Affen, Riesenschlangen, Kaimane, Ozelots: Rio de Janeiro liegt wie keine zweite Stadt der Welt in der Wildnis – und die Wildnis liegt in Rio. Drei Männer kämpfen für den Erhalt und Schutz der einzigartigen Tierwelt in der brasilianischen Metropole, die immer unkontrollierter wächst.
Jefferson Pires – Der Arzt der wilden Tiere
Die vier Affen können es kaum erwarten, dass ihre Käfige geöffnet werden. Aufgeregt springen sie zwischen den Gittern umher und recken neugierig die Köpfe. Die Primaten haben gerade eine einstündige Fahrt durch Rio de Janeiro auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks hinter sich. Nun stehen ihre Käfige am Rande des Nationalparks von Tijuca. Die Tiere spüren die Nähe ihrer natürlichen Heimat. Als Beamte von Rios Umweltpatrouille die Käfigtüren öffnen, sind die Affen mit einem Satz im Wald, klettern auf Bäume und kreischen.
Die vier Befreiten sind Schwarze Kapuziner, eine gefährdete Affen-Art, die durch ihren lustig nach oben stehenden Haarschopf auffällt. Sie ziehen in Gruppen von bis zu 20 Tieren durch die Küstenwälder des südöstlichen Brasiliens und ernähren sich von Früchten, kleinen Wirbeltieren und Insekten. Fast ihr gesamtes Leben verbringen sie auf Bäumen – und dabei passieren Unfälle. Denn so behände die Affen sind, manchmal stürzen sie herunter und verletzen sich schwer. Sie verkalkulieren sich bei Sprüngen oder wählen einen morschen Ast. Bei Auseinandersetzungen mit Rivalen können sie tiefe Bisswunden erleiden.
«Die meisten lädierten Tiere haben kaum eine Chance und verenden schmerzvoll», sagt Jefferson Pires. «Die Natur kann grausam sein.» Nur wenige haben das Glück, gefunden zu werden und bei ihm, Pires, zu landen. Der 40-Jährige ist Veterinär und Spezialist für Wildtiere. Im Laufe seiner Karriere hatte er schon alles auf dem Operationstisch: vom fünf Gramm schweren Kolibri bis zur 230 Kilogramm schweren Schildkröte. Auch die Affen, die an diesem Tag wieder in den Wald entlassen wurden, waren in seiner Obhut. «Sie hatten verschiedene Frakturen», erklärt Pires. «Einen angebrochenen Kiefer, einen angeknacksten Rücken, einige Wunden.»
Pires, der Vollbart und Glatze trägt, arbeitet im Rehabilitationszentrum für Wildtiere (CRAS), das am westlichen Stadtrand von Rio liegt und zu einer privaten Universität gehört. Er vergleicht die Klinik mit einer kleinen Arche Noah, so viele unterschiedliche Tiere gebe es hier. Und so streng riecht es auch. Beim Eintreten trifft man gleich auf mehrere Habichte und Geierfalken, die in einer Voliere sitzen. Auch ein seltener Weißschwanzbussard thront hier stolz auf einem Baumstumpf. Sie alle wurden von Rios Umweltpatrouille aufgelesen.
Auf einem kleinen Hof und in einem gekachelten Raum gibt es Dutzende weitere Käfige und in die Wand eingelassene Boxen. Darin sitzen oder liegen Eulen, Leguane, Affen, ein Faultier, Stachelschweine, ein Ameisenbär, ein Wasserschwein. Auch ein verängstigter Fuchs kauert in einem Käfig. Pires musste ihm eine Pfote amputieren. «Wir platzen aus allen Nähten», sagt Pires. «Es werden mehr Tiere eingeliefert, als Platz da ist. Deswegen improvisieren wir.»
Erst am Abend zuvor nahm Pires eine zwei Meter lange Riesenboa mit schweren Brandwunden in Empfang. Sie liegt nun zusammengerollt in einer Kiste. In ihren Wunden vermehrten sich bereits Larven, die die Schlange auffressen würden, wenn man sie nicht gefunden hätte. Pires setzt ihre Behandlung noch für den Vormittag an.
Es mag erstaunlich klingen, aber all diese Tiere sind Bewohner von Rio de Janeiro. Und Jefferson Pires ist ihr Arzt: ein Dschungel-Doktor mitten in der Großstadt. Er und sein Team – es sind Studenten der Veterinär-Fakultät, – haben schon Tausenden Wildtieren das Leben gerettet. Als «Dr. Dolittle» hat ihn die zweitgrößte Zeitung Brasiliens, «O Globo», einmal bezeichnet.
Wildes Rio
Tatsächlich liegt Rio de Janeiro wie keine zweite Stadt der Welt in der Wildnis – und die Wildnis liegt in Rio. Rund zwölf Millionen Menschen leben im Großraum der Metropole, die für die Copacabana, den Karneval, die Christusstatue und ihre Favelas berühmt und berüchtigt ist. Aber kaum einer weiß, dass Rio auch eine einzigartige Flora und Fauna hat.
Zu Rios tierischen Bewohnern zählen verschiedene Primaten, Kaimane, große Würge- und kleine Giftschlangen, Wildkatzen wie Ozelots, Hunderte Vogelarten, Nagetiere und Schildkröten. Es kann einem hier passieren, dass man morgens auf dem Balkon Besuch von einer Bande Büschelaffen bekommt, die es auf die Frühstücksbananen abgesehen haben; dass am Nachmittag ein Dutzend knallgrüner Sittiche und ein buntes Tukan-Pärchen vorbeischauen; und sich am Abend zwei Beutelratten – sie sind Kletterspezialisten – um das übrig gebliebene Katzenfutter streiten.
Von Rios Stränden aus kann man vorbeiziehende Wale beobachten, und in der riesigen Guanabara-Bucht trotzen ein paar Delfine der extremen Verschmutzung. Wenn der Winter einzieht, tauchen sogar Seekühe und Pinguine an den Stadtstränden auf.
Menschen und Tiere sind in Rio also enge Nachbarn. Diese Artenvielfalt wird ermöglicht durch die einzigartige Topografie Rios. Sie ist geprägt von dicht bewaldeten Bergketten, spektakulären Felsformationen, kilometerlangen Stränden sowie ausgedehnten Binnengewässern. Mit dem Nationalpark von Tijuca und dem Pedra-Branca-Schutzgebiet hat Rio den größten innerstädtischen Dschungel der Welt. Gemeinsam messen sie 165 Quadratkilometer und sind damit viereinhalb mal so groß wie Basel-Stadt. Kürzlich wurde hier sogar ein Puma gesichtet.
Die Üppigkeit ist umso erstaunlicher, weil es Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Wald mehr in Rio gab. Er war komplett für riesige Kaffeeplantagen gerodet worden. Als der Kahlschlag dann zu Trockenheit und Mangel an Trinkwasser führte, beschloss Kaiser Dom Pedro II. die Wiederaufforstung der Region. Unter Anleitung von Militärs pflanzten Sklaven ab 1862 über 100 000 Setzlinge des hier heimischen atlantischen Regenwalds. Es war eins der ersten großen Aufforstungsprojekte der Welt. Die Erholung dauert im Grunde bis heute an, etwa wenn verschwundene Tierarten wie Aras oder Landschildkröten neu angesiedelt werden.
Doch so harmonisch all das klingen mag – Rios Wildnis ist in großer Gefahr. Die Stadt dehnt sich unaufhaltsam aus, wächst unkontrolliert und oft illegal. Immer näher drängt sie an die Ufer der Lagunen heran, immer tiefer expandiert sie in den Wald. Es werden Häuser und Wohnblocks errichtet, häufig illegal. Neue Favelas entstehen, Bäume werden gefällt, Flächen asphaltiert, Feuchtgebiete ausgetrocknet, Stromleitungen gespannt. Parallel nimmt die Verschmutzung erschreckende Ausmaße an. Immer mehr Müll landet in der Umwelt, Abwässer fließen ungeklärt in Flüsse und Lagunen, manche Ströme sind schon regelrecht verstopft von Plastikmüll. Der Lebensraum der Tiere schrumpft dadurch nicht nur dramatisch, er wird auch immer schmutziger, giftiger und gefährlicher.
Opfer der Ausdehnung
Jefferson Pires kümmert sich in seiner Klinik um die Tiere, die beim urbanen Wachstum unter die Räder geraten. Sie sind die ersten Opfer des Zusammenpralls zwischen Stadt und Wildnis. Neun verletzte, kranke oder verirrte Tiere werden bei ihm pro Tag im Durchschnitt eingeliefert. Die meisten werden von der Umweltpatrouille gebracht, andere von verantwortungsbewussten Bürgern. «Ein Drittel überlebt nicht», sagt Pires. «Ein weiteres Drittel ist so schwer beeinträchtigt, dass es nur in einem Zoo oder Tierhospiz weiterleben kann. Ein Drittel wird erfolgreich wiederhergestellt. Ich glaube, das ist eine gute Rate, wenn man bedenkt, dass Tausende Tiere unbemerkt in der Wildnis verenden.»
Unter Pires› Patienten sind viele Beutelratten, die sich in Rio stark vermehren und auf der Suche nach Nahrung in Häuser und Wohnungen eindringen; aber auch immer wieder Vögel, die in Stromleitungen oder die scharfen Schnüre von Papierdrachen fliegen und sich die Flügel brechen. Gute Kletterer wie Affen und Faultiere werden häufig durch Stromschläge schwer verletzt, weil in Rio viele Leitungen zu nah beieinander gespannt und nicht isoliert sind. Es kommen kleine Säugetiere wie Stachelschweine, die von Hunden angefallen wurden. Oder die Capivara genannten Wasserschweine – es sind die größten Nager der Welt –, die von Wassertaxis oder Sportbooten verletzt wurden. Auch ein Faultier war schon bei Pires, das es fertiggebracht hatte, sich die Nase zu brechen. «Normalerweise haben sie Arm- und Beinfrakturen, wenn sie vom Baum fallen», sagt Pires. Er behandelte auch schon eine Gruppe Affen mit Gelbfieber.
Pires› spektakulärster Fall war jedoch ein Geieradler, der eine Kugel im Herzen hatte, das noch schlug. Pires operierte sie heraus und der Vogel überlebte. Als seine ungewöhnlichsten Patienten bezeichnet er ein Seepferdchen mit einer Entzündung sowie eine Vogelspinne mit einer Hautinfektion.
«Jöö»-Bonus für Äffchen
So sehr sich Pires jedoch bemüht, viele Tier sind nicht mehr zu retten. Am Nachmittag bringt die Umweltpatrouille ein junges, völlig zerzaustes Büscheläffchen in einem Pappkarton. Pires zieht an seinen Beinen und schließt aus der fehlenden Reaktion, dass sein Rückgrat gebrochen sein muss. Er bittet eine Studentin, dem Tier eine Morphinspritze zu geben. Sollte sich seine Diagnose nach einer Röntgenaufnahme bestätigen, muss er das Äffchen einschläfern.
«Für die Natur wäre sein Tod nicht allzu tragisch», sagt Pires. Diese Art von Büschelaffen sei aus dem nördlicheren Bundesstaat Bahia eingeschleppt worden, nun verdrängten sie die Goldenen Löwenäffchen, die vom Aussterben bedroht seien. Außerdem plünderten sie Vogelnester. «Jedes dieser Äffchen wird Hunderte Vogeleier essen und Jungvögel töten», sagt Pires. Deswegen wäre es vielleicht besser, die verletzten Büschelaffen einzuschläfern. Allerdings, schränkt er gleich ein, sei dies gesellschaftlich kaum durchzusetzen. «Die Menschen finden die Äffchen süß und füttern sie. Kaum einer weiß, dass sie eine Plage sind. Die Leute romantisieren die Natur.»
Pires holt jetzt die Riesenboa aus ihrer Plastikbox, umfasst ihren Kopf, damit sie nicht zubeißen kann, denn neben ihrer enormen Kraft, mit der sie ihre Opfer umschlingt, hat sie einige scharfe Zähne. Die zwei Meter lange Schlange ist großflächig verbrannt, ihr rohes Fleisch ist sichtbar und sie blutet. Was ihr zugestoßen ist, kann Pires nur erahnen, eventuell ein Buschfeuer. Gegen die Larven in ihren Wunden hat er ihr ein Medikament verabreicht und zupft nun die toten Parasiten aus dem Körper.
Dann horcht er mit einem Stethoskop nach dem Herz der Schlange und gibt ihr eine Narkose-Spritze. Als die Schlange schlaff ist, wird sie auf den Hof getragen und mit Wasser gewaschen. Dann cremt Pires sie mit einer Spezialsalbe ein und verbindet sie. «Sie wird den Verband nicht mögen und versuchen, ihn abzustreifen, aber da muss sie jetzt durch.» Pires hofft, dass die Wunden der Schlange heilen und ihre Schuppenhaut nachwächst.
Am Nachmittag lässt er dann eine Schildkröte, einen Habicht, zwei Geier und zwei Tejus röntgen, eine große Echsenart. Auf den Aufnahmen sieht er, dass die Schildkröte vier Eier im Leib träg, aber sie nicht legen kann, weil sich ihre Vagina nach Außen gestülpt hat. Die Vögel haben Flügelfrakturen, der Habicht hat dazu noch die Kugel eines Luftgewehrs im Leib und einer der Geier große Teile eines Stacheldrahtzauns in den Gedärmen. Die Echsen haben jeweils Beinfrakturen. Er wird versuchen, sie alle zu retten.
«Ich mag an meiner Arbeit, dass ich helfen kann», sagt Pires. «Und die Abwechslung. Ich verdiene zwar weniger als ein Veterinär, der sich um Zuchtvieh kümmert, aber ich bin glücklich mit dem, was ich tue.»
Ricardo Freitas – Doktor Kaiman
Ein Tier, das Pires nur selten zusammenflickt, ist der Kaiman. Rund zehn von ihnen behandelt er pro Jahr, die meisten hatten Unfälle mit Autos. Die Tiere werden dann häufig von einem Mann gebracht, den sie in Rio «Dr. Jacaré» nennen. Zu Deutsch: Dr. Kaiman.
Sein richtiger Name ist Ricardo Freitas, und er blickt eines Morgens von einer Fußgängerbrücke hinunter auf einen stinkenden Kanal voller schmutzig grauem Wasser. In der Brühe und an den Ufern dösen circa zwei Dutzend Kaimane in den unterschiedlichsten Größen. Sie alle warten darauf, dass Passanten von der Brücke Essen ins Wasser werfen. «Die Stadt beschränkt den Lebensraum der Tiere nicht nur, sondern verändert auch ihre Gewohnheiten», sagt Freitas. «Kaimane sind die letzten großen Raubtiere Rios. Aber sie leben heute in einer Kloake und werden gefüttert. Die Menschen glauben, sie würden ihnen damit Gutes tun.»
Der 41-jährige Freitas ist Biologe mit dem Spezialgebiet Reptilien und einer der führenden Kaiman-Experten Brasiliens. Nach dem Studium gründete er das «Instituto Jacaré», dessen Chef er bis heute ist. Aber wie Jefferson Pires, der Wildtier-Arzt, ist auch Freitas ein Einzelkämpfer. Von der Stadt bekommt er keine Unterstützung für seine Mission: den Schutz und die bessere Erforschung der rund 6000 Kaimane Rios.
Fäkaler Lebensraum
Die Tiere gehören zur Familie der Krokodile, unterscheiden sich aber von echten Krokodilen und Alligatoren dadurch, dass sie kleiner sind (die größten Exemplare werden bis zu drei Meter lang), kürzer leben (bis zu 30 Jahre) und ausschließlich in Südamerika vorkommen. In Rio de Janeiro sind sie vor allem in den großen Lagunen im Westen der Stadt heimisch. Hier gibt es sogar ein Stadtviertel, das Jacarépagua heißt: Kaiman im Wasser.
Die gesamte Region erlebt seit einigen Jahrzehnten ein rasantes Wachstum, das ohne Rücksicht auf die Umwelt stattfindet. Es wurden Hunderte Apartmentblocks und Hotels, mehrere vierspurige Straßen und Shoppingcenter für die Reichen gebaut. Ebenso stark wuchsen die Favelas. Dort leben die Hausbediensteten der Wohlhabenden und die Verkäufer aus den Einkaufszentren.
Von allen Seiten werden die Lagunen also bedrängt, was dazu geführt hat, dass der Lebensraum der Kaimane enorm geschrumpft ist. «Es ist kein Wunder», sagt Ricardo Freitas, «dass sie nun in Parks, Wohnanlagen, Swimmingpools und auf Golfplätzen auftauchen. Sie benutzen sogar die Abwasserrohre als unterirdisches Wegenetz.» Häufig wird Freitas, ein klein gewachsener aber umso kräftigerer Typ, nun angerufen, damit er die Tiere einsammelt und wieder in eine der Lagunen entlässt. Er legt Wert auf die Feststellung, dass nicht die Kaimane auf menschliches Terrain vordringen, sondern die Menschen sich im Habitat der Reptilien breit machen.
Seine Faszination für die Kaimane erklärt Freitas damit, dass es nicht nur schöne Tiere seien, sondern ihre Geschichte bis zu den Dinosauriern zurückreiche. Deswegen gelänge es ihnen, unter widrigsten Umständen zu existieren. «Sie sind Überlebenskünstler», sagt Freitas. «Am erstaunlichsten ist, dass sie an einigen Orten in Rio wortwörtlich in der Scheiße leben.»
Tatsächlich fließen die ungeklärten Abwässer von Millionen von Menschen in die Lagunen und ihre Verbindungskanäle. «Es sind Latrinen geworden», sagt Freitas. Obwohl einige der besseren Wohnanlagen ihre Abwässer klären, tun es viele nicht und zahlen stattdessen eine Strafe. Aus den Favelas strömt das Schmutzwasser ohnehin direkt in die Gewässer. Dieser konstante Zufluss von Feststoffen hat dazu geführt, dass die Lagunen ein bis zwei Meter an Tiefe verloren haben und vielerorts verschlammt sind. Die Fäkalien führen zu Zersetzungsprozessen auf dem Grund der Lagunen und zur Bildung von Gasen, die an zahlreichen Stellen aufsteigen. Es blubbert regelrecht. Auch im Kanal unter der Kaiman-Brücke sieht man dieses Phänomen.
Gedärme voller Plastik
«Die Kaimane schaffen es, in diesen Latrinen zu leben, weil sie extrem hart im Nehmen sind», erklärt Ricardo Freitas. Allerdings fressen sie neben ihrer natürlichen Nahrung wie Fischen, Krustentieren, Vögeln und kleinen Säugern auch immer mehr Plastikmüll, der ihnen die Gedärme verstopft. «Sie haben keine Zunge und keinen Geschmackssinn», sagt Freitas.
Wegen der Verstopfung schwellen häufig die Bäuche der Tiere an. «Viele Leute denken dann, die Tiere seien gut ernährt», sagt Freitas. Aber einen gesunden Kaiman erkenne man an seinem kräftigen Schwanz und an seiner glänzenden Haut. Die Kaimane unten im Kanal haben stumpfe gräuliche Schuppen. Freitas schätzt, dass 70 Prozent der Tiere Plastik im Magen haben.
Ein anderes Problem ist die Vorliebe der Kaimane für die Wärme, die von den Fäulnisprozessen im Wasser erzeugt wird. Sie liegen deswegen oft dort, wo besonders viele Gase aufsteigen. Und legen dort auch ihre Eier ab. Es hat den Effekt, dass überproportional viele Männchen geboren werden, weil es von der Bruttemperatur der Eiergelege abhängt, welches Geschlecht der Nachwuchs hat. «Kaimane haben keine Geschlechtschromosomen, Temperaturen über 31 Grad begünstigen das Entstehen von Männchen, Temperaturen darunter das von Weibchen», sagt Freitas.
Von der Kaiman-Brücke wirft jetzt ein Kind trockene Croissants ins Wasser. Freitas runzelt die Stirn, er hat es aufgegeben, den Leuten zu sagen, dass sie den Tieren damit schaden. Ein Schild, dass das Füttern der Tiere untersagt, wird einfach ignoriert. Die Kaimane sind eine lokale Touristenattraktion geworden. Manchmal kämen Fleischer, sagt Freitas, die ihre Schlachtabfälle ins Wasser kippten. Auch Geschichten von Leuten, die «zum Spaß» Hunde und Katzen ins Wasser schmissen, hat er schon gehört. Unter den Tieren im Kanal bricht nun ein kleiner Tumult aus, bei dem die größeren Kaimane nach den kleineren schnappen, was zu lebensbedrohliche Bisswunden führen kann. «Eigentlich müsste hier immer jemand stehen, der die Fütterungen unterbindet», sagt Freitas. Das Verhalten der Tiere sei bereits stark modifiziert.
Ein Kuss für den Kaiman
Einige Tage später steht Freitas mit einem Mitarbeiter seines Instituts an einem Anleger an der Lagoa de Marapendi. Es ist die sauberste Lagune im Westen Rios, weil sie am wenigsten zugebaut ist. Während die Dunkelheit hereinbricht, besteigen die beiden ein Boot und fahren rund 20 Minuten, bis sie zu einer kleinen Bucht. Im Wasser und am Ufer blitzen immer wieder Augenpaare im Schein ihrer Kopflampen auf. Es sind Kaiman-Augen.
Paddelnd nähern sich die Männer nun den Tieren, die in der Dunkelheit nur schlecht sehen und durch das Licht geblendet werden. Mit einer Schlinge an einem langen Stab, die er ruckartig zuzieht, versucht Freitas nun mehrfach, eins der Reptilien zu fangen. Aber die Kaimane sind heute schneller, – sie haben im Unterkiefer feine Sensoren, mit denen sie jede Bewegung im Wasser wahrnehmen – und ziehen ihre Köpfe blitzschnell zurück.
Erst nach einer Weile ist Freitas bei einem Jungtier erfolgreich. Der 70 Zentimeter lange Kaiman windet sich, gluckst und quiekt. Freitas zieht ihn ins Boot und wickelt Klebeband um sein Maul, damit er nicht zubeißt. «Ein ausgewachsener Kaiman kann eine Bissstärke von einer Tonne haben», sagt Freitas. «Dieser Kamerad ist natürlich schwächer, aber ich will es nicht riskieren.»
Mit einem Maßband vermisst Freitas das Tier, bestimmt sein Geschlecht und schneidet ihm schließlich mit einer scharfen Klinge an zwei Stellen des Schwanzes Schuppen heraus. „«Das macht ihm gar nichts», sagt Freitas. «Es blutet ein wenig, dann verheilt es.» Er notiert, welche Schuppen er herausgetrennt hat, so kann er den Kaiman immer wieder identifizieren. Die Schuppen packt er in eine Plastiktüte, um sie später im Labor zu untersuchen. Dann gibt er dem Kaiman einen Kuss auf die Schnauze und lässt ihn zurück ins Wasser.
«Von den rund 6000 Kaimanen in Rio habe ich etwa 700 erfasst», sagt Freitas. Wie notwendig dieses Monitoring ist, verdeutlichte ein Ereignis wenige Tage vor unserem Besuch. Ein Fischer fand rund 15 tote Kaimane in der Bucht, ihre Kadaver lagen versteckt im Unterholz. Offenbar hatte jemand sie dort abgelegt, um sie später abzuholen und ihr Fleisch zu verkaufen. «Üblicherweise benutzen die illegalen Jäger Netze, mit denen sie die Kaimane unter Wasser zwingen und sie ertrinken lassen. Rio ist in weiten Teilen ein rechtloser Raum», sagt Freitas.
Seine Arbeit finanziert er, indem er private Kurse über Kaimane und Touren zu den Tieren anbietet. «Es ist meine Aufgabe, die Menschen über diese fantastischen Burschen aufzuklären, die immer mehr leiden», sagt er. Der Stadt ist sein Engagement ein Dorn im Auge. So behauptet eine Stadtverordnete, er misshandle die Tiere, wenn er sie markiere. «Meine Arbeit wird von einem inkompetenten Rathaus sabotiert», sagt Freitas. «Als Umweltschützer bist du in Rio echt einsam.» Es sei die Liebe zur Wissenschaft und zu den Tieren, die ihn ermutige, weiterzumachen.
Mario Moscatelli – Der Retter der Mangroven
Früh am Morgen trifft Mario Moscatelli auf dem Helikopter-Flughafen im Westen Rios ein. Der 56-jährige, der einen Blaumann und Crocs trägt, ist der prominenteste Biologe der Stadt. Er wurde bekannt, als er vor mehreren Jahren auf eigene Faust verschiedene Aufforstungsprogramme für zerstörte Mangrovenwälder an den Küsten Rios startete. Mit der Zeit wurden daraus mehrere Hundert Hektar Wald.
Heute berät Moscatelli Unternehmen, die umweltschonend bauen und wirtschaften wollen. «Es sind nicht viele», sagt er. Fast wöchentlich taucht er in Rios Medien auf. Er wird immer dann angerufen, wenn irgendwo mal wieder Hunderttausende Fische wegen Sauerstoffmangels verendet sind oder von Exkrementen verseuchtes Wasser ins Meer fließt und das Baden an einigen Stränden zum Gesundheitsrisiko macht. Zuletzt stellte Moscatelli die massenhafte Ausbreitung giftiger Cyanobakterien in Rios Lagunen fest, die das Nervensystem und die Leber schädigen können. Sie sind leicht an ihrer knallig hellgrünen Farbe zu erkennen. «Es ist jedes Jahr dasselbe Szenario», sagt Moscatelli, «man kann die Uhr danach stellen, aber es passiert nie etwas.»
Ein Dutzend Übriggebliebene
Moscatelli setzt sich nun auf den Co-Pilotensessel in einem viersitzigen Helikopter. Kurz darauf heben wir ab. Seit zwei Jahrzehnten unternimmt Moscatelli regelmäßige Rundflüge über Rio, um das unkontrollierte Wachstum der Stadt und die Umweltverbrechen fotografisch zu dokumentieren. Er sagt, mit jedem Flug werde es schlimmer, nie besser.
Als Erstes geht es über die Lagunen. Moscatelli sagt, es könnten Umweltparadiese sein. Sie könnten Hunderttausende Touristen anziehen, die Wildtiere beobachten und die einzigartige Stimmung genießen wollten. Sie könnten Fischern ein Auskommen bieten. Stattdessen sei von ihrer einstigen Artenvielfalt nichts mehr übrig. Von 1000 Tierarten seien nur noch einige Dutzend da. «Die Natur spielt für Rios Politik keine Rolle», ruft Moscatelli durch die Bordsprechanlage. «Sie wird als teures Entwicklungshindernis wahrgenommen.»
Dabei sei das Problem nicht fehlendes Geld zum Bau von Kläranlagen und der Durchsetzung der Umweltgesetze, wie immer behauptet würde, sondern fehlender Wille. «Für die WM 2014 und Olympia 2016 waren Milliarden Dollars da. Stell dir vor, ein Teil davon wäre in den Umweltschutz geflossen – der Mehrwert für Rio wäre immens.» Statt Mehrwert sehen wir von hier oben Hausmüll, der im Wasser dümpelt: Plastik, Sofas, Fernseher, Kühlschränke, Autoreifen. An verschiedenen Stellen ist gut zu erkennen, wie sich die Stadt bis dicht ans Wasser heran gedrängt hat – und sich andernorts in dicht bewaldete Hügel ausdehnt. «Das sind von Milizen dominierte Viertel», sagt Moscatelli. Ein Geschäftsmodell dieser Milizen, die meist aus Polizisten und Lokalpolitikern bestehen, ist die illegale Besetzung von Land und der Bau irregulärer Häuser. Die öffentliche Hand kann kaum etwas machen, weil die Milizen stark bewaffnet sind und Fakten schaffen, bevor jemand eingreifen kann.
«Das organisierte Verbrechen trägt enorm zur Umweltzerstörung bei», erklärt Moscatelli. Er selbst erhielt vor einigen Jahren Morddrohungen, weil er mit seinen Warnungen die Interessen der Mafias gefährdete. Er ging damals für einige Zeit ins Exil nach Deutschland. «Heute ist es nicht mehr ganz so schlimm», sagt Moscatelli. Ein Shoppingcenter überzieht ihn derzeit mit Klagen, weil er dessen Wasserentsorgungspraxis öffentlich kritisierte.
Aus dem Helikopter kann man nun gut die Müllbarrieren erkennen, die auf Betreiben Moscatellis an mehreren Schlüsselstellen in den Lagunen angebracht wurden. «An einer sammelten sich binnen 60 Tagen 120 Tonnen Abfall», sagt er. «Ich bin Biologe und Müllmann.»
Der Pilot macht einen Schwenk und fliegt parallel zur Küste übers offene Meer. An mehreren Stellen ist zu sehen, wie braunes Abwasser ins Meer strömt. Moscatelli bittet den Piloten, näher heran zu fliegen und zu kreisen, damit er Fotos machen kann.
Verseuchte Bucht
Nachdem wir Ipanema, Copacabana und den Zuckerhut überflogen haben, sind wir über der Guanabara-Bucht, einer der größten Meeresbuchten der Welt. Einst badeten die Bewohner Rios in ihrem Wasser, in dem sich auch Schildkröten und Delfine tummelten. Heute gilt die Bucht wegen zahlreicher Industrie- und Haushaltsabwässer als verseucht. «Die Bucht ist das beste Beispiel für den Kollaps der Umweltpolitik», sagt Moscatelli. «Vor den Olympischen Spielen war versprochen worden, sie zu säubern. Es war eine Riesenlüge.»
Schließlich kreisen wir am Rande der Bucht über der einst größten Müllhalde Südamerikas, dem berüchtigten «Lixão de Gramacho». Bevor er vor einigen Jahren zugeschüttet wurde, weil toxische Flüssigkeiten aussickerten, arbeiteten hier Hunderte Müllsammler. Heute breiten sich am Fuß des Hügels große Mangrovenwälder aus, die einst von Moscatelli gepflanzt wurden. «Sie haben sich rapide vermehrt», sagt er. «Die Natur ist schnell in den Tropen.»
Moscatellis Engagement macht klar, wie wichtig die Initiative von Privatleuten und Umweltgruppen ist. Nicht irgendein Bürgermeister hat sich hier um die Stadt verdient gemacht, sondern ein besorgter Biologe. «Ich tue mehr für die Umwelt als jeder Politiker», sagt Moscatelli.
Gegen die Natur
Mangrovenwälder sind von enormer Bedeutung. Sie gelten nicht nur als die produktivsten Ökosysteme der Welt, die zahlreichen Wassertieren als Brutstätte dienen; sie sind auch der beste Schutz vor Überschwemmungen sowie ein wichtiger Speicher von Treibhausgasen.
Über die Bordsprechanlage schimpft Moscatelli nun über Brasiliens Umweltminister Ricardo Salles, der den Schutz von Brasiliens Mangroven und anderen Uferbiotopen aufheben will, um Immobilienentwicklern ihr Geschäft zu erleichtern.
Tatsächlich wird die Natur von der Regierung des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro regelrecht attackiert. Brasiliens Umweltbehörden werden Gelder, Personal und Kompetenzen gestrichen. Gleichzeitig werden Umweltverbrechen nicht mehr verfolgt und Umweltsündern die Strafen erlassen. So soll angeblich die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens stimuliert werden. «Das Gegenteil ist der Fall», sagt Moscatelli. «Die Umweltzerstörung hemmt die Entwicklung, weil sie hohe Folgekosten hat: verseuchte Böden, vergiftetes Wasser, verschwindende Arten.» Es sei von großer Tragik, dass Brasiliens Regierende noch nicht verstanden hätten, dass man Wachstum nur mit der Natur erreichen kann, nie gegen sie.
Plötzlich sehen wir eine Rauchsäule hinter der zugeschütteten Müllhalde aufsteigen und der Pilot nimmt Kurs darauf. Der Rauch stammt von einem Abfallplatz, der illegal neben der alten Müllhalde gewachsen ist. Altmetallsammler nutzen das Feuer, um die Plastikisolierungen von Kupferkabeln zu schmelzen. Moscatelli berichtet, dass die Müllkippe vom organisierten Verbrechen geleitet werde, das den Firmen eine Steuer berechne, die ihren Müll hier abkippen wollten. Die Steuer sei geringer als der Preis einer legalen Entsorgung.
Moscatelli, so wird klar, kämpft wie Ricardo Freitas und Jefferson Pires nicht nur gegen eine unaufhaltsam und aggressiv wachsende Stadt, sondern auch gegen das organisierte Verbrechen. Ihr Hauptgegner aber ist eine Gesellschaft, deren Umweltbewusstsein noch total unterentwickelt ist. Sie nimmt die Natur als pittoresk wahr – aber im Zweifelsfall muss die Natur dem angeblichen Fortschritt weichen. Alle drei Umweltschützer kämpfen auf eigene Faust und eigenes Risiko. Sie sind sich einig, dass Rio gerade dabei ist, seinen größten Schatz aufs Spiel zu setzen: seine weltweit einzigartige urbane Wildnis.
Als wir nach einer Stunde Helikopterflug wieder landen, sagt Mario Moscatelli zum Abschied: «Als Biologe in Rio leidest du echt im Paradies.»
Philipp Lichterbeck, Jahrgang 1972, lebt seit 2012 in Rio de Janeiro. Der freie Korrespondent und Reporter berichtet für deutsche, schweizerische und österreichische Medien über Brasilien und den Rest Lateinamerikas. 2013 erscheint sein Buch «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik».
Evgeny Makarov, 1984 in St. Petersburg geboren, kam mit seiner Familie 1992 nach Deutschland. Dort studierte er Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und entdeckte die Fotografie als Medium, «soziale Realität direkter zu erfassen als mit einem akademischen Zugang». 2020 belegte er den 3. Rang beim Wettbewerb zum Foto des Jahres von UNICEF.