Der Glaube an die messbare Welt verhilft der Wissenschaft zur Interpretationsmacht über die Natur. Eine gefährliche Tendenz mit durchaus theologischen Wurzeln.

Eine Kolumne von Markus Waldvogel

Kirchliche Schriftgelehrte strebten bis ins späte Mittelalter nach einer allseits gültigen Interpretation der Heiligen Schrift. Deshalb bezeichneten sie die in der Bibel häufigen «Universalien», abstrakte Begriffe wie das Gute, das Gerechte und das Göttliche als unumstössliche Realitäten. Kritische Mönche sahen das anders. Die Universalien waren für sie die Folge eines Denkprozesses, der von den Gegenständen ausging. Erst die Beobachtung verschiedener Bäume beispielsweise führe zur Idee des Baumes. Das Göttliche wurde so zu einer Konstruktion des Menschen aufgrund von Erfahrungen mit der Unendlichkeit der Schöpfung oder seiner eigenen Unzulänglichkeit. Welt und Natur konnten jedenfalls nicht mehr allein im Kontext der Heiligen Schrift verstanden werden. Der blitzgescheite Franziskanermönch Wilhelm von Ockham (1285–1347) brachte es auf den Punkt. Die wirklichen Dinge sind individuell, ihre Bezeichnungen dagegen abstrakt: «Der Begriff ist niemals wirklich dasselbe wie jenes, dessen Begriff er ist.» Die orthodoxen Kirchenführer sahen durch diesen «revolutionären», lebendigen Ansatz ihr starres und abstraktes Lehrgebäude in Gefahr und verfolgten die abtrünnigen Mönche bis aufs Blut.

Weiss die Wissenschaft noch, dass sie nichts weiss?

Heute scheint alles ganz anders zu sein. Wir leben in Zeiten, in der jede und jeder forschen kann, was er oder sie will. Oder doch nicht ganz? Es überrascht auf jeden Fall, mit welcher Selbstverständlichkeit zurzeit zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Deutungshoheit gegenüber Mensch und Natur unterstreichen. Die Möglichkeit, Wirklichkeiten «vollständig zu erfassen», wird als sinnvolles Ziel verfolgt – trotz logischer und empirischer Einschränkungen. An dieser Stelle seien nur drei Einwände skizziert.

  1. Schneekristalle verfügen zwar über eine identische, hexagonale (drei sich schneidende Geraden) Struktur. Real gibt es sie aber nur als ähnliche und immer unterschiedliche Einzelflocken.
  2. Seit bald einmal hundert Jahren zeigt die physikalische Unschärferelation Heisenbergs, dass Teilchen niemals «rein» erkannt werden können. Es ist zum Beispiel unmöglich, den Ort und den Impuls eines Teilchens gleichzeitig mit unbegrenzter Genauigkeit zu messen.
  3. Jede Definition einer «Information» schliesst etwas ein und etwas aus. Deshalb ist eine Definition in den empirischen Wissenschaften niemals vollständig.

Wenn solche Einschränkungen als Randprobleme bagatellisiert werden, bedeutet das, dass in weiten Teilen des Wissenschaftsbetriebs allein «auf Anwendung hin» geforscht wird. Die überragenden Resultate gerade in den Bereichen der künstlichen Intelligenz und der Robotik verführen folgerichtig zu offensichtlicher Betriebsblindheit. Anders kann nicht erklärt werden, wie vollmundig Wissenschaftler über die Beseelung von Robotern oder über den künstlichen Menschen reden. Auf der Suche nach dem absoluten Wissen kommt ihnen die Bescheidenheit abhanden. Wie früher die religiösen Machthaber wollen sie die Interpretationsmacht über die Welt.

Wissenschaft als Religion

Die Spinne im Netz und ihre Beute ist ein gutes Bild für die herrschende Logik der Abstraktion. Nur die Beute steht zur Diskussion, aber nicht, was durch die Maschen fällt. Nur was gemessen werden kann, existiert. Die kritischen Kräfte hingegen lassen sich in der öffentlichen Debatte, wo sie denn noch stattfindet, damit trösten, dass viele Technologien «sanft» wären und letztlich der gebeutelten Welt entgegenkämen. Das mag sein. Doch eine ganzheitliche und damit ökologische Betrachtungsweise von Mensch und Natur orientiert sich daran, ob sie die Natur lediglich als einen Komplex von Begriffen und Informationseinheiten versteht oder als letztlich niemals vollständig zu erfassendes Ganzes. Dessen Grösse verlangt tiefen Respekt und eine durchaus auch politisch zu verstehende Demut.

Wer die Welt dagegen – wie differenziert auch immer – lediglich als vernetztes System begreift, wird sich früher oder später komplizenhaft zu den herrschenden wissenschaftlichen und mit ihnen oft verbandelten politisch-ökonomischen Instanzen verhalten. Dagegen hilft auch eine Prise Achtsamkeit, fernöstliche Gelassenheit oder mystische Erkenntnis nicht. Es geht – in Anlehnung an Theodor W. Adorno – gerade nicht um Erholung für ermüdete Geschäftsleute, Politcracks und Wissenschaftler. Es geht um die tief im kollektiven Bewusstsein verankerte einäugige Logik der Messbarkeit mit ihrer Sehnsucht nach der gültigen Interpretation von Welt und Natur. Sie müsste um eine gleichberechtigte Haltung der Offenheit bezüglich des Unerfassbaren und der unendlichen Vielfalt ergänzt werden. Das wäre eine notwendige Leitplanke für eine zukunftsgerichtete Wissenschaft. Zu Recht fragt beispielsweise der Schweizer Landschaftsschutz nach den psychologischen und spirituellen Folgen des Verschwindens markanter und «schöner» Landschaften. Ihre seelische Bedeutung – gerade auch für das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen – wird ebenso einbezogen wie die Veränderung ästhetischer Wahrnehmung. Die breit angelegten Fragestellungen zielen in die letztlich entscheidende Richtung. Da gibt es kein Wenn und Aber. Es sei denn, man wolle den Entscheid, welches Wissen über das Leben wirklich von Bedeutung sei, den tonangebenden modernen «Päpsten der Wissenschaft» überlassen.

Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.