Immer mehr Studien belegen, was wir intuitiv wissen: Natur hilft, psychische Erkrankungen zu vermeiden und zu lindern. Doch vor allem in Städten leben viele Menschen mit Naturdefizit und Naturentfremdung. Therapien sollen nun helfen und dabei eine neue Wahrnehmung herbeiführen: Natur ist kein Konsumgut, sondern Teil von uns selbst.
Morgens, wenn Marita Sieburg zum Einkaufen geht, wirft sie einen Blick drauf und abends vor dem Spaziergang nochmal. «Die Hagebutte treibt schon», sagt die 76-jährige ehemalige Sozialarbeiterin «und die ersten Tulpenblätter spitzen durch.» Marita Sieburg spricht nicht von ihrem Garten oder dem Balkon, sondern von der Bodenfläche rund um den Ahorn auf der Strasse vor ihrem Wohnhaus. Sieburg wohnt in Freiburg, im Stadtteil Stühlinger. Sie ist eine von rund 450 Baumpat:innen, die sich in der Stadt um die Fleckchen Erde rund um 400 Bäume kümmern. «Baumscheiben» heissen diese Taschenparks, die in vielerlei Hinsicht wertvoll sind. Sie sind nicht nur gut für Bienen, Vögel und Schmetterlinge. Sie bringen die Bewohner:innen zusammen, fördern die öffentliche Gesundheit in Städten und werten einen Stadtteil auf. Vor allem sind sie für die Paten und Patinnen, die sie bepflanzen und pflegen, eine einfache Möglichkeit zum Naturkontakt. Und der ist, so belegen immer mehr Studien, lebenswichtig für unser psychisches Gleichgewicht.
Denn immer mehr Menschen leben in Städten, viele davon leiden bewiesenermassen unter Naturdefizit. Eine belgische Studie aus dem Jahr 2020 hat anhand von Untersuchungen an 620 Kindern offengelegt, dass Stadtkinder, die regelmässig in den Park oder in die freie Natur gehen, weniger aggressiv sind und sich intellektuell besser entwickeln.
Die Biologin Kelly Baldwin Heid widmet den Freiburger Baumscheiben ihre Doktorarbeit und hat unter den Baumpat:innen Fragebögen verteilt. «Viele haben keine Kinder oder Enkel und sind im Ruhestand», erzählt sie, «aber, sie haben diese Baumscheibe, und sie kümmern sich um sie wie um ihr Kind.» Verantwortung, Selbsteffizienz und Fürsorge sind positive Gefühle, die beim Umgang mit der Natur freigesetzt werden. Sie helfen die bunten Flecken, unsere Anspruchshaltung an die Natur zu überwinden.
«Umwelt ist immer Wechselwirkung»
Diese Anspruchshaltung stört die Schweizer Therapeutin Teresa Dawson schon lange. «Am Strand chillen, um aufzutanken», findet sie keine respektvolle Haltung. Natur zu nehmen fürs menschliche Wohlsein helfe der Natur nicht, so Dawson, und letztlich auch nicht uns als Teil von ihr: «Umwelt ist immer Wechselwirkung.» Dawson wird deshalb bei Naturtherapien immer dann skeptisch, wenn sie in ihren Augen nur einseitig funktionieren. «Wie viele von denjenigen, die Waldbaden zelebrieren, bücken sich auch um Müll einzusammeln?», fragt sie.
Seit mehr als 30 Jahren bietet Dawson Seminare, bei denen umweltzentriertes Erleben geübt wird. Ihre Grundlage ist die Focusing-Technik, die besagt, dass Körper von Natur aus permanent interagieren und im ständigen Prozess sind. «Individuelle Prozessarbeit ist deshalb immer auch umweltzentriert», so Dawson. Sie arbeitet unter anderem mit Klimaaktivist:innen. «Die sind oft so verzweifelt darüber, was alles kaputt und verloren geht, dass sie keine Kraft mehr haben zum Weitermachen.» Was hilft? Im Naturkontakt das Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit wieder abrufen, «das wir alle gespeichert haben», so Dawson. Sie setzt dabei auf «die vorsprachliche Fähigkeit des menschlichen Körpers zu kommunizieren.» Letztlich geht es darum, die Naturentfremdung zu überwinden, die uns die Natur als ein Konsumgut wahrnehmen lässt.
Auch Kelly Baldwin Heid ist es wichtig, den Unterschied zwischen Naturkonsum und Naturfürsorge zu vermitteln. Vielen Menschen sei nicht klar, dass «ein Spaziergang im Wald, während man durch sein Handy scrollt, nichts bringt». Es fehlt die Achtsamkeit als Teil der Selbstfürsorge, die immer auch Naturfürsorge ist – und dann noch besser gegen Stress oder Depressionen helfen kann. «Ich glaube, es macht etwas mit einem, wenn man einen Samen pflanzt und aus dem Nichts eine grosse Blume oder auch ein Salat wird, den man dann isst», sagt Baldwin Held. Marita Sieburg kann das bestätigen: «Die Baumscheibe zu versorgen macht eine gute Stimmung und ich habe das Gefühl, dass ich durch das Gestalten ein Teil der Natur bin.»
Diverse Studien belegen Wichtigkeit der Natur
Die Klimakrise und die Erfahrungen mit der Pandemie zeigen uns, wie eng Gesundheit und Natur verknüpft sind – und sie haben Forschungsgelder freigesetzt, die helfen sollen, altes, intuitives Wissen wissenschaftlich zu belegen. Viele Forscher:innen hoffen, dass sich die Wahrnehmungslücke zwischen Gesundheit und Natur bald schliesst.
Der Freiburger Geobotaniker Michael Scherer-Lorenzen zum Beispiel untersucht den Zusammenhang zwischen Wäldern und Wohlbefinden im Rahmen des europäischen Projektes Dr. Forest, an dem 25 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus mehreren mitteleuropäischen Städten beteiligt sind. Scherer-Lorenzen weiss, dass besonders die strukturreichen alten Wälder, in denen viele Tier- und Pflanzenarten leben, heilsam und aufbauend wirken. «Es ist eine Tatsache, dass Artenvielfalt die Basis von menschlichen Leben ist, ohne sie können wir nicht überleben», sagt er. «Deshalb sollten wir Klimawandel, Veränderung der Biodiversität und menschliche Gesundheit immer gemeinsam betrachten. Sie hängen einfach zu eng zusammen.»
Der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), geht davon aus, dass die Forschungsergebnisse immer grösseren gesellschaftsrelevanten Einfluss nehmen werden. Neue neurowissenschaftliche Methoden der Bildgebung zeigen die positiven Effekte von Natur auf unsere Psyche. Das sollte in der Stadtplanung oder in den Klimamodellen berücksichtigt werden, fordert er, «wenn zum Beispiel abgewogen werden muss, wohin ein Windkraftwerk gebaut wird, verglichen mit der unberührten Natur». Deren Wert um ihrer selbst willen sollte mehr Gewicht bekommen.
Und auch der Berliner Psychiater Mazda Adli will mit der App «Deine emotionale Stadt» einen Stadtplan der Emotionen anlegen. Bei dem bürgerwissenschaftlichen Projekt bekommen Freiwillige eine Woche lang dreimal täglich Fragen zu ihrem Wohlbefinden geschickt, gleichzeitig wird über ein GPS-Signal deren Standort in der Stadt bestimmt. «Wir wollen lernen, wo die Stress-Hotspots sind und wie sie sich tageszeitlich über die Stadt verteilen und verändern», so Adli. Und es werden auch Orte erfasst, wo sich Menschen besonders wohlfühlen. Die Binsenweisheit, dass Natur guttut, wird neurowissenschaftlich belegt: «Grün dringt tatsächlich ins Gehirn und sorgt dort für Gesundheit», sagt Adli. Er hat mit dem deutschen Bundesumweltamt 2022 eine Studie durchgeführt, die gezeigt hat, dass die Stressregulation im Gehirn von der Grösse der Grünflachen um die eigene Adresse herum abhängt: Je mehr grün, desto grösser die Stressresilienz der Proband:innen.
Städte sind per se ein Risikofaktor für unsere psychische Gesundheit. Für depressive Erkrankungen ist die Gefahr in der Stadt eineinhalb mal höher als auf dem Land, das Schizophrenie-Risiko mindestens doppelt so gross. 2050 werden wahrscheinlich zwei Drittel der Menschen rund um den Erdball Stadtbewohner:innen sein. In Mitteleuropa wird es dann mehr als 80 Prozent Stadtbewohnende geben. Höchste Zeit also, dass Städte Orte bleiben und werden, die für unsere Psyche zuträglich sind. Menschen brauchen einen guten Zugang zur Natur, egal wo sie leben. Umweltgerechtigkeit herrscht dann, wenn auch Bewohner:innen in benachteiligten Stadtteilen, wo das Zusammenleben oft besonders eng ist, dieses Recht haben.
Natur als Medikament
Eine Studie aus Grossbritannien hat gezeigt, dass schon ein täglicher Spaziergang von 30 Minuten im Grünen die Lebenszufriedenheit signifikant verbessert. Dort hat Naturkontakt schon Einzug gehalten ins Gesundheitssystem, in Form von grünen Verschreibungen: Der Hausarzt verordnet zum Beispiel Gesundheitsspaziergänge oder Gesundheitsgärtnern. Daraus entsteht ein ganzes System an Möglichkeiten und Strukturen, die ähnlich wie die Freiburger Baumscheiben der öffentlichen Gesundheit dienen.
Olivia Besters, die nicht nur eine, sondern 32 Baumscheiben im Freiburger Stadtteil Herdern versorgt, schildert, wie dieser Effekt praktisch wirkt: Sie schätzt, dass jede:r zweite Passant:in sie anspricht, wenn sie am Gärtnern ist. «Das geht vom kleinen Kind bis zur Grossmutter mit Rollator, die stehen bleibt und sagt ‹Ach, ist das schön, dass das hier jemand pflegt›».
Brigitte Kramer ist freie Journalistin und lebt und arbeitet seit Anfang der 90er-Jahre in Spanien. Sie schreibt unter anderem für die «Neue Zürcher Zeitung», die «Süddeutsche Zeitung» und «Zeit online». Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Münchner Journalistenschule.
Anne Gabriel-Jürgens ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13 Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte, wie z. B. ihr aktuellstes Buch «Viel Glück zum Muttertag».