Die Esche im Hinterhof ist so alt, dass sie sogar in Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» einen Auftritt hatte. Sie breitet ihre mächtigen Äste über die Altstadthäuser aus, die schon so lange beieinander stehen, dass es in den meisten von ihnen keinen geraden Winkel mehr gibt. Im Frühling ist die Esche eine der letzten, die ihre Blätter austreibt. Und im Herbst einer der ersten, die ihr Kleid wieder fallen lässt. Und dazwischen der Sommer. Wenn das Blätterdach wie die Brandung rauscht, den eigenen Gezeiten des Baumstammes gehorchend. Darüber der Mond. Die Sonne, die in diesem Jahr gnädig war. Zumindest hier, bei uns. Auch wenn sonst nichts war wie sonst.
Es wäre ganz einfach. Sich in diesen kleinen Ausschnitt Welt zurückziehen, auf die Rückseite einer Schweizer Grossstadt. Reife Heidelbeeren direkt vom Strauch pflücken. Den summenden Lavendel giessen. In den Himmel sehen. Vergessen, dass es der gleiche Himmel ist, der sich über dem rauchenden Polarkreis aufspannt. Über Flüchtlingslagern auf Mittelmeerinseln. Vergessen, dass die Tundra brennt. Vergessen, dass ein Land nach dem nächsten in Deckung gegangen ist. Sommer, ein kurzes Aufatmen in einer brüchigen Welt.
Aber draussen auf den Strassen, da ist sie wieder. Die unsichtbare Anspannung, die unter den Masken verborgen liegt. Menschen schreien sich an, unvermittelt. Manchmal heulen Motoren auf. Kaum wer dreht sich noch danach um. Es ist, als wäre mit der Bedeckung der Gesichter auch etwas verloren gegangen, das weit über ein spontanes Lächeln hinausgeht. Doch dann schmatzen ein paar Flipflops gleichgültig über den Asphalt. Es klingt unbeschwert und leicht. Nach Süden, nach einer Zeit bevor dort wenig Menschen hinter vielen Plexiglasscheiben am Strand lagen. Bevor Ärztinnen und Pfleger streikten, weil sie monatelang ununterbrochen an der Front auf den Intensivstationen im Einsatz standen.
Vielleicht werden wir später einmal sagen, dass es der Sommer war, in dem wir unsere Sehnsucht nach dem Meer wieder entdecken. Weil wir nicht mehr immer alles haben konnten, zum ersten Mal in unserem Leben. Vielleicht wird es der Sommer gewesen sein, in dem wir uns der Grenzen bewusst wurden. Der sichtbaren. Der unsichtbaren. Und vor allem der eigenen. Doch der Sommer verglüht, wie der Farbverlauf der Dämmerung: zuerst langsam und dann ganz schnell. Ein wenig fürchtest du dich vor der Dunkelheit. Doch du weisst, dass dich jeder kürzer werdende Tag den Längeren wieder näher bringt. Und der Himmel über der Esche ein anderer sein wird.
Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in Zürich und schreibt in einem umgebauten Wäschehaus im Zürcher Niederdorf. Gerade ist ihr erster Roman «Regenschatten» im Kommode Verlag erschienen. In der nahen Dystopie, spielt eine Liebesgeschichte vor einer klimatisch ausser Rand und Band geratenen Welt.
Anne Gabriel-Jürgens ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Sie ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte, wie z. B. ihr aktuellstes Buch «Greina», welches im Transhelvetica Verlag erschien.
Die Bildergalerie zum Frühling 2020 gibt es hier.