Wie fotografiere ich die Berührung des Windes? Die ecuadorianisch-amerikanische Fotokünstlerin Karen Miranda Rivadeneira will mit ihrer Arbeit den Dialog zwischen verschiedenen sozialen und ökologischen Lebenswelten erweitern. Sie schärft unseren Blick, damit wir sehen können, was hinter den Bildern liegt.

Durch die dunkle Regennacht rollt mein Bus Richtung Flughafen, als jäh ein bleicher Vollmond durch die Wolken drängt und einen milchigen Schimmer über die grosse, nasse Schwärze wirft.

Diesen unerwarteten und unwirklichen Augenblick hätte ich wohl verpasst, wenn ich mich in den Tagen zuvor nicht intensiv mit den Bildern und Visionen der ecuadorianisch-amerikanischen Fotografin Karen Miranda Rivadeneira beschäftigt hätte, die ich später am Tag in New York treffen will. Und vermutlich hätte ich ohne die Begegnung mit den eindringlichen Fotos dieser Künstlerin beim Anflug auf La Guardia auch übersehen, wie die Morgensonne die verästelte Seenlandschaft von Finger Lakes versilbert und vergoldet – als ob sie uns die Kostbarkeit des Wassers unmissverständlich vor Augen führen wollte.

Es geht hier nicht um meine Person, sondern um Fotografien, die unsere Wahrnehmung über den Moment hinaus schärfen und vertiefen. Es geht um Bilder, die neue Arten des Sehens und vielleicht sogar des Lebens eröffnen möchten.

Ich treffe Karen Miranda Rivadeneira mitten in Manhattan, im Bryant Park. «Ich trinke Tee und trage eine Sonnenbrille», textet sie mir als Orientierungshilfe. Doch ich kenne die zierliche junge Frau mit den langen dunklen Haaren und den ausdrucksstarken Augen bereits, wenn auch nur virtuell, als Hauptfigur ihrer eigen­willigen Fotofamiliengeschichte «Other Stories/Historias Bravas». Wir finden uns problemlos und beschliessen, trotz grossstädtischem Verkehrslärm und eher frösteligen Temperaturen draussen in der hellen Frühlingssonne sitzen zu bleiben. Noch ist die Rasenfläche im Zentrum der Anlage jung und verletzlich und deshalb gesperrt. Vom Rand her blicken wir also in das makellos gepflegte, uniforme Grün, während wir über den atemberaubenden Artenreichtum im Amazonasgebiet sprechen, aber auch über Menschen- und Drogenhandel und über Zusammenstösse der indigenen Bevölkerung mit Holzfällern und Ölarbeitern in dieser Region.

Urbanes Amazonien

Meine Gesprächspartnerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen sozialen und ökologischen Konflikten, die sie mit dem Begriff «urbanes Amazonien» umschreibt. Ihr Interesse am Thema hat nicht zuletzt mit ihrer eigenen multikulturellen Biografie zu tun. Die ersten vier Jahre lebt die 1983 geborene Karen Miranda in Queens, New York. Die späteren Kinder- und die Jugendjahre verbringt sie jedoch in Ecuador. Dort lernt sie auf ausgedehnten Reisen mit ihrem Vater das Amazonasgebiet kennen. Sie merkt zum Beispiel früh, dass die indigene Bevölkerung in den Bergen und die Küsten­bewohner des Landes ein ganz unterschiedliches Leben führen.

Ausgerechnet am 11. September 2001, wenige Stunden vor denTerroranschlägen, kehrt die junge Frau zum Studium nach New York zurück. Da lebt sie bis heute im Schoss ihrer ecuadorianisch-amerikanischen Grossfamilie an der – nomen est omen – Bliss Street (Glück­strasse). Etliche Arbeiten von Karen Miranda Rivadeneira sind wahre Liebeserklärungen an diese Heimat. Trotzdem zieht es die Künstlerin immer wieder hinaus und in andere Welten: Nach ihrem Studienabschluss in bildender Kunst reist sie 2006 zurück nach Ecuador und arbei-tet dort zum ersten Mal mit der Kamera, und zwar für die Tageszeitung «El Comercio». Als Fotojournalistin besucht sie unter anderem den Yasuní-Nationalpark, wo sie die Waorani kennenlernt. Den Überlebenskampf dieser indigenen Bevölkerung dokumentiert sie in «Omeede» einem fortlaufenden Foto- und Videoprojekt. «Omeede» ist das Waorani-Wort für Wald und auch für Zuhause.

Und wo fühlt sich die mit zahlreichen internationalen Kunstpreisen und Residenzstipendien ausgezeichnete Künstlerin selber am ehesten zu Hause? Die Kosmopolitin hat nicht nur in den USA und Ecuador gelebt, sondern auch in Dänemark, Italien und Paris. Und sie wird nächstens drei Monate als Stipendiatin in Taos, New Mexico, verbringen. Sie bewegt sich einerseits in der grossstädtischen Kunstszene und versenkt sich andererseits in indigene Kulturen wie die guatemaltekischen Mam, die meso­potamischen Mandäer oder die Waorani und die Shuar im Andengebirge.

«Wo bist du daheim?», frage ich Karen Miranda direkt. Sie blinzelt in die Sonne und seufzt, in der Grossstadt vermisse sie die opulente Natur des Amazonasgebiets. Draussen in der Natur, etwa im Regenwald, fehle ihr hingegen die nötige Infrastruktur, um ihre Sinneseindrücke zu fassen, zu gestalten und zu präsentieren.

«Ich erlebe dieses Hin und Her aber nicht als Zerrissenheit, sondern als Erweiterung», sagt Karen Miranda entschlossen. Bilde ich mir – als USA-Schweizerin ebenfalls zwischen zwei Welten balancierend – bloss ein, dass bei meinem Gegenüber doch auch etwas nostalgische Wehmut mitklingt?

Meditation und Donnergrollen

Wir lenken unser Gespräch auf das Amazonien-Projekt «Nantar/Arutam», das in diesem Greenpeace Magazin vorgestellt wird. Die Fotografin besuchte für diese Arbeit die Shuar, ein indigenes Volk, das seit erdenklichen Zeiten am östlichen Fuss der ecuadorianischen Anden lebt. Besonders oft reiste sie in die Kleinstadt Shell, die tatsächlich nach dem bekannten Erdölkonzern benannt ist. Ihr Interesse war anfänglich dokumentarisch. «Ich begann auch dieses Projekt aus Interesse am urbanen Amazonien», erklärt Karen Miranda, «doch dann haben die Leute vor Ort kaum über soziale Spannungen oder Umweltzerstörung gesprochen, dafür umso mehr über die Spiritualität, die ihr Leben leitet und bestimmt. Fast gegen meinen Willen wurde ich hineingezogen und eingeführt in ihre animistische Welt.»

In den Nantar/Arutam-Bildern von Karen Miranda Rivadeneira kommt Shell weder ex­plizit als Erdölbasis der 1940er Jahre noch als späteres Hauptquartier der Mission Aviation Fellowship vor. Wir erhalten auch keine lexikografischen Informationen über die mittelalterlichen Eroberungsversuche der Inka und der Spanier in dieser Region. Wir erfahren nichts über die Schrumpfköpfe der Shuar, die Generationen westlicher BeobachterInnen fasziniert haben. Die Fotografin will den Shuar auf Augenhöhe begegnen. Sie lebt mit ihnen und spricht mit ihnen über ihren Alltag, in dem die Shuar immer auch von Geistern begleitet und geleitet werden.

Die Wahl-New-Yorkerin sieht diesen Animismus nie als das exotisch Andere, sondern als ein zutiefst menschlicher Versuch, die multi­sensorische Naturerfahrung zu benennen und zu deuten. Mit Rückgriff auf die zwei europäischen Intellektuellen Martin Heidegger und C. G. Jung interpretiert die Künstlerin die spirituellen Kräfte der Shuar als Archetypen, die die Psyche des Menschen in verschiedenen Zuständen repräsentieren – und deshalb universal, das heisst allen zugänglich, sind. «Nantar steht für das Erhabene, Flüchtige, für natürliche Vorkommnisse, die wir im besinnlichen Denken wahrnehmen können», fasst Karen Miranda zusammen, «Arutam hingegen ist die vitale Kraft, ist Aktion, Kampf, inneres Donnergrollen.»

Auf Reisen in die Napo-Provinz von Ecuador hat Rivadeneira aufgezeichnet, was die Shuar selbst über Nantar und Arutam sagen: «Arutam zu sehen bedeutet eine spezielle Art von Tod, ein Ausblenden des Selbst. Arutam ist im Donner und im Wasserfall, in allem, was verdunstet, im Regen und auch in den Wolken. Du weisst, wann Arutam nahe ist, denn alles hört auf zu sein. Doch du musst fasten, auch mit den Augen, musst den Körper beruhigen und darfst dich nur mit dem Nötigsten bedecken, denn deine Haut wird Empfangende, du gewinnst eine neue Vision.»

«Es ist schwierig, Nantar einzufangen, denn dieser Rubin liegt zwischen Dämmerung und Tag, zwischen Erde und Luft, im Nacken von Arutam. Nantar zu sehen bedeutet, nicht mehr suchend zu schauen. Nantar ruht weltentrückt im Wesentlichen des Lebens. Wenn der Unterschied zwischen Staub und Traum verschwindet, zeigt sich Nantar.»

Ein Rückzug ins Paradies? Nein, meint Karen Miranda. Der Regenwald in Amazonien sei zwar traumhaft schön, doch das Leben der Shuar sei nicht paradiesisch. Sie romantisiere die Shuar nicht als «edle Wilde», sondern sehe sie als aktive MitbewohnerInnen unserer Welt und als Teil der globalen Entwicklungen. Die Künstlerin betont: «Mein Hauptanliegen ist es, den bestehenden Dialog immer wieder zu erweitern. Wenn ich erkunde, wie andere Kulturen sich und ihre Umwelt sehen, können wir alle vielleicht ein wenig ganzheitlicher und weitsichtiger werden.»

Die Fotografie als Anfang

Wir wollen auf dem Laptop ein paar Fotos anschauen. Auf der Strasse heulen Polizeisirenen, ein Missionar hält uns sein Jesus-Plakat vors Gesicht. Das Sonnenlicht legt sich als heller Schatten über die Kunst am Bildschirm. Trotz aller Ablenkung tauchen wir ein in die vielschichtige Welt von Nantar/Arutam, die so ganz anders ist und doch wieder nicht. Die Neon­röhre über der Frau, die sich halbnackt einer Feuerreinigung unterzieht, bringt das mystische Ritual in unsere Welt zurück. Die Frau, die sich im Gewitter einfach auszieht und in den Regen hinausrennt – wer hat sich das nicht auch schon gewünscht? Die Fotografie des Feldes, auf dem sich Gräser und Wolken alle in die gleiche Richtung bewegen, das sei für sie Nantar, verrät Karen Miranda.

Ins Schwärmen gerät die Fotografin beim Blick vom Berg auf den See. «Diese Fotografie beantwortet meine Frage: Wie fotografiere ich die Berührung des Windes? Bei dieser Aufnahme haben das Objektive und das Subjektive, Logik und Intuition optimal zusammengespielt. Die ideale Konstellation von Befindlichkeit, Ort, Zeit und Technik haben das fast Unmögliche möglich gemacht», freut sich die Künstlerin und erklärt, dass dieses Bild auf dem Bildschirm oder auf Glanzpapier leider nicht ganz zur Geltung komme. Die Windwirbel entstünden erst auf grobem Papier und dank einer speziellen Entwicklungsmethode.

Es wird klar, dass Karen Miranda Rivadeneira ihre Bilder wie Malerei sieht und behandelt. Technik, Grösse und Art der «Leinwand» spielen eine grosse Rolle. Man müsste statt des kleinformatigen Tablets einen dreidimensio­nalen Ausstellungsraum vor Augen haben, auch um die Bilder im richtigen Format und Zusammenhang zu sehen.

Karen Miranda sagt, wenn sie den Shuar ihre Arbeiten zeige, wüssten die jeweils sehr genau, welche Fotos nebeneinander stehen sollten, und erzählten ihr dann eigene Geschichten dazu. Ohne sich um Kunstrezeptionstheorien zu kümmern, nähern sie sich Karen Miranda Rivadeneiras Werk genau so, wie es sich die Künst­lerin wünscht: «Eine Fotografie endet nie in
der Fotografie selber; das ist bloss ein Anfang.»

Und wo soll unser bereits sehr langes Gespräch enden? Ein adretter junger Mann in Anzug und Krawatte nimmt uns die Entscheidung ab. Er nähert sich unserem Tisch und fragt höflich, ob wir vielleicht eine Lebensversicherung abschliessen möchten. Nein, danke, lachen wir, nun wieder ganz zurück im urbanen Alltag von Manhattan.

Karen Miranda Rivadeneira (1983) wuchs in Ecuador auf und studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York. Später bekam sie ein Stipendium für die Danish School of Journalism. Ihre Bilder wurden unter anderem in der Portrait Gallery des Smithsonian Museum in Washington DC ausgestellt. Letzten Herbst nahm sie am Photoquai der Biennale des images du monde im Musée du Quai Branly in Paris teil. Heute lebt und arbeitet sie zwischen New York City und der Westküste der USA.

Lotta Suter, Mitbegründerin der Wochenzeitung WOZ, lebt heute in Vermont, USA, und arbeitet als freie Korrespondentin und Buchautorin für verschiedene Medien. Seit der Wahl von Präsident Donald Trump beschäftigt sie sich intensiv mit US-Gruppierungen, die Widerstand leisten und sich für soziale sowie Ökologische Gerechtigkeit einsetzen.