Der Philosoph Heraklit hat wenig Schriftliches hinterlassen. «Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen» ist eine seiner bekanntesten Aussagen. Sie lässt sich gut mit dem Thema Klimawandel verbinden. Doch davon später.
Eine Kolumne von Markus Waldvogel
Wer den Satz zum ersten Mal liest, zweifelt wohl, weil er oder sie schon als Kind oder Jugendliche immer wieder in denselben Fluss gestiegen ist. In die Rhone, den Rhein, den Neckar, die Elbe oder den andalusischen Guadalquivir. Ich persönlich kenne den Rhein zwischen Schaffhausen und Stein am Rhein wie meine Hosentasche. Ich weiss, wo die besten Badeplätze und die romantischsten Buchten sind, mir ist (zum Glück) klar, wo er wirblig ist, wo er zieht und wo es auch einmal wirklich gefährlich werden kann. Ich weiss, wie der Rhein meiner Jugend riecht, ich kenne seinen Geschmack nach unfreiwilligen Schlucken und ich kenne den dumpfen Klang der rollenden Steine auf dem Grund.
Der Rhein hat, wie jeder Fluss, gemessen an einem menschlichen Leben, bleibende Eigenschaften. Wenn ich heute, ein halbes Jahrhundert nach meiner Jugendzeit, im Rhein schwimme, fühle ich mich zu Hause. Ich bin, wo ich schon immer war. Im selben Fluss.
Der Philosoph Hans Blumenberg schreibt: «Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, aber man kehrt an dasselbe Ufer zurück… Ist man an das Ufer zurückgekehrt, ist es dasselbe, an welcher seiner Stellen auch immer.» («Zu den Sachen und zurück», 2002) Heraklit würde dem grundsätzlich widersprechen: Man kehrt auch nicht ans selbe Ufer zurück. Die Ufer verändern sich wie der Fluss, vielleicht weniger sichtbar, aber stetig. Flüsse dagegen verkörpern förmlich den Wandel: So ist nie Rhein was Rhein.
«Mein» Rhein ist, wie alles, was lebt, im Fluss: «Panta rhei», alles fliesst, sagt Heraklit. Was fliesst, entzieht sich statischer Festmachung. Flüsse sind da und nicht da. Flüsse verändern sich – wie alles, was lebt. Doch: In der alltäglichen Wahrnehmung eines Menschen bleibt häufig auch, was sich ändert.
Die Quartiere der Kindheit, oft längst überbaut und kaum mehr wiederzuerkennen, sind immer noch am selben Ort. Die Ufer des Rheins, teils renaturiert, teils zubetoniert, ebenfalls. In einem menschlichen Leben gibt es nur einen Fluss der Jugendjahre und nur eine Stadt, in der man aufgewachsen ist. Allen Entwicklungen zum Trotz: Sie mögen die Erinnerung beeinträchtigen, sie mögen stören, doch sie schaffen es nicht, dass ein Mensch an veränderten Ufern nicht mehr weiss, dass er da ist, wo er zeitlebens war: an seinem Fluss, in seiner Stadt, in seiner Umgebung, seinem Biotop.
Es sind die Orte, die konstant bleiben, und auch die Bezeichnung «Rhein» verändert sich während eines Menschenlebens nicht. Ändern tun sich mehr oder weniger auffallende Formen des Rheins. Deshalb erleben wir, fast auf paradoxe Weise, den konkreten Wandel angesichts dessen, was bleibt. Insofern sind Aussagen wie «Das ist nicht mehr der Fluss meiner Kindheit» interessant. Sie zielen auf das Äussere, nicht auf das Dasein. Die verhältnismässig kleinen Veränderungen schaden der Grundgestalt des Rheins nicht. Erst ein kollektives, wissenschaftliches, historisches Wissen um den Rhein sprengt diese zeitlich beschränkte Wahrnehmung.
Die Geschichte des Rheingletschers etwa übersteigt alles, was wir als Einzelne erfahren können. Schwäbische Städte wie Sigmaringen oder Biberach mit ihren Burgen, Schlössern und Türmen waren vor langer Zeit einmal eisige Gegenden. Während mehrerer Kaltzeiten deckte ein aus den Alpen kommender Eisstrom die Region der oberen Donau und des Bodensees mit einem gefrorenen Panzer zu: der Rheingletscher. Im Vergleich dazu wirkt selbst der heute flächenmässig grösste und längste Gletscher der Alpen, der Aletschgletscher, ziemlich mickrig. Dies gilt auch für die Zeit vor dem aktuellen Klimawandel.
Wer heute in den Rhein steigt, spürt von all dem nichts. Ihm genügt die Erfahrung, dass im grossen Ganzen alles bleibt, wie es immer war. Aber auch kleinste Veränderungen sind spürbar und verweisen auf den grossen, permanenten Wandel. Flüsse gehorchen dem Naturgesetz, sie können nicht anders.
Die ökologische Brisanz dieser Überlegungen liegt nicht im Klimawandel an sich, sondern in der Frage, ob menschenverursachtes Wirken den aktuellen Lebensraum in einem Tempo verändert, das für das reale menschliche und eher kurzfristige Leben bedrohlich ist. Die Ökologie hat eine Zwillingsschwester: die Ökonomie. Das altgriechische Wort oĩkos bedeutet «Haus», nómos ist das Gesetz und lógos der Sinn oder die Vernunft. Die beiden Schwestern sind Haushälterinnen. Sie sind zuständig für Produktionen und Budgets. Ökonomia will gern und rasch hoch hinaus, sie ist oft egoistisch, während ihre bedächtigere Schwester Ökologia Gemeinschaftssinn entwickelt und sich von der Frage umtreiben lässt, was zu tun ist, damit kommende Generationen noch vorfinden, was ein Leben lebenswert macht. Wenn die Zwillinge zusammenspannen, erreichen sie ein ökologisch ausgerichtetes Wirtschaften mit einer nachhaltigen Produktion. Nachhaltigkeit besagt, dass so viel produziert und verbraucht wird, wie auf natürliche Weise wieder nachwachsen kann. Der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller hat sich im vorletzten Jahrhundert für ein nachhaltiges Forstgesetz in der Schweiz eingesetzt. Es sollte nur gerodet werden, was in derselben Zeit nachwachsen kann.
Doch die beiden Schwestern sind sich immer öfter spinnefeind. Ökonomia belächelt ihre Schwester und nennt sie langweilig, langwierig, ein Klumpfuss sei sie! Sie flirtet unverhohlen mit ihrer neoliberalen Cousine. Diese beschwört das Ideal eines uferlosen Wachstums – ein überraschendes Bild im Kontext von Flüssen – und unterwirft sich diesem wie einem Naturgesetz. Sie beharrt auf der Erfahrung, dass allein die geschmeidige Verkettung immer neuer Gewinne reich und glücklich mache.
Sie gibt keine Ruhe, sie kennt keine Grenzen. Nur der Markt kann regulierend eingreifen. Ihm und seiner «unsichtbaren Hand» schiebt sie die Verantwortung zu. Nur was nicht gekauft wird, schränkt die Wachstumsspirale vorübergehend ein. Das abstrakte Ziel, möglichst viel zu verkaufen, dominiert. Wandel bedeutet so von Menschen geschaffene Beschleunigung. Das Naturgesetz der Nachhaltigkeit wird überlistet und dem schnelllebigen Markt werden göttliche Eigenschaften zugeschrieben.
Die Folgen sind offensichtlich: Vor wenigen Wochen hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt, dass die meisten Flüsse in Deutschland überdurchschnittlich verschmutzt seien. Die Ursachen liegen in der intensiven Landwirtschaft und in den ungenügend geklärten Abfällen der galoppierenden Industrie. Die Reparaturwerkstätten der modernen Gesellschaft verhindern zwar das Schlimmste, kommen aber gegen den Tsunami des ungebremsten Wachstums mit seinem Energiehunger nicht an.
Das Leiden der Flüsse steht für den Widerspruch zwischen den Zwillingsschwestern in ihrem Haushaltskrieg. Die umsichtige Ökologia hat gegenüber Ökonomia, die kurzfristige Gewinnmaximierung propagiert, den Schwarzen Peter in der Hand.
In naturgeschichtlichen Dimensionen gedacht könnte man von einem kollektiven Unfall der Menschheit sprechen. In einigen Tausend Jahren spielt das kaum mehr eine Rolle, die Geschichte der wirtschaftlichen Wachstumsspirale wird nur noch eine evolutionäre Episode sein.
Sollte es dannzumal noch Menschen geben, werden sie darüber forschen, wie ihre primitiven Ahnen Nachhaltigkeiten zerstört und in fast religiöser Gewissheit das Glück am schnellen Gewinn festgemacht und sich in ihren Überzeugungen so verhalten haben, als wären beispielsweise die Flüsse einfach da, zur Verfügung und damit unveränderlich.
Doch die Flüsse verweisen darauf, dass im Rahmen naturgeschichtlicher Veränderungen – mit all ihren mitunter heftigen Ausschlägen – ein mehr oder weniger glückliches Leben im Hier und Jetzt möglich ist. Ignorieren wir natürliche Rhythmen systematisch, müssen wir mit Konsequenzen rechnen, die wir nicht abschätzen können. Wir spielen gleichsam auf Kosten aller russisches Roulette.
Wer immer wieder in den Flüssen seiner Jugend schwimmt, spürt ihre grossartige und lebenserhaltende relative Konstanz. Wie gefährlich künstlich beschleunigte Veränderungen als Folge einer buchstäblich überhitzten Ökonomie werden, hat der Hitzesommer 2018 eindrücklich gezeigt. Gerade auch am Rhein.
Panta rhei – alles fliesst, sagt Heraklit, und das natürliche Fliessen lehrt uns, mit welchen Veränderungen wir leben können.
Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.