Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kap. 3)
Eine Kolumne von Markus Waldvogel
«Es gibt einen schmalen Roman von Günter Grass aus dem Jahr 1969 mit dem Titel «Örtlich betäubt». Im Mittelpunkt des Geschehens stehen der leicht resignierte Eberhard Starusch, Studienrat für Deutsch und Geschichte, und sein Schüler Philipp Scherbaum. Starusch hat bewegte, radikale Zeiten hinter sich, Scherbaum «verzweifelt» an der Saturiertheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Deshalb will er seinen Dackel Max auf dem Kurfürstendamm vor den Sahnetorten verzehrenden Damen in den Kaffeehäusern bei lebendigem Leib mit Benzin übergiessen und in Brand setzen – als Zeichen gegen die Napalm-Verbrechen im fernen Vietnam. Mit seinen etwas opportunistischen Vernunftargumenten hat Starusch bei seinem Schüler wenig Erfolg. Dafür glaubt er sich bei seinem philosophisch begabten Zahnarzt wieder etwas erholen zu können. Dieser strebt nämlich eine grosse, alles umfassende Weltkrankenfürsorge an, bei der die örtliche Betäubung eine entscheidende Rolle spielt: Sie wird zur Metapher des wissenschaftlichen Fortschritts im Dienste aller.
Die «Helden» in Grass’ Roman sind allesamt «örtlich betäubt». Dies vor allem auch in psychologischer Hinsicht: Die aufkommende Konsumgeneration, die radikalen, protestierenden Jugendlichen, die «besänftigten» Bildungsbürger/innen und die in eine technokratische Vernunft ausweichenden Wissenschaftler eint die Unfähigkeit, sich einer Welt nach der grossen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs radikal und schonungslos zu stellen. Der jugendliche Revolutionsidealismus, dem der arme Dackel Max geopfert werden soll, hilft da auch nicht weiter. Im Gegenteil: Der 17-jährige Scherbaum muss seine Gefühle für Max völlig abtöten respektive ignorieren. Er braucht eine psychische Anästhesie, um sein Vorhaben auch nur schon zu planen. Fast gleich geht es den anderen Protagonisten, die zu vieles von ihrem Leben abspalten, sich Illusionen hingeben und schliesslich nur noch mit «örtlichen Betäubungen» über die Runden kommen.
Wer sich heute, fast fünfzig Jahre später, mit Ökologie beschäftigt, wird um das Thema Anästhesie ebenfalls nicht herumkommen. Das griechische Wort aisthesis bedeutet (sinnliche) Wahrnehmung, Empfindung. Das Unempfindlichmachen, die Anästhesie, ist zweifellos eine der grössten Errungenschaften der modernen Medizin. Wer allerdings, wie das in der Kultur des Hyperkonsums üblich ist, auf Schnelllebigkeit, Verbrauchertum und permanenten Lärm getrimmt ist, hat kaum Antennen für das grossartige natürliche Geschehen ausserhalb seiner reduzierten Wahrnehmung. Er wird seiner Lebensbasis entfremdet, entwurzelt. Das ist besonders fatal, weil diese im frühen Kindesalter beginnende Entwicklung die gefühlsmässigen Voraussetzungen, den Zauber in der Natur zu sehen, schlicht verhindert. Wer beispielsweise gewöhnliche Amselspuren und Ahornsamen im Schnee auf der Terrasse einfach übersieht, weil er auf mehr Kick getrimmt ist, bringt sich in seinem Leben um viele zauberhafte Erfahrungen.
Aber eben: Empfänglichkeit für die wunderbare Natur ist eine emotionale Fähigkeit. Erst durch sie werden die geistigen Kräfte geweckt, die ein Mensch benötigt, um in einer Verschränkung von Gefühl und Intellekt sich mit Natur in einem sehr weiten Sinn zu beschäftigen. Diese Weite der Wahrnehmung hat synästhetischen Charakter. Damit ist gemeint, dass Gerüche, Geräusche, Farben, Stimmungen, Formen, also sinnliche Vielfalt umfassendster Art, das Lebensgefühl mitbestimmen. Natur ist so nicht länger ein nach aussen projiziertes Andersartiges, sondern etwas Grossartiges, das zu uns Menschen gehört, das aber wunderbar bleibt, ja bleiben muss. Denn ein erklärtes Wunder ist keines mehr. Die Entzauberung der Welt schwächt zudem auch die seelischen Kräfte des Widerstands gegen Naturzerstörungen aller Art. Der Mechanismus ist einfach: Man muss etwas gernhaben, um es zu respektieren. Und was man wirklich mag, will man besser kennenlernen und man trägt ihm Sorge. Der Pariser Pflanzenphilosoph Emanuele Coccia hat kürzlich in seinem überraschenden Buch «Die Wurzeln der Welt» (2018) Folgendes festgehalten: «Gingen wir von den Pflanzen aus, von ihrer Art, in der Welt zu sein und die Welt zu prägen, würden wir vielleicht aus der Sackgasse unserer Selbstbezogenheit herausfinden.» Mit Grass müsste man von einer «Sackgasse örtlicher Betäubungen» sprechen. Coccia schreibt weiter, ausgehend vom Zeitalter der Pflanzen, dem Phytozän, «dass die Welt Mischung ist und dass jedes weltliche Wesen mit derselben Intensität in der Welt ist, mit der die Welt in ihm ist.»
Unter diesem Blickwinkel wird das Wunderbare der Welt zum umfassenden Ganzen, an dem jedes Lebewesen, ja schlicht alles Vorhandene teilhat. Wenn Augustinus – in theologischer Absicht – festhält: «Das Wunder trägt sich also zu im Widerspruch nicht zur Natur, sondern lediglich zu unserer Naturerfahrung.» (Augustinus (354–430): Der Gottesstaat, 21. Buch), kann dies durchaus modern gedeutet werden. Wer Natur weiterhin als ein wie auch immer komplexes Netz identifizierbarer Objekte versteht, filtert natürliche Informationen zu Mustern entsprechender Verarbeitungsprogramme. Es wird zugerüstet, was uns eigentlich durchdringt. Die Gestalt der Natur wird von uns abgespalten und verfügbar gemacht. Man braucht sich nicht mehr – etwa über die fantastische Form der Quelle des andalusischen Flusses Guadalquivir – zu wundern.
Die Entwicklungspsychologie macht demgegenüber deutlich, dass die Muster von Wahrnehmungsfeldern erlernt werden. Sie sind also nicht gottgegeben einfach da und in Stein gemeisselt. Unsere Wahrnehmung, das, was wir über die Natur zu wissen glauben, hängt davon ab, was wir in unserer Sozialisation an Perspektiven gegenüber der Natur lernen. Wir nehmen sowohl unsere eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten als auch die Kompetenz, sich verzaubern zu lassen, mit der Muttermilch auf. Dieses Sowohl-als-auch bedeutet Hoffnung: Das Andere ist immer möglich und der Zauber und das Wunderbare (der Natur) liegen uns buchstäblich zu Füssen.
In diesem Sinn sollten wir uns über alles, was ist, wundern, anstatt krampfhaft nach attraktiven Wundern zu suchen. Das wäre ein untrügliches Zeichen für die Überwindung örtlicher Betäubung. Der Mensch lernt wieder fühlen und erwacht selbst zu neuem Leben.
Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.