Ein paar verstreute Apfelbäume stehen im Wind, sich dem Boden zuneigend. Er schüttelt sie. Zerrt die Blätter von den Ästen, die keine Kraft mehr haben, seit die Kälte in die Wurzeln gekrochen ist. Sonst ist es noch immer grasgrün, das Mittelland. Dort, wo die Monokulturen den Boden bedecken, also fast überall. Der Zug rattert durch die Dämmerung. Häuser fliegen vorbei. Wo Menschen sitzen. Unter Lichterketten, bei Café complet und zu heisser Suppe. Oder vor dem blauen Licht des Fernsehers, wo vielleicht noch eines der selten gewordenen Fussballspiele gezeigt wird. In diesem Jahr scheint es, dass es von aussen gemütlicher aussieht, als es in Wirklichkeit ist. Drinnen und draussen sind nun wieder zwei verschiedene Räume. Die leichten Sommertage, so weit weg wie die Vorstellung, je wieder an einem Strand zu liegen. Die nackten Zehen in den warmen Sand zu graben. Hin und her zu gehen. Zwischen Ländern. Und Grenzen. Eine flüchtige Erinnerung in einem Jahr, das die Zeit auftürmt und dann wieder aufsaugt, wie es ihm gefällt.
Die Menschen im Homeoffice vergessen manchmal, welcher Tag gerade ist. Weil sich diese immer mehr ähneln. Doch vor dem Fenster folgt alles einem uralten Plan. Die Rosskastanie ist einer der Ersten, die das Gewand abgestreift und ihren knorrigen Körper entblösst. Er ist nicht unbedingt einer der Hübschesten. Aber dafür ein untrügliches Zeichen, dass es ihr die anderen auch bald gleichtun werden. Die Buche, die ihre Nüsschen auf das Trottoir streut. Der majestätische Ahorn, die silberstämmige Birke. Im Internet teilen die Leute nun fast alle die gleichen Bilder. Von Bäumen und Bergen. Seen und Wäldern. Plötzlich sehen sie das unter dem Laub verborgene Moos, die Hagebutten, den sauren Klee und die Pilze, ebenfalls durch ein unsichtbares Netz miteinander verbunden. Und doch ziehen die Gedanken ununterbrochen Kreise. Immer wieder auf den Nachrichtentickern landend. Wieder und wieder. Einer irrenden Wachsamkeit folgend, die meint, durch den so gewonnen Wissensvorsprung rechtzeitig handeln zu können.
Am Bahnhof angekommen, eilen die Fahrgäste rasch davon. Im Gehen ziehen sie sich die Masken unter das Kinn. Füllen ihre Lungen mit frischer Abendluft. Der erste Frost hat die Akustik in den Strassen verändert. Es ist still geworden. Noch stiller als sonst im Herbst. Und doch spiegelt sich das Licht von ein paar selbst gebastelten Laternen in den nassen Pfützen. Hier unten leuchten wir. Warmer Schein unter dem Nebeltuch. Ohne Lieder, dafür mit stolzen Schritten ziehen Kinder umher. Wir sind nicht aus der Zeit gefallen.
Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in Zürich und schreibt in einem umgebauten Wäschehaus im Zürcher Niederdorf. Gerade ist ihr erster Roman «Regenschatten» im Kommode Verlag erschienen. In der nahen Dystopie, spielt eine Liebesgeschichte vor einer klimatisch ausser Rand und Band geratenen Welt.
Anne Gabriel-Jürgens ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte, wie z. B. ihr aktuellstes Buch «Greina», welches im Transhelvetica Verlag erschien.
Die Bildergalerie zum Frühling 2020 gibt es hier, diejenige zum Sommer hier.