In den nächsten Monaten schalten wir in loser Folge die Lieblingsartikel unserer Redaktions-mitglieder nochmals auf. Diese haben sie aus den meistgelesenen Online-Stories der letzten Jahre ausgesucht. Heute der Favorit unserer Teamleiterin Hina Strüver, der anhand eines Interviews mit dem Zürcher Biologen und Glühwürmchenforscher Stefan Ineichen erzählt, wie der Insektenschwund der letzten Jahre gebremst werden könnte.

Interview Tanja Keller

Stefan Ineichen, laut einer deutschen Studie zum Thema Insektensterben ist in unserem Nachbarland seit 1989 die Biomasse der fliegenden Insekten um 75 Prozent zurückgegangen. Was hat dieses Ergebnis bei Ihnen ausgelöst?

Dass die Dichte der Insekten und die Zahl der Arten abgenommen haben, kam für mich nicht überraschend. Beängstigend ist, wie sehr sich die Entwicklung in den letzten Jahren beschleunigt hat. Obwohl es in der Schweiz keine vergleichbare Studie gibt, dürfte der Trend bei uns etwa derselbe sein.

Woraus schliessen Sie das?

Ich habe vor sechzehn Jahren mit dem bekannten Heuschreckenforscher Adolf Nadig ein Interview für das Magazin Ornis gemacht, die Vogelzeitschrift von Birdlife. Er war damals schon über 90 und hat mir von den Spaziergängen und Wanderungen erzählt, die er als Kind mit seinem Vater unternommen hat. Damals habe es im Rheintal und rund um Chur, wo er aufgewachsen ist, auf den Wiesen von Heuschrecken nur so gewimmelt. Wenn man sich ihnen genähert habe, seien Hunderte, ja Tausende auseinandergespritzt. Nadig schätzt, dass es das 20. Jahrhundert geschafft hat, die Insektenmasse auf ein einziges Prozent des früheren Bestandes zu reduzieren. Diese Aussage hat mich schockiert.

Das Buch von Adolf Nadig zum Thema.

Kann man seiner Schätzung glauben?

Natürlich handelt es sich nicht um harte Forschungsergebnisse, sondern um persönliche Beobachtungen, aber immerhin um die Beobachtungen eines Experten. Bei den Tagfaltern gibt es hundert Jahre alte Untersuchungen, die man mit aktuellen Erhebungen verglichen hat. Der Rückgang stimmt etwa mit den Schätzungen Nadigs bei den Heuschrecken überein.

Worauf hat Nadig das Insektensterben zurückgeführt?

Er hat etwas sehr Interessantes gesagt: Wenn man heutige Landschaften mit Abbildungen auf alten Postkarten vergleiche, seien die Umrisse vergleichbar. Der grosse Unterschied bestehe in der Feinkörnigkeit; die Strukturvielfalt sei verloren gegangen. Früher gab es im Gelände mehr Steinhaufen, Büsche und einzelne Bäume. Die Landschaft war weniger ausgeräumt. Das ist sicher einer der Kernpunkte.

Was bedeuten «ausgeräumte» Landschaften für die Insekten?

Ich erkläre es am Beispiel wenig intensiv genutzter Flächen, die eine viel höhere Insektendichte aufweisen: Auf solchen Landstücken gibt es viele Schlupflöcher, die Tiere finden eine grosse Strukturvielfalt vor, die überlebenswichtig ist für sie. Wenn man Flächen «putzt», sei es an Berghängen oder im Garten, sollte man deshalb Steinhaufen anlegen. Das sind gute Ökosysteme für Tiere, beispielsweise für Schlangen.

Stichwort Ökosysteme: Ihr Steckenpferd ist eine besondere Insektengruppe, die Glühwürmchen. Was ist an den Leuchtkäfern so speziell?

Es hat sich herausgestellt, dass sie perfekte Indikatoren für gut strukturierte Landschaften und artenreiche Lebensräume sind. Wir haben unsere Erkenntnisse über die Glühwürmchen-Standorte mit der grossen Fauna-Datenbank der Naturschutzstelle der Stadt Zürich verglichen, in der rund 100 000 Einträge und Beobachtungen der letzten zehn bis zwölf Jahre gespeichert sind. Herausgekommen ist Folgendes: Man findet in der Umgebung von Glühwürmchen viele spezielle Pflanzen und Insekten, teilweise auch solche, die auf der roten Liste der gefährdeten Arten stehen. Wer zu den Glühwürmchen Sorge trägt, fördert also auch die Strukturvielfalt und damit die Ökosysteme.

Langzeitaufnahme von kleinen Glühwürmchen. (© Andreas Brodbeck)

Ganz abgesehen davon, dass ihr Anblick Erwachsene wie Kinder erfreut.

Sie sind wirklich unglaublich schön, sowohl die Grossen Glühwürmchen, die bei uns am häufigsten vorkommen und nur am Boden leuchten, als auch andere Arten wie die Kleinen Glühwürmchen, die in der Luft herumflimmern. Ich wundere mich, warum diese speziellen Insekten nicht schon längst als Vorzeigetiere in der Umweltbildung genutzt werden. Sie sind genauso attraktiv wie bunte Schmetterlinge, sogar noch eine Spur verrückter. Glühwürmer sind Magie, Science Fiction oder sogar Fantasy – und doch real. Obwohl ich schon Hunderte gesehen habe, haben sie für mich nichts von ihrer Faszination eingebüsst.

Welche Entwicklungen bedrohen die Glühwürmchen besonders?

Der englische Glühwürmchenspezialist John Tyler hat mir erzählt, dass man Blindschleichen und Glühwürmchen – slow worms und glow worms – oft an denselben Stellen findet. Beide haben gerne strukturreiche Gärten, wo sie sich verstecken können, und beide ernähren sich mit Vorliebe von Schnecken. Leider gehen im Zug der urbanen Verdichtung beide Populationen markant zurück. Es fehlt nicht nur an naturbelassenen Gärten. Beim Aushub für Neubauten werden ringsherum grossflächig Böden zerstört, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben.

Der Struktur- und Kulturwandel von Gärten, Landwirtschafts- und Grünflächen lässt Insekten sterben. Gibt es noch andere Faktoren, die sich negativ auswirken?

Leider ja. Beispielsweise die Überdüngung der Felder, der flächendeckende Einsatz von Pestiziden, die Luftverschmutzung, falsche Bodenbearbeitung, die Verbreitung blütenloser, nicht einheimischer Pflanzen, Steingärten, in denen nichts mehr wächst – man kann jede Menge Negativfaktoren aufzählen.

Vermeintlich pflegeleicht, aber schlecht für den Boden, die Pflanzen und die Tiere: Der Schottergarten. (© www.urban-green-network.ch)

Welche sind besonders problematisch?

Die Stickstoffimmissionen aus der Landwirtschaft und den Verbrennungsprozessen von Treib- und Heizstoffen sind aus meiner Sicht die grösste Gefahr. Je nach Standort reden wir da von bis zu 20 Kilogramm pro Hektare, und das flächendeckend. Die hohen Belastungen beeinflussen die Lebensgemeinschaften in der Vegetation, fördern die fetten Lebensräume und drängen tierische und pflanzliche Liebhaber von mageren Standorten massiv zurück. Der erhöhte Stickstoffeintrag wirkt wie ein Pestizid und vernichtet einen Teil der hiesigen Pflanzenwelt. Parallel dazu nimmt auch die Vielfalt der Insekten ab.

Immerhin bemühen sich viele Hobbygärtnerinnen und -gärtner, ihren Flächen Sorge zu tragen. Beispielsweise indem sie in ihren Gärten mulchen, statt die Erde umzupflügen und ständig zu häckseln.

Je weniger man die Bodenschichten zerstört, desto besser. Man sollte den Boden möglichst in Ruhe lassen, das ist sicher besser für die Lebewesen und die Bodenfauna. Wer im Garten einen Laubhaufen hat, in dem sich Schnecken verstecken können, trägt überdies dazu bei, dass Insekten, Reptilien, Igel und Vögel genügend Nahrung finden.

Der Natur sollte man zwischendurch freien Lauf lassen. (© Tanja Keller)

Also ist es ratsam, das Laub im Garten liegenzulassen?

Es muss nicht alles Laub weggeblasen werden, im Gegenteil. Ich finde es wichtig, dass man alte Äste aufhäuft oder modriges Zeug einfach mal liegenlässt. An solchen Orten können sich an heissen Sommertagen Insekten und andere Tiere verkriechen. Wechselwarme Tiere brauchen aber auch offene, warme Stellen, damit sie in der Dämmerung aktiv werden können. Die Männchen der Glühwürmchen brauchen beispielsweise einen offenen Flugraum, um die leuchtenden Weibchen zu finden. Im Dickicht haben sie keine Chance. Die Leuchtkäfer sind oft an Übergangsorten zu finden, dort, wo beide oder verschiedene abwechslungsreiche Strukturen vorhanden sind, wie sie eben in alten Gärten noch oft bestehen.

Apropos fette Gärten: Ich versuche schon seit Jahren auf einem Flecken Land bei uns im Garten, der keinen fetten Oberboden mehr aufweist, eine magere Wildblumenwiese hinzukriegen. Ist das überhaupt sinnvoll, die Natur in ein solches Korsett zu zwängen?

Es gibt schon Orte, an denen das Ausmagern gelingt; vor allem wenn man das Schnittgut immer entfernt oder gar eine Humusschicht abträgt, Kies und Sand dazugibt sowie standort- und bodenartgerechte Pflanzen fördert. Auch wenn dies vielleicht an gewissen Orten fragwürdig erscheint, zeigt es in der Förderung von diversen Insektenbeständen gute Ergebnisse.

Gibt es weitere Möglichkeiten, im eigenen Garten Gutes für den Insektenbestand zu tun?

Über die Auswahl der Büsche und Pflanzen lässt sich einiges erreichen. Man sollte möglichst einheimische Pflanzen und Blütenpflanzen kaufen, die etwa für Schmetterlingsraupen passend sind und von Insekten gerne angeflogen werden. Wichtig sind Blütenpflanzen für Schwebefliegen, Bienen und andere Bestäuber von Blütenpflanzen. Ast-, Stein- und Laubhaufen sowie Steinmäuerchen nützen immer. Ausserdem plädiere ich für eine gewisse Faulheit im Garten. Es ist völlig okay, ja sogar gut, nur das Minimum zu machen. Und nicht zuletzt sollte man gescheit mähen.

Wichtig sind Blütenpflanzen für die Förderung von Insekten. (© Tanja Keller)

Gescheit mähen? Als Kundengärtnerin bin ich teilweise gezwungen, den Trimmer zu brauchen. Den Insekten kommt das kaum zugute.

Es kommt natürlich auf die Grösse der Fläche an, ob man mäht, trimmt oder mit der Sense arbeitet. Wir haben in der Wynegg bei Zürich auf zwei gleich grossen Flächen von je 30 Quadratmetern einen Versuch durchgeführt. Die eine Fläche haben wir mit der Sense gemäht und anschliessend gerecht, die andere haben wir mit dem Trimmer geschnitten und das Gras mit dem Laubbläser zusammengenommen. Erstaunlicherweise waren wir mit der fast geräuschlosen Sense schneller als mit dem lautem Trimmer. Und mit dem Rechen waren wir deutlich effizienter als mit dem Gebläse. Kommt dazu, dass Trimmer mit ihrer Sogwirkung alles vernichten und zerschnetzeln, was ihnen unter die Schnüre kommt. Nicht nur Insekten, sondern auch Igel sterben immer wieder, wenn sie von einer Trimmerschnur erwischt werden. Mit der langsamen Sense schafft man es nicht, auch nur eine einzige Erdbiene zu treffen.

Bedeutet das zurück in die Steinzeit zu gehen? Die Wiesen wieder mit Sensen mähen?

(lacht) Sensen gibt es erst seit der Eisenzeit. Ihr Einsatz ist natürlich nicht überall sinnvoll, zuweilen aber schon. Bei der Kreuzkirche in Zürich mähen wir jedes Jahr eine Wiese mit Leuten aus unserer Sensengruppe. Das ist ein wunderbarer und einzigartiger Standort, an dem auch die kleinen, blinkenden Italienischen Leuchtkäfer vorkommen. Es gibt sie dort schon seit den Fünfzigerjahren. Niemand weiss, wieso sie sich genau dort gehalten haben. Wir sensen, um sie zu schonen.

Wie sieht es mit der Lichtverschmutzung aus? Hat sie ebenfalls negative Auswirkungen auf die Insekten?

Im Garten sollte man nur die nötigsten Lichtquellen einsetzen – am besten gar keine, denn sie stören viele Nachttiere, die nur bei Dunkelheit aktiv werden. Von den Glühwürmchenlarven wissen wir, dass sie schon bei Vollmondlicht ihre Aktivität vorübergehend einstellen. Die kunstvollen Lichtinszenierungen in den Gärten sind eine ganz schlechte Idee. Dazu kommt, dass Glühwürmchenmännchen jeden Lichtkegel meiden, während sich die Weibchen ganz gerne unter einer Lichtquelle aufhalten. So finden die Männchen die Weibchen nicht mehr, was bei einer Vermehrungszeit von nur zwei Wochen verheerend sein kann. Jede Strassenlampe in einem Glühwürmchengebiet schneidet eine Art Käseloch in die Fortpflanzungslandschaft. Also: Kein Licht im Garten.

Unternimmt die Politik genug, um die Insektenvielfalt zu fördern?

Grundsätzlich gilt nach Bundesrecht, dass sowohl auf dem Land wie in den Siedlungsräumen für einen ökologischen Ausgleich gesorgt sein sollte. Für die landwirtschaftlich genutzten Flächen gibt es im Zusammenhang mit den Direktzahlungen immerhin eine entsprechende Umsetzung, wenn sie auch bei weitem nicht perfekt funktioniert. In den Siedlungsräumen hingegen fehlen die politischen Instrumente, um die Biodiversität zu erhalten oder zu fördern. Das ist ein Problem. In urbanen Gebieten muss die Politik dringend einen ökologischen Ausgleich veranlassen.

Gibt es Ideen, wie man das bewerkstelligen könnte?

Vor ein paar Jahren hat die Lausanner Professorin Joëlle Salomon Cavin vorgeschlagen, einen National- oder Naturpark im Siedlungsraum zu schaffen. Es sei absurd, nur in unberührter Natur Schutzgebiete einzurichten. Ich finde das eine gute Idee, auch wenn sie schwierig umzusetzen ist. Vielleicht läge die Lösung in Mini-Naturparks. Und vielleicht bräuchte es für die Erhaltung der Biodiversität im Siedlungsraum eine Mischung aus Anreizen und Verboten: finanzielle Anreize, solche Naturoasen in urbanen Gebieten einzurichten, und Verbote, bei neuen Überbauungen die ursprüngliche Natur flächendeckend auszumerzen. Schutzgebiete in urbanen Zonen könnten genügend Insekten beherbergen, um auch Blüten in nahen Landwirtschaftszonen zu bestäuben. Das wäre eine Win-win-Situation.

Vorderhand geht das Insektensterben unvermindert weiter. Mangelt es an öffentlicher Aufklärung?

Es gibt viele tolle und von der Zivilbevölkerung initiierte Aufwertungsprojekte in der Landschaft, Vorträge und Events. Wer sich informieren will, kann das. Tatsache ist, dass informierte Menschen sorgsamer mit der Natur umgehen. Am Wichtigsten scheint mir der ganzheitliche Zugang zur Ökologie. Die Menschen sollten ihr Verhalten gegenüber der Natur verstehen und es hinterfragen. Die Antworten kämen nicht zuletzt den Insekten zugute.

Die Arbeits- und Forschungsschwerpunkte des Zürcher Biologen Stefan Ineichen (59) sind Stadtfauna und die Naturgeschichte der Stadt. Seine besondere Faszination gilt den Glühwürmchen. Ineichen doziert seit 1997 an der ZHAW. Er ist seit 2000 Projektleiter von NahReisen und hat gemeinsam mit B. Klausnitzer und M. Ruckstuhl das Buch «Stadtfauna» publiziert (Haupt Verlag, Bern 2012).