. Mit der Unterzeichnung der EMRK hat sie sich dazu verpflichtet, endgültige Urteile zu befolgen. Die KlimaSeniorinnen fordern den Bundesrat auf, in einem ersten Schritt eine unabhängige wissenschaftliche Analyse zu den Klimazielen unter Berücksichtigung des nationalen CO2-Budgets vis-à-vis dem verbleibenden globalen CO2-Budget in Auftrag zu geben. Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse sagt Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen: «Wir erwarten vom Bundesrat, dass er die Institutionen und den Rechtsstaat konsequent schützt und einer allfälligen Erklärung des Ständerates keine Folge leistet. Vom Parlament erwarten wir sodann, dass es seiner Verantwortung nachkommt und Hand bietet zu innerstaatlichen Lösungen.» 

Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz behält sich das Recht vor, das Ministerkomitee des Europarates, das die Umsetzung der Urteile prüft, jederzeit über jegliche Entwicklungen, auch über Unterlassungen, in der Schweiz zu informieren.


Weitere Informationen zum Klima-Urteil

Hier finden Sie die Unterlagen der Medienkonferenz

Dokumente des Vereins KlimaSeniorinnen Schweiz

Dokumente des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)


Kontakte

Deutsch

  • Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen, 079 567 67 73, [email protected] 
  • Cordelia Bähr, Rechtsanwältin der KlimaSeniorinnen, 078 801 70 34, [email protected] 
  • Martin Looser, Rechtsanwalt der KlimaSeniorinnen, 079 481 76 88, [email protected] 
  • Georg Klingler, Klimaexperte Greenpeace Schweiz, 079 785 07 38, [email protected] 

Französisch

Italienisch

  • Norma Bargetzi, Anziane per la protezione del clima, 079 352 98 89, [email protected]