Den Konsum von Fleisch auf einen Viertel reduzieren, die Schweiz zum Bioland machen und gleichzeitig der Landwirtschaft attraktive Arbeitsbedingungen bescheren: Die Vision 2050 von Greenpeace für die Schweizer Landwirtschaft hat ehrgeizige Ziele. Martin Rufer, Leiter Produktion, Märkte und Ökologie des Schweizer Bauernverbands und Philippe Schenkel, Greenpeace-Experte für nachhaltige Landwirtschaft, im Dialog.
Philippe Schenkel, Ihre Vision «Landwirtschaft mit Zukunft» behauptet, die Schweizer Landwirtschaft sei auf maximale Produktion ausgerichtet und müsse darum umgepolt werden. Tatsache ist, dass Bio hierzulande boomt und die Schweizer Tierschutzbestimmungen weltweit führend sind. Übertreiben Sie mit Ihren Forderungen nicht etwas?
Philippe Schenkel: Es gibt in der Schweizer Landwirtschaft durchaus positive Entwicklungen: So nimmt die Zahl von Biobetrieben tatsächlich stetig zu und einzelne Bauern experimentieren sogar mit Permakultur – es gibt viele engagierte LandwirtInnen. Aber die Umweltziele der Landwirtschaft des Bundes können mit der heutigen Landwirtschaftspolitik nicht erreicht werden. Andere Indizien, dass vieles schiefläuft, sind das Insektensterben und die Rückstände von Pestiziden im Trinkwasser. Das alles zeigt, dass kleine Verbesserungen zu wenig bringen. Wir brauchen eine umfassende Kehrtwende.
Martin Rufer, der Bauernverband hingegen nennt im Papier «Landwirtschaft 2050» als eines von sieben Zielen «Maximum an landwirtschaftlichen Flächen». Warum forcieren Sie noch immer die Fläche?
Martin Rufer: Die Aussage stimmt so nicht – wir wollen kein Maximum an Fläche unter den Pflug nehmen, sondern das bestehende Kulturland erhalten. Noch immer wird in der Schweiz pro Sekunde fast ein Quadratmeter zubetoniert. Der Schweizer Bauernverband steht für einen starken Schutz der Landwirtschaftszone ein, die unsere Produktionsgrundlage ist. Hier treffen sich unsere Ziele mit jenen von Umweltverbänden.
Philippe Schenkel: Martin Rufer und ich sind uns offenbar einig, dass wir die Raumplanung stärken wollen. Der Druck auf das Kulturland kommt von neuen Gewerbezonen und Einfamilienhäusern vor allem im Mittelland – dort also, wo die fruchtbaren Ackerböden sind. Diese muss man schützen und bewahren.
Philippe Schenkel, die Reduzierung der Fleischwirtschaft ist ein zentrales Anliegen der Vision 2050. Sie fordern, die jährliche inländische Fleischproduktion um 70% zu senken. Das bedeutet, dass in Zukunft Geflügel- und Schweinefleisch aus dem Ausland importiert wird, wo die Tierhaltevorschriften noch viel schlechter sind – ein Eigentor?
Philippe Schenkel: Natürlich soll das Fleisch nicht einfach importiert werden. Unsere Forderung, den Fleischkonsum von 50 auf unter 15 Kilogramm pro Jahr und Kopf zu senken, ist ehrgeizig. Aber der Trend geht in diese Richtung. Jährlich nimmt der Konsum um etwa ein Kilogramm pro Person ab. Wir befinden uns diesbezüglich in einem gesellschaftlichen Umbruch. Greenpeace fordert keine vegane Welt. Viele Menschen sind aber an einem Punkt angelangt, wo sie ihre persönliche Ernährung überprüfen – und auch umstellen.
Martin Rufer: Das sehe ich nicht so: Nehmen wir zum Beispiel Geflügel. Der Konsum von zwölf Kilogramm pro Kopf und Jahr steigt stark. In Ihrer Vision sprechen Sie von 400 Gramm Inlandproduktion pro Kopf. Damit würden 96 Prozent importiert – Ihr Papier dürfte somit vor allem Applaus von den Fleischimporteuren erhalten. Der Bauernverband entzieht sich dem Trend zu weniger und nachhaltigerem Fleisch nicht: Verantwortungsvoll produzierte Futtermittel, Zweinutzungshuhn oder «From Nose to Tail» unterstützen wir sehr. Hingegen glaube ich nicht, dass man vermeiden könnte, dass eine massive Einschränkung der Inlandproduktion zu einer Zunahme des Importes von teilweise fragwürdig produziertem Fleisch führen würde. Wir schaffen es ja nicht mal, den Import von Eiern aus Käfighaltung oder Hormonfleisch zu verbieten. Am Schluss zahlt die Landwirtschaft den Preis, profitieren werden die Importeure.
Philippe Schenkel: Doch die heutige Situation ist nicht haltbar: Die bodenunabhängige Produktion in der Schweiz, wo 20000 Masthähnchen innert 35 Tagen mit importiertem Futter zur Schlachtreife gemästet werden, ist alles andere als nachhaltig – und viel Schweiz ist da nicht drin.
Um den Fleischkonsum auf einen Viertel zu senken, brauchen die KonsumentInnen brauchbare Alternativen. Martin Rufer, sind Ihre Mitglieder bereit, auf Nischen wie Quinoa zu setzen?
Martin Rufer: Ich bin sehr glücklich über jeden Landwirt, der in einer Nische seinen Absatz findet. Existiert eine entsprechende Nachfrage, folgt das Angebot dann praktisch automatisch. Quinoa ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass auch nicht einheimische Getreidearten hierzulande ökologisch und womöglich sozial verträglicher produziert werden können als im Ursprungsgebiet.
Philippe Schenkel: Weitere positive Beispiele sind Süsskartoffeln oder Ingwer, die seit kurzem in der Schweiz angebaut werden. Gleichzeitig lassen sich mit diesen Newcomern attraktive Margen erzielen. Natürlich ist die Forderung von 75 Prozent weniger Fleisch drastisch. Wir und andere Organisationen arbeiten deshalb daran, den gesellschaftlichen und politischen Boden dafür zu ebnen. Doch wir sind überzeugt, wir brauchen einen grossen Sprung.
Und wie schafft man den?
Philippe Schenkel: Wichtig ist es, bei den Konsumentinnen ein Bewusstsein zu schaffen, wie Lebensmittel heute produziert werden. Greenpeace beteiligt sich mit Vorträgen, Broschüren und Online-Tools an dieser Aufklärung. Aber der Konsument ist nicht allmächtig. Darum braucht es die Politik, die stärker als bisher in Richtung Nachhaltigkeit steuert.
Wäre der Bauernverband dabei, die Politik stärker zu verpflichten?
Martin Rufer: Nur bedingt. Unsere Erfahrung zeigt, dass man gerne die Landwirtschaft steuert, der Konsum dann aber dieser Entwicklung nachhinkt. Das führt dann zur Verlagerung der Emissionen ins Ausland. Dennoch, der Bauernverband ist daran interessiert, dass die Bevölkerung besser weiss, wie ihr Essen produziert wird. Auch mehr Bildung im Bereich Ernährung ist uns ein Anliegen oder mehr Transparenz bei der Deklaration.
Trotzdem sollen die Schweizerinnen und Schweizer auf drei Viertel ihres Fleischkonsums verzichten. Wie realistisch ist die Bereitschaft – neben diesem Verzicht – für die Ersatzlebensmittel erst noch mehr Geld fürs Essen zu zahlen?
Philippe Schenkel: Zunächst: Senkt man seinen Fleischkonsum, spart man sehr viel Geld. Tierische Produkte machen den grössten Teil der durchschnittlichen Lebensmittelausgaben aus. Somit wird Geld frei, das man für pflanzliches Essen ausgeben kann. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen bereit sind, einen fairen Preis für ihre Lebensmittel zu bezahlen. Potenzial gibt es auch bei den Margen des Detailhandels und der Verarbeiter.
Martin Rufer: Heute gibt ein Durchschnittshaushalt bloss 6,3 Prozent des Einkommens für Getränke und Lebensmittel aus. Zudem wird ein Drittel als Food Waste weggeschmissen. Viele Menschen anerkennen den Wert der Lebensmittel nicht mehr. Wenn es nur schon gelingt, diese Verschwendung etwas zu reduzieren, muss weniger produziert und importiert werden – ohne grosse Konsumänderung.
Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz mit Lebensmitteln beträgt heute gut 50 Prozent. Ist dieser ohnehin schon tiefe Anteil durch die Vision 2050 gefährdet?
Philippe Schenkel: Diese Zahl ist sowieso nur bedingt aussagekräftig. Entscheidend ist doch, dass die Bauern ein gutes Auskommen haben, dass die Tiere und die Umwelt nicht leiden und dass gesunde und gesuchte Produkte erzeugt werden. Wie hoch dann genau der Selbstversorgungsgrad ist, ist zweitrangig. Mit unserer Vision steigt womöglich der Import gewisser Lebensmittel wie Zucker. Aber gleichzeitig brauchen wir viel weniger Hilfsmittel wie Diesel, mineralische Dünger, Saatgut und Pestizide, die heute nicht in der landwirtschaftlichen Importstatistik auftauchen.
Aber wie stellen Sie sicher, dass nicht Zucker aus EU-Monokulturen, sondern biologischer Rohrzucker aus Südamerika eingeführt wird?
Philippe Schenkel: Um das zu steuern, gibt es viele Konzepte, wie sie auch im Zusammenhang mit der Fair-Food-Initiative entwickelt wurden. Ziel muss es sein, dass auch die Importe den Schweizer Mindestanforderungen punkto Produktion entsprechen und die Regulierung trotzdem WTO-kompatibel ist.
Martin Rufer: Da gehe ich mit Ihnen einig. Wenn man gleiche Anforderungen stellt, wird die Preisdifferenz von der Import- zur Inlandware kleiner. Das kommt den Landwirten natürlich entgegen. Schon eine umfassende Kennzeichnung der Importware würde uns helfen.
Neben Fleisch soll der Milchkonsum sinken. Ersatzprodukte wie Soja, Reis oder Mandeln boomen. Warum wird hierzulande nicht mehr davon produziert?
Martin Rufer: Hülsenfrüchtler, auch Leguminosen genannt, sind tatsächlich eine wichtige Strategie. Historisch verfügt die Schweiz über attraktive Züchtungen, etwa von Sojabohnen. Auch die Böden wären ideal dafür. Was fehlt, ist die Nachfrage nach Schweizer Ware beziehungsweise die Bereitschaft, einen anständigen Produzentenpreis zu bezahlen. Wir setzen uns für gute politische Rahmenbedingungen ein. Aber wenn die Nachfrage nicht da ist, nützt alles nichts. Bei zu hohen Schweizer Preisen wird leider in aller Regel importiert.
Philippe Schenkel: Tatsächlich gibt es erst sehr wenige Abnehmer von Schweizer Soja. Hier sind die Grossverteiler gefordert, mehr inländische Leguminosen zu verarbeiten.
Martin Rufer, wie sieht Ihre Vision für die Schweizer Bauern bis zum Jahr 2050 aus?
Martin Rufer: Mein Wunsch ist, dass die kleinstrukturierte, bäuerliche Landwirtschaft erhalten bleibt. Die Bäuerinnen und Bauern sollen genügend Wertschöpfung aus ihren Produkten erzielen. Welche Produkte das sein werden, entscheiden die Konsumentinnen und Konsumenten.
Philippe Schenkel, wie viel Ihrer Vision wird im Jahr 2050 realisiert sein?
Philippe Schenkel: Meine Hoffnung ist, dass wir bis dann ein paar zentrale Ziele umgesetzt haben: eine Landwirtschaft, die ohne Mineraldünger und ohne synthetische Pestizide auskommt und mehr Biodiversität aufweist. Eine Landwirtschaft, die vielfältiger ist. Das betrifft die Produkte, aber auch die Art der Betriebe. Ein Ziel ist schliesslich, dass mehr Menschen ihren Konsum angepasst haben, weniger Fleisch essen und einen grösseren Teil ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben.
Martin Rufer: Da gehe ich einig mit Ihnen: Wertschätzung und Wertschöpfung bedingen sich gegenseitig. Am Schluss entscheidet der Markt.
Philippe Schenkel: Stimmt schon, der Markt ist sehr wichtig. Aber die Politik hat es in der Hand, die Weichen richtig zu stellen. Heute fehlt in der Politik dazu oft der Mut.
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