Es herrscht eine Stille, wie sie nur vorkommt, unmittelbar nachdem trockener Schnee gefallen ist. Winzige Hohlräume zwischen den Eiskristallen schlucken die Geräusche. Das Lauteste ist das Knirschen unter den Schuhen. Schnee legt sich über alles Gewesene, die Welt wird für einen Augenblick zu einer frisch verschneiten Wiese, unter der die letzten Monate verschwinden. Im Zürichsee wird zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein verschwunden geglaubter Fisch mit dem wunderlichen Namen Nase gefangen. Und mit dem Schnee breitet sich nicht mehr nur das Virus, sondern auch Hoffnung aus. Weil sie sich an ihre Kindheit erinnern. An eine Zeit, in der Begriffe wie R-Wert, Positivitätsrate oder Albedo-Effekt nicht ihrem Wortschatz nicht existieren.
Doch alles ist Wechselwirkung. Auch der Schnee. Sturmtief Filomena fegte über Madrid hinweg. Zurück blieben in den Schnee gedrückte Engel und Bildern von Langläufern auf den Hauptstrassen der Stadt. Und ein Temperaturanstieg von 30 Grad Celsius in den höheren Luftschichten über der Polarregion. Während wir hier unten Schneemänner, Schneefrauen und alles dazwischen bauen, fliesst immer wärmere Luft in die Stratosphäre. Der Polarwirbel kollabiert. Die knorpeligen Äste der Rosskastanie tragen eine weisse Krone. Im pastellfarbenen Licht der jeden Tag etwas später einsetzenden Dämmerung bauschen sich auch die anderen Bäume auf. Sie nehmen der Stadt ihre Kanten. Eine runde, weiche Welt.
Und das ist vielleicht das Gefährlichste daran. Wir werden einem gigantischen Marshmallow-Test unterzogen. Dieses Experiment belohnt jene, die es schaffen, den Süssigkeiten auf einem Teller zu widerstehen. Um dafür später doppelt so viele zu erhalten. Die Pandemie wie auch der Klimawandel, beide haben ihren Ursprung in der gleichen Ursache: unserem Lebensstil. Sie belohnen nur weitsichtiges Handeln. Auch wenn wir uns nach einem kalten Winter in falscher Sicherheit wiegen.
Wie durch ein unsichtbares Kommando beginnen die Vögel schon zwischen den Jahren zu zwitschern. Längst fliegen sie nicht mehr alle in den Süden. Sie sitzen in den Hecken und Bäumen, die unter dem Gewicht des ungewohnten Schnees Inventur gemacht haben. Morsche Äste und Zweige lassen sie zurück. Werden auch die Menschen die freundliche Einladung ergreifen? Einige haben bereits damit begonnen. Statt am Strand auf Teneriffa sind sie morgens in den winterlichen Seen und Flüssen beim Eisbaden zu sehen. Vielleicht begegnen sie ja dort sogar einem ausgestorben geglaubten Fisch mit dem wunderlichen Namen Nase.
Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in Zürich und schreibt in einem umgebauten Wäschehaus im Zürcher Niederdorf. Gerade ist ihr erster Roman «Regenschatten» im Kommode Verlag erschienen. In der nahen Dystopie spielt eine Liebesgeschichte vor einer klimatisch ausser Rand und Band geratenen Welt.
Anne Gabriel-Jürgens ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte, wie z. B. ihr aktuellstes Buch «Greina», welches im Transhelvetica Verlag erschien.
Die Bildergalerie zum Frühling 2020 gibt es hier, diejenige zum Sommer hier und die zum Herbst hier.