Zwei bekannte Künstler, gefilmt, fotografiert, interviewt im Pyjama (oder ohne): Ist das Artivism? Was genau ist Artivism und welche Risiken und Nebenwirkungen hat diese Form des Aktivismus?

Zwei Wochen im Bett für den Frieden? 1969 taten John Lennon und Yoko Ono während des Vietnamkriegs genau dies. Yoko schreibt auf www.imaginepeace.com: «John und ich waren so naiv zu glauben, wir würden mit unserem Bed-in helfen, die Welt zu verändern. Nun, vielleicht haben wir das ja, aber zu dieser Zeit wussten wir es nicht. Es war jedenfalls gut, dass wir uns haben filmen lassen. Der Film ist heute kraftvoller als je zuvor.»

John Lennon und Yoko Ono inszenieren ihre Performance «Frieden» in Amsterdam, 1969. © 2018 Keystone

Eine allgemeingültige Definition von Artivismus gibt es nicht. Unbestritten ist, dass im Begriff Artivism «Art» (Kunst) und «Activism» (Aktivismus) verschmelzen. Kunst wie Aktivismus erlauben allerdings grossen Interpretationsspielraum – wenig überraschend also, dass es mit Artivism ebenso ist.

Peter Weigel vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie versteht unter Artivismus die «Verbindung von politischem Aktivismus mit den Mitteln der Kunst». Er sieht darin «die erste wirklich neue Kunstrichtung des 21. Jahrhunderts», denn kunstgeschichtlich betrachtet befinde sich die abendländische Kultur immer noch in der Postmoderne.

Artivismus als «Reparaturkultur» unserer Zeit, um Demokratie mit neuem Leben zu füllen und Systeme zeitweilig in Frage zu stellen? Wer Artivismus im Zusammenhang mit Demokratie sieht, liefert nur die halbe Wahrheit. Welche Bedeutung hat Artivismus in Staaten mit autokratischen Regimes?

Der inzwischen in Berlin lebende chinesische Künstler Ai Weiwei kann nicht anders, als politische Kunst zu machen. «Mein Leben war immer politisch», sagte er in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» (20.12.17). Obwohl inhaftiert und angeklagt, habe er nie mit der Kunst aufgehört; als Mensch könne er sich nicht abwenden von Meinungen und seine Kunst sei seine Meinung. Ai Weiwei sieht keinen Unterschied zwischen einem Aktivisten und einer Künstlerin, wie es auch keinen Unterschied zwischen einem Menschen und einem Journalisten gebe: «Wenn ein Künstler kein Aktivist ist, ist er ein schlechter Künstler. Kunst muss Werte bestimmen, Bedeutung herstellen. Kunst war immer aktivistisch, wenn es darum geht, das Bewusstsein und das moralische Urteil zu hinterfragen.»

Ai Weiwei, 1957 in Peking geboren, wurde bereits als Kind politisiert, als man seinen Vater verhaftete. 2011 kam er wegen kritischer Äusserungen über das Regime selber hinter Gitter. Als Künstler genoss er den Schutz der interessierten Öffentlichkeit und erlangte so 2015 seinen Pass wieder, worauf er nach Berlin ausreiste. Wie viele andere Aktivisten ohne Kunst-Fan­gemeinde im Rücken sind dagegen für immer weggesperrt worden?

Artivismus-Debatte im Westen

In autokratischen Regimes ist jede nicht gefällige Aktion politisch wirksam, erhält öffentliche Beachtung – und wird bestraft. Bei bekannten künstlerischen Absendern mag es den staatlichen Gegenspielern schwerer fallen, kurzen Prozess zu machen. Ob Artivismus oder nicht, ist dort aber nicht die dringlichste Frage.

Anders hier im Westen, insbesondere im deutschen Sprachraum, wo eine Debatte über Pro und Contra des Artivismus geführt wird. In einem Gespräch kritisierten der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich und der Designforscher Tom Bieling die Eitelkeit heutiger Protestgruppen, die ihr Tun immer gleich als Kunst verstanden wissen wollen: «Es ist nicht neu, dass Protest eine gestaltet-ästhetische Dimension hat. Und es schadet vielleicht sogar der Wirkkraft einer Aktion, wenn sie von vornherein als Kunst deklariert wird.» Dies, weil Künstler und Künstlerinnen oft in einem abgegrenzten Raum Immunität geniessen würden und gleichzeitig mit dem, was sie tun, keine reale Wirkung auf die Welt jenseits der Kunst hätten. «Wenn nun Aktivistengruppen in der realen Welt agieren und dies dennoch als Kunst verstanden wissen wollen, müssen sie damit rechnen, dass man ihre Aktivitäten als lediglich symbolisch und blosses Als-ob wahrnimmt. Dann droht Wirkungslosigkeit.»

Diese Kritik richtet sich nicht gegen Grenzen sprengende künstlerisch-politische Aktionen an sich. Sie richtet sich gegen das – offene oder verdeckte – Bedürfnis von Künstlerinnen und Aktivisten, mit Hilfe des Labels «Artivismus» spezielle Anerkennung zu erlangen. Es sollte genügen, wenn im Rahmen einer historischen Aufarbeitung von Protestkulturen einzelne Ak­tionen dem Artivismus zugeschrieben werden.

Aus heutiger Sicht artivistisch war in der Schweiz am ehesten die Aktion der Aktivistinnen vor der Tonhalle Zürich im Jahr 2013: Eine Tänzerin spielte vor der Zürcher Tonhalle einen Schwan, der qualvoll in einer Öllache verendete (siehe S. 29). Es war kein gelbes Greenpeace-Plakat zu sehen, es gab keine skandalisierende Protestrede mit Megafon, niemand ging mis­sionarisch auf die Passanten zu. Das künstlerische Schauspiel sprach für sich und beeindruckte ohne plakative Begleitbotschaft. Kreativität und Mehrdeutigkeit waren sein Markenzeichen, ein vielbeachteter aktivistischer Akzent in einer Welt, die vom Populismus überrollt wurde. Das machte die Aktion einzigartig – und be­deutungsvoll.

Mit Mehrdeutigkeit dem Populismus widersprechen

Populismus, das ist Schwarzweissdenken, das ist Gut und Böse, Gefahr auf der einen Seite, Rettung auf der anderen. Populismus ist die einfache Antwort auf eine komplexe Umgebung, die Fata Morgana in der unangenehmen Orientierungslosigkeit. Die populistische Verführung ist gefährlich, denn die absoluten Wahrheiten ersticken den Zweifel und nehmen der vielfältigen Wirklichkeit den Atem. Es kann in diesem Umfeld nur guttun, wenn einfache Kampagnenslogans künstlerisch vermittelt werden und dadurch Mehrdeutigkeit zulassen und dem Brustton der überzeugten Populisten ein pluralistisches Weltverständnis gegenüberstellen. Das gilt für Demokratien und Autokratien gleichermassen, aber ganz besonders für Gesellschaften, die mit Redefreiheit und Pluralität stark geworden sind.

Als wir uns am 18. August 2007 im Rahmen einer Greenpeace-Aktion von Spencer Tunick nackt auf dem Aletschgletscher fotografieren liessen, herrschte einige Minuten absolute Stille. Es wehte eine leichte Brise und die tiefe Versunkenheit auf dem eisigen Untergrund fühlte sich an wie ein Gebet unter einem grossen Kirchengewölbe. Ob nackt oder nicht, war unerheblich, die Verbundenheit mit diesem heiligen Ort stand im Mittelpunkt – und damit die Grossartigkeit der Schöpfung.

Ob jene Installation mit 600 Menschen nun Kunst war oder nicht oder als solche empfunden wurde, ist unerheblich. Ihre Kraft lag und liegt in der Unschärfe ihrer Botschaft. Das Bild taucht noch zehn Jahre später in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder auf. Es kommuniziert den Klimawandel und die schmelzenden Gletscher genauso wie die Berührtheit der Aktivisten und Aktivistinnen und die Verletzlichkeit des Menschen. Millionen Tunick-Anhänger, Greenpeace-Mitglieder, Menschen in aller Welt haben die Aktion in den Medien und auf You­tube zur Kenntnis genommen. Das Bild spricht. Wen interessiert, ob dafür Artivismus als Label angebracht ist …

Yoko Onos und John Lennons «Bed-in» war geprägt von den Sit-ins der No-War-Bewegung. Den Frieden brachte die Aktion nicht, aber inspiriert hat sie Millionen. Yoko Ono: «Im Film sagten wir Dinge, die Aktivisten von heute ermutigen und inspirieren könnten. Viel Glück uns allen! Erinnern wir uns: Krieg ist Vergangenheit, wenn wir es wollen. Es kommt auf uns an und auf niemanden sonst. John hätte das gerne gesagt.»

Was John Lennon in der einstündigen Doku­mentation wirklich gesagt hat: «Hört auf zu fragen, ob es etwas bewirkt. Tut selber etwas!»