Am Mittelmeer verschwinden die Strände. Ursache ist die fortschreitende Erosion. Doch Spanien verdient viel Geld mit seinen Küstenstreifen. Was also tun? Ein Blick in die Gegenwart und Zukunft.
In S’Illot an Mallorcas Ostküste herrscht um diese Jahreszeit noch Ruhe. Auf der Strandpromenade laufen ein paar Jogger, und Anwohnerinnen führen ihre Hunde spazieren. Der Badeort liegt 65 Kilometer von der Hauptstadt Palma entfernt und ist im Sommer sehr belebt. Hotels und Apartmenthäuser gruppieren sich um einen halbrunden, 350 Meter langen Sandstrand: Er ist das Zentrum des Ortes und der Grund, warum hier ab Ende der 1950er-Jahre die Küste bebaut wurde. Heute hat der Ort mehr als 1400 Betten, es gibt Restaurants, Eisdielen, Fahrradverleihe, Souvenirshops – und viele Arbeitsplätze. Doch S’Illot hat ein Problem: Der Strand schrumpft, er verliert Sand, an manchen Stellen liegen die Felsen darunter schon blank. Was ist ein Badeort ohne Strand? Was ist ein Strand ohne Sand? Nicht viel.
Sebastià Llodrà ist Stadtrat für Umweltbelange von Manacor, der Stadt im Hinterland, zu der S’Illot gehört. Er ist besorgt. «Wir sehen hier ein Beispiel für die ungezügelte Bauwut von vor 50 Jahren», sagt er und verweist mit dem Arm auf einen langen Hotelkasten direkt am Strand, «das Gebäude steht sehr nah am Meer, das wäre heute undenkbar, die aktuellen Gesetze sind viel restriktiver.» Llodrà ist für die mehr als 20 Strände und Buchten der Gemeinde verantwortlich – die meisten erodieren. An ihnen verdient die Stadt aber viel Geld, und hier arbeiten sehr viele Einheimische.
Alles für das De-luxe-Zimmer mit Meerblick
S’Illot hat ein für Mallorca und viele andere Regionen am Mittelmeer typisches Problem. Die mediterrane Küste mit ihren langen Sandstränden ist ein heiss begehrter Streifen Land. Wir lieben ihre weiche, sinnliche Beschaffenheit, ihr Wellenplätschern beruhigt uns, der Blick zum Horizont lässt uns aufatmen. Sandstrände sind Sehnsuchtsorte – und wohl eines der meistbesuchten Ökosysteme der Welt. Sie nehmen weltweit mehr als ein Drittel der Küstenlinie ein. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte aber fast die Hälfte der Sandstrände der Erde verschwinden.
Am Mittelmeer geht es den Stränden besonders schlecht, denn Flüsse bringen immer weniger Sediment mit, weil Stauseen im Oberlauf Sand, Steine und organisches Material zurückhalten. Ausserdem verändern Häfen, Wellenbrecher und andere Bauten die Strömungen und wirken wie Sandfallen unter Wasser. Die dichte Bebauung an der Küste unterbricht zudem die natürliche Regenerierung der Sandstrände. Dieses Problem ist am Mittelmeer besonders gross, weil es hier kaum Gezeiten gibt und deshalb sehr nah an die Meereslinie gebaut werden kann. Meerblick verkauft sich einfach gut.
Dazu kommen die Effekte des Klimawandels: Der Meeresspiegel steigt als Folge der Erderwärmung. Das Mittelmeer erhitzt sich stärker als der globale Durchschnitt. Schon jetzt ist es dort um 1,5 Grad heisser als in vorindustriellen Zeiten. 2040 werden es wohl 2,2 Grad sein, wie das unabhängige Netzwerk der «Mediterranean Experts on Climate and Environmental Change» (MedECC) errechnet hat. Das bringt einen geschätzten Anstieg des Meeresspiegels um insgesamt einen Meter für das Jahr 2100 – wenn wir so weitermachen wie bisher. Dazu kommen die Unwetter im Herbst und Winter, die immer heftiger werden und an der Küste grosse Schäden anrichten.
Die Mischung aus Wetterextremen, steigendem Meeresspiegel und Bebauung fordert schnelles Handeln. Wolfgang Cramer ist Mitglied des Experten-Netzwerkes MedECC und forscht in Aix-en-Provence zu den Folgen des Klimawandels im Mittelmeerraum. Er prophezeit vor allem den Inseln grosse Probleme: «Die Kerkenna-Inseln vor Tunesien zum Beispiel, die nur einen oder eineinhalb Meter über dem jetzigen Meeresspiegel liegen, werden verschwinden.»
Keine wirkliche Lösung
Viele Ferienorte lösen das Problem der Erosion mit regelmässigen Sandvorspülungen: Sand wird vom Meeresgrund gesaugt und auf die Strände geblasen. Das aber sind massive und sehr teure Eingriffe. Und sie zerstören das Ökosystem rund um den abgesaugten Grund.
Die Mittelmeerküste ist gesäumt von solchen künstlichen Stränden. In Barcelona beispielsweise bringen grosse Schiffe seit 30 Jahren jährlich bis zu 100 000 Kubikmeter Sand an den Strand. Das kostet jedes Mal rund eine Million Euro. Ohne die Eingriffe wäre der Stadtstrand längst verschwunden, die Badegäste müssten ihr Handtuch auf Felsen ausbreiten.
Sebastià Llodrà und sein Team versuchen in S’Illot deshalb die sanfte Art: Sie befestigen den Sand, das teure Gut, mit abgestorbenen Pflanzenresten. Die spült das Meer vor allem im Winterhalbjahr bei Sturm und hohen Wellen an. Die braunen, schmalen Blätter stammen vom Neptungras, der Unterwasserpflanze Posidonia oceanica, die im seichten Küstenwasser wächst. Die Haufen sehen nicht sehr appetitlich aus, der Meeressaum ist dunkel, auch im seichten Wasser treiben die Posidonia-Blätter. Kann man so einen Strand den Touristen zumuten? Llodrà findet schon und fordert einen Mentalitätswandel: «Das idyllische Bild des weissen, sauberen Karibikstrandes hat nichts mit der Realität des Mittelmeeres zu tun. Unsere Strände haben Pflanzenreste. Und es ist gut, dass diese Reste liegen bleiben.»
Die Menschen vor Ort müssen es ausbaden
Geht man von S’Illot am Meer weiter Richtung Süden, endet die Uferpromenade bald, und die Felsküste beginnt. Jetzt, im Winter, ist sie bedeckt von krautig wucherndem Seefenchel, kleinen, gelben Zistrosen und kräftig orangefarbenen Flechten. Das Felsplateau ragt etwa sieben Meter aus dem Meer. Kleine, frei stehende Bungalows stehen auf den flachen Felsen, viele haben eine Veranda und ein kleines, ummauertes Grundstück. Sie wirken schon etwas älter, sind aber sehr gepflegt.
Auf der Veranda eines der Häuser steht eine dunkelhaarige, zierliche Frau und blickt übers Meer, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie heisst Carmen. Ihr Mann Pepe kommt aus dem Wohnzimmer zu ihr hinaus. Er ist hager und grauhaarig.
Anfang 2020 fegten Sturmböen mit bis zu 130 Kilometern pro Stunde über das Mittelmeer und kamen hier am frühen Morgen des 19. Januar an. Sie brachten bis zu 15 Meter hohe Wellen. Es war das siebte Sturmtief der Saison. Der spanische Wetterdienst gab rote und orangefarbene Warnungen aus. Mehrere Menschen starben in Spanien.
Carmen erinnert sich an den Tag. «Es war schrecklich. Die Welle kam durch die Fensterläden und hat uns die Türen eingedrückt», erzählt die ältere Frau. «Dann, in dem hinteren Zimmer, wurde ein Felsbrocken durchs Fenster geschleudert, er landete mitten auf dem Bett. Also wenn das um zehn, elf oder zwölf Uhr nachts passiert wäre und nicht um drei Uhr nachmittags – dann könnten wir das heute nicht erzählen.»
Dem Haus sieht man den Schaden nicht mehr an. Rund 50 000 Euro hätten die Reparaturen gekostet, sagt Pepe. Das Paar hatte keine Versicherung. Der Staat zahlte nichts, obwohl die Gegend zum Katastrophengebiet erklärt worden war. Aber das Haus steht zu nah an der Küste. 40 Meter vom Abgrund entfernt. Wird es dieses Jahrhundert überstehen?
Küstenschutz? Das interessierte niemanden
Einen Teil der Verantwortung für die spanische Küste – 7900 Kilometer, knapp 20 Prozent davon sind von Stränden bedeckt – trägt Ángel Muñoz Cubillo, stellvertretender Generaldirektor für Küstenschutz im Ministerium für ökologischen Übergang in Madrid. Seine Behörde erarbeitet seit 2019 zusammen mit den Küstenregionen und -gemeinden eine Strategie. Knapp 270 Millionen Euro gibt die Strukturreformförderung der Europäischen Union dafür. Derzeit werden die ersten Massnahmen umgesetzt. Sie umfassen die Anpassung der Abwehr und auch Sandvorspülungen, die Befestigung und den Schutz der Küste durch feste Strukturen – oder den Abriss von Gebäuden am Meer. Für Muñoz Cubillo ist klar: «Die Strände brauchen wir, denn sie sind der Schutz für das, was hinter ihnen ist.»
Jahrzehntelang hat das in Spanien kaum jemanden interessiert. Wer sich an den Stränden rund um Barcelona oder Málaga umschaut, glaubt sofort, dass sich die bebaute Fläche am Meer in Spanien in den letzten 30 Jahren verdoppelt hat. Ein Drittel der Sandstrände ist teils oder ganz von Zement begraben. In der Region Valencia – 9,5 Millionen Touristen im Jahr 2019 – sind es sogar 74 Prozent, wie Greenpeace Spanien 2018 errechnet hat. Allein die Strände im Stadtgebiet von Valencia haben in den vergangenen fünf Jahren 300 000 Kubikmeter Sand verloren.
Die Abhängigkeit der Mittelmeerländer von ihren Stränden ist enorm: Sie tragen einen grossen Teil zur Wirtschaft der Länder bei. Spanien verdient 15 Prozent des Bruttoinlandproduktes im Tourismus, den grössten Teil davon an den Küsten und im Sommerhalbjahr.
Wie weiter?
Was soll nun also mit Spaniens Strand geschehen? Und was mit den Häusern am Meer? Viele sind der Traum ihrer Besitzer:innen, der Ort, an dem sie ihren Lebensabend verbringen wollen. Mit Meerblick und mildem Klima. Meeresforscher Michalis Vousdoukas meint: «Wenn man es von einem Hardcore-Umweltstandpunkt aus betrachtet, ist Umsiedeln die Lösung: Alles abreissen und in den Naturzustand zurückführen.»
Die Herausforderungen im Mittelmeerraum sind enorm und greifen weit über das Problem der Erosion hinaus. Das Konzept Massentourismus ist nicht zukunftsfähig. Länder wie Spanien müssen ihr Wirtschaftsmodell überdenken und die Abhängigkeit vom Strandtourismus überwinden. Das Bewusstsein dafür sei vielerorts da, meint Klimaexperte Wolfgang Cramer. Er betont aber, dass Anpassung alleine nicht reichen wird: «Die Politik, die uns vor Schäden in der Zukunft bewahren soll, muss das Runterfahren auf null Treibhausgasemissionen beinhalten. Und zwar weltweit.»
Brigitte Kramer ist freie Journalistin und lebt und arbeitet seit Anfang der 90er-Jahre in Spanien. Sie schreibt unter anderem für die «Neue Zürcher Zeitung», die «Süddeutsche Zeitung» und «Zeit online». Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Münchner Journalistenschule.
Anne Gabriel-Jürgens ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13 Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte, wie z. B. ihr aktuellstes Buch «Greina».