In Argentinien kämpfen die Bewohner*innen von «Villa 31» ums Überleben. Das Coronavirus hat die sowieso schon prekären Lebensumstände in einem der ärmsten Viertel von Buenos Aires nochmals verschlechtert.

Der Himmel über dem Viertel von Padre Mugica ist von einem Gewirr von Kabeln durchzogen. In den Hauseingängen übergiessen die Leute der Reinigungskooperative den unheiligen Boden mit Unmengen von Chlor und heiligem Wasser, um ihn zu desinfizieren. Haltet die Seuche fern. Rettet uns vor Covid-19.

In den 30er Jahren wurde das Viertel «Villa Desocupación» (Arbeitslosenviertel) genannt, später «Villa Esperanza» (Hoffnungsviertel) und danach «Villa 31» (Viertel 31). Sechs Quadratkilometer mitten im Zentrum der reichen Stadt Buenos Aires. Es beherbergt 40 000 Seelen und liegt zwischen dem Hafen und dem opulenten Viertel Recoleta.

Von den Dächern der Häuser sieht man die Autos, die auf der Autobahn vorbeifahren. Und auch die gläsernen Türme der Stadt Buenos Aires. Militärregierungen, liberale Regierungen, volksfeindliche Regierungen – tausend Mal wurde versucht, das Viertel zu räumen. Tausend Mal gelang es nicht.

Die jahrzehntelange Immobilienkrise führte dazu, dass sich Villa 31, der bekannteste Slum von Buenos Aires, immer mehr in die Richtung der Stadtautobahn «25 de Mayo» ausdehnte, welche die Hauptstadt mit dem Grossraum Buenos Aires verbindet. Die Autobahnbrücke schneidet das Quartier in zwei Teile. © Pablo E. Piovano

Montagvormittag, 11. Mai. 46 Jahre sind vergangen seit dem Mord an Priester Carlos Mugica. Die Kirche ist beispielhaft leer. Der Priester Guillermo Torre zündet Kerzen an, stampft mit den Füssen auf ein Porträt von Papst Franziskus und gesteht: «An einem normalen Tag ist die Kirche voll. Aber mit dem Virus, das sich verbreitet, ist dies nicht mehr möglich.» In der Kirche sind die sterblichen Überreste des Schutzpatrons untergebracht. Und ein Stück der blutigen Hose, die Carlos Mugica trug, als Rechtsextreme ihn brutal erschossen. Auf einer Mauer stehen die Worte von Carlos Mugica: «Herr, ich träume davon, für sie zu sterben. Hilf mir, für sie zu leben.»

Seit Mitte April hat Silvana Olivera kein fliessendes Wasser mehr zuhause. Am dritten Tag ohne Wasser nahm er all seinen Mut zusammen, packte ein Paar Eimer und lief quer durch das ganze Viertel zum Standort der Wassertankwagen. Die Schlangen waren sehr lang. An diesem Tag wurde der erste Fall bekannt. Vier Wochen später waren es mehr als 800. «Ich glaube an soziale Organisationen, an nachbarschaftliche Kooperation, an politisches Engagement. Aber die Stadtregierung … vergiss es!»

Einer der Gesundheitsposten, welche die Temperatur der Bewohner*innen messen. Bis zu diesem Zeitpunkt machen die positiven Fälle von an Covid-19 erkrankten Menschen in den armen Stadtvierteln 35 Prozent der Gesamtanzahl von Corona-positiven Personen in der Stadt Buenos Aires aus. In Villa 31 selber gab es bereits mehr als 1000 Infizierte.
© Pablo E. Piovano

Alicia García bereitet unseren Tageseintopf in der Suppenküche Arca de Noé zu. Es ist eine der 68 im Viertel tätigen Suppenküchen. Der Topf ist gefüllt mit Pasta, Zucchetti, Süsskartoffeln, Kürbis und Zwiebeln. «Ich vermisse es, mit den Nachbarn zu plaudern, wie wir es vor der Quarantäne konnten. Nun liefern wir das Essen nur noch aus der Ferne in Tupperware. Ich kann die Nachbarn noch nicht einmal umarmen. Wir sind eine Familie hier. Verstehen Sie?»

Sie ist keine Heilige und heisst auch nicht Maria. Karen Ferreyra Vela ist eine Trans-Sexarbeiterin. Sie erzählt, dass sie seit zwei Tagen nichts gegessen hat. Seit fast zwei Monaten arbeitet sie nicht mehr. «In der Suppenküche gibt es eine Warteliste. Zuerst erhalten die Familien mit Kindern Essen.» Im Gang hört man eine Orgel und den himmlischen Chor Los Dinos, der dazu singt «Bis zum Tagesanbruch … machen wir, machen wir Liebe.» Karen schickt einen Kuss in die Luft und flüstert: «Haben Sie ein kleines Sandwich für mich?»

Lorenza Martínez glaubt nicht mehr an Wunder. Deshalb weigert sie sich mitten in der Quarantäne gegen die Zwangsräumung. «Es scheint, als ob ich für die Regierung gar nicht existiere. Aber hier bin ich. Im Haus 215, Block 12.» Die Näherin mit Guarani-Wurzeln kaut hinter der aufgesetzten Maske. Weder Gott, die Jungfrau von Caacupé noch der Staat haben sie unterstützt. «Nein, ich fürchte mich nicht vor dem Virus. Als die Leute von der Regierung vorbeikamen, habe ich ihnen gesagt, dass das Virus mich mitnehmen könne. Ich gehe hier nicht weg. Dies ist mein Zuhause. Das ist meine Art zu kämpfen.»

Ein Paar posiert für den Fotografen zu Hause, während im unteren Stockwerk eine improvisierte Suppenküche aufgestellt wird, die von den Eltern des Paares seit Beginn der obligatorischen Quarantäne betrieben wird. Cintya Garcia lebt seit mehr als 25 Jahren in Villa 31 und studiert an der Mujica-Schule. © Pablo E. Piovano
Die Pfarrkirche Jungfrau von Caacupé liegt im Herzen des Viertels und wird von einem grossen Teil der Gemeinde von Villa 31 besucht. Zehn Tage lang gab es kein Wasser mehr, was zu grosser Verzweiflung führte und die Infektionsrate in die Höhe trieb. © Pablo E. Piovano
Yolanda Carrizo berät die Leute in der Nachbarschaft. Sie ist 67 Jahre alt und hat 12 Kinder. Auf dem Bild sieht man «Chicho», wie sie von ihren Nachbarn genannt wird, mit ihrem Hund. Sie hält ein Relief des Heiligen «Der Tod» in den Händen. © Pablo E. Piovano
Soledad ist eine der Aktivistinnen bei «La Garganta poderosa» (die mächtige Kehle). Eine soziale Organisation, die Suppe verteilt und den Nachbarn*innen hilft. © Pablo E. Piovano
Ein Imbiss in einem Lokal von «La Garganta poderosa». © Pablo E. Piovano
Ein Gesundheitsposten. Hier werden Abstriche entnommen, um die Menschen auf das Coronavirus zu testen. © Pablo E. Piovano
Adrian Alem und Janina sind ein Paar mit drei Kindern, Kevin, Luna und Axel. Sie leben in einem baufälligen Haus von wenigen Quadratmetern. Ohne Licht, ohne Wasser und ohne Rechte: «Manchmal schaue ich auf die Türme von Retiro (wohlhabendes Stadtviertel von Buenos Aires) und denke, dass diese Leute hierher schauen und sagen: Das ist eine andere Welt. Auch ich schaue hinüber und denke dasselbe: ‹Das ist eine andere Welt›». © Pablo E. Piovano
Die Workshops der Kulturzentren von Villa 31 werden online durchgeführt. Es gibt Murga (Karnevalsvereine), Graffiti und auch Breakdance. Ab und zu vergessen die Jungen die Quarantäne und gehen zum Üben in die Gänge. Daro González führt nachts ein paar Schritte vor. © Pablo E. Piovano
Karen Ferreyra Vela ist eine transsexuelle Sexarbeiterin. Sie wurde in Peru geboren und kam 2007 nach Argentinien. Seit zwei Monaten kann sie nicht mehr arbeiten. «Wenn die Nachbarin mich nicht einlädt, sterbe ich vor Hunger», sagt sie vor ihrer Schlafzimmertür. © Pablo E. Piovano
Die Architektur der Siedlung ist sehr vielfältig. Im Allgemeinen wird vertikal gebaut. Die Überbevölkerung ist eines der schwerwiegenden Probleme, das sich in dieser gesundheitlichen Notlage noch verschärft. In manchen Häusern leben mehr als zehn Personen in einem Raum. © Pablo E. Piovano
Macario Diaz, in seinem Zimmer. Er ist 54 Jahre alt und wurde im Norden Argentiniens geboren. Er kam vor 20 Jahren nach Villa 31 und verdient seinen Lebensunterhalt mit informellen Jobs. © Pablo E. Piovano

Pater Carlos Mugica (1930-1974), Priester und Mitglied der revolutionären peronistischen Bewegung der frühen 70er-Jahre, spielte eine Schlüsselrolle in der klassenkämpferischen Villero-Bewegung, die den Zugang der unterprivilegierten Schichten in den Slums zur Stadt forderte. Ihm zu Ehren benannten die Einwohner*innen von Villa 31b ihr Quartier in «Carlos Mugica-Viertel» um. 

Autor: Nicolás G. Recoaro ist ein argentinischer Journalist der unter anderem für das «Rolling Stone Argentina»-Magazin schreibt. Er hat Kommunikation an der Universität von Buenos Aires studiert und ist zudem Schriftsteller und Dokumentarfilmer.

Fotograf: Pablo Piovano wurde am 7. September 1981 in Buenos Aires, Argentinien geboren. Er arbeitet mit verschiedenen internationalen Medien wie GEO, Stern und National Geographic zusammen. 2018 gewann er den Publikumspreis des Greenpeace Photo Award.

Plötzlich ist alles Unmögliche möglich und das Mögliche entgleitet uns, noch schneller als die Entscheide des Bundesrates. Die Corona-Kurve nach oben, das Stimmungsbarometer nach unten, stehen wir da, schweigend die einen, besserwisserisch die anderen, hektisch oder verstummt. Wie lange das gehen wird, mit so vielen Fragen, und wir nackt und bloss… (Silvia Hergöth Calivers)