Alle konsumieren sie. Manche wollen sie bezwingen. Wenige treten in Verbindung zu ihr. Markus Vogler ist so einer. In Kursen lehrt er auch andere, wie Naturverbindung geht.

Das Fenster der Wohnung ist weit offen. Obwohl noch Winter ist, singt draussen ein Vogel. «Ein Rotkehlchen», sagt Markus Vogler. Der 35-Jährige lehnt sich aus dem Fenster, schaut links, schaut rechts, zuckt mit den Achseln und sagt: «Ich sehe sie zwar nicht, aber wenn ein Rotkehlchen so angibt, pirscht in der Nähe eine Katze durch die Gegend.» ❧ Vogler ist Natur- und Wildnistrainer. Er leitet Menschen an, sich mit der Natur zu verbinden. Der Name ist Zufall. Vogler stammt auch nicht aus einer ornithologisch beschlagenen Familie – der Vater war Lehrer, die Mutter Anästhesistin. Und in jungen Jahren war sein Interesse an der Natur nie stärker ausgeprägt als das seiner gleichaltrigen Kollegen im Aargau, wo er aufwuchs. Sein wildestes Naturerlebnis bestand darin, sich in der zuweilen rauen Reuss flussabwärts treiben zu lassen. ❧ Als Teenager wurde er zum ambitionierten Snowboarder. Zu den weniger vorteilhaften Seiten des Wintersports, namentlich für die Umwelt, machte er sich nicht gross Gedanken. Er absolvierte eine Lehre als Automatiker. Damals deutete nichts darauf hin, dass in seinem Wohnzimmer dereinst eine ganze Bibliothek zu Naturthemen stehen würde. Jetzt reihen sich in seinem Zuhause Bücher mit Titeln wie «Die geheime Sprache der Vögel», «Leben in der Natur», «Das Rotwild» oder «Der Fährtensucher» aneinander. Das Meiste habe er aber draussen gelernt, betont der kräftige Mann, der es in den eigenen vier Wänden nur selten lange aushält.

Ein Wink von oben

Vogler war 22 Jahre alt und nach einem gröberen Snowboard-Unfall verletzt, als ihm der Inhaber eines Musikladens von einer speziellen Schule in Österreich erzählte. Er beschloss, sich für die Ausbildung zum Natur- und Wildnistrainer anzumelden. Auf seinem Konto hatte er noch genau den nötigen Betrag. Das war für ihn kein Zufall, sondern ein Wink von oben. Er hat seinen Entscheid bis heute nicht bereut. ❧ In seinem Bündner Wahlwohnort hat Vogler, unterstützt von Freunden, vor ein paar Jahren seine eigene Natur- und Wildnisschule eröffnet. Auf einer versteckten Lichtung an einem Bach richteten sie den Schulungsplatz ein: eine Feuer- und Kochstelle, eine Schwitzhütte, ein Abort – alles mit Materialien aus der Umgebung. Wer an einem der mehrtägigen Kurse teilnimmt, isst und schläft dort. Eine eigene Schutzhütte zu bauen ist Teil des einwöchigen Wildnis-Grundkurses. Die Teilnehmenden lernen ausserdem, wie man Feuer macht, Wasser und Nahrung beschafft, Gebrauchsgegenstände herstellt, Spuren liest, sich bei der Jagd lautlos fortbewegt und die Vogelsprache interpretiert. Die Kurse finden vorwiegend in der warmen Jahreszeit statt – zwischen April und Oktober ist Vogler fast permanent draussen am Unterrichten.

Gegen die Natur oder mit ihr?

Wer das Angebot seiner Schule NaturLeben studiert und sich für Überlebenstechniken interessiert, dürfte sich angesprochen fühlen. Es werden immer mehr, die wissen wollen, wie man in der Wildnis klarkommt. Vor allem Männer interessieren sich für diese Fähigkeit, die im Englischen als «Bushcraft» bezeichnet wird – womöglich inspiriert durch die vielen TV-Formate mit harten Kerlen wie Bear Grylls, Ray Mears, Les Stroud oder Ed Wardle. Das Gemeinsame an diesen Sendungen: Der Held (seltener die Heldin) setzt sich mit primitiven Mitteln gegen die Natur durch. In der Schweiz war Survival als chillig-thrillige Fernsehunterhaltung bereits 1999 ein Erfolg – im Reality-Format «Expedition Robinson». ❧ In Voglers Kurse verirren sich manchmal auch Leute, die sich unter NaturLeben eine Art Lagerfeuerromantik à la Marlboro Man vorstellen, allenfalls inklusive Ausnehmen und Verspeisen des wilden Tieres, das man selber getötet hat. (Sie werden erfahren, dass das Töten von Tieren nicht im Angebot ist.) Und es gibt noch eine andere Gruppe, die sich eher unerwartet für die Beschäftigung mit der Natur interessiert und laut Vogler nicht selten in Militärkleidung daherkommt: «Sie wollen die Natur überwinden, sich gegen die Elemente behaupten. Das zu können, ein krasser Fighter zu sein, gibt einem natürlich Sicherheit.» ❧ Obwohl er das Bündner Jagdpatent hat und im örtlichen Jagdverein engagiert ist, will Vogler seinen Schülern nicht beibringen, wie man sich gegen die Natur behauptet. Für ihn ist das Leben und Überleben in der Wildnis etwas, das der Mensch mit der Natur macht. Oder wie er sagt: «Nur schon die Unterscheidung zwischen Mensch und Natur ist doch absurd.» Er hofft jeweils, «dass auch jene Leute, die mit einer andern Motivation zu mir kommen, eine Verbindung zur Natur finden».

Spiritualität und Naturverbindung gehören zusammen

Markus Vogler nennt sich auch «Stiller Bär». Das Wissen, das er sich in der Ausbildung und in vielen Kursen angeeignet habe und jetzt weitergebe, gehe auf die Indianer zurück, erklärt er. Was unterscheidet ihn also von den selbsternannten und nicht selten reaktionären Schamanen im Land? Er überlegt lange, hält eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand, schaut aus dem Fenster. Das Rotkehlchen ist verstummt, es ist jetzt still draus­sen. Dann sagt er: «Die Zeremonien, die bei vielen im Zentrum stehen, sind auch mir wichtig. Aber man sollte nicht nur die Schwitzhütte geniessen, sondern auch die Naturverbindung fördern. Sonst fehlt die Verankerung. Spiritualität ohne Naturverbindung geht nicht – und umgekehrt. Spiritualität ist Verbundenheit. Und letztlich geht es im Leben doch genau darum: verbunden zu sein – präsent, wach, aktiv.» ❧ Am Anfang seiner Ausbildung stand die Erkenntnis, dass er in dem System, in dem wir leben, keinen Sinn sieht. «Ich fand einfach: Wie soll ich glauben, dass ich das Geld, das ich in die dritte Säule einzahle, jemals wiedersehen werde?» Das Konzept, wonach Geld Sicherheit geben soll, habe er nie verstanden. Heute wisse er, dass er überall überleben könnte: «Ohne Geld. Das ist es, was mir Sicherheit gibt.» ❧ Mit 25 Jahren ging er für zehn Tage in den Wald, ausgerüstet nur mit einem Messer. Seither tut er das regelmässig. Er hat schon unzählige Schutzhütten gebaut und weiss sich in der Natur mit einfachen Mitteln zu behelfen. Er kennt sich hervorragend mit Wildkräutern und Wurzeln aus und kann Vogelstimmen zuordnen, nicht nur jene des Rotkehlchens.

Es geht um die Erfahrungen

«Spuren und Vogelstimmen erzählen Geschichten», sagt er. «Je tiefer wir eintauchen, desto grös­ser wird das Verständnis, desto spannender wird es.» Natürlich könne man sich auch Wissen durch Lesen aneignen, nicht aber die Erfahrung. Dass er es Erwachsenen und Kindern ermöglichen will, eigene Erfahrungen zu sammeln, hat mit seiner Hoffnung zu tun, dass sie diese weitergeben. Die Kinder liegen ihm besonders am Herzen: «Bei Erwachsenen muss oft zuerst etwas passieren, bis sie sich öffnen – Kinder hingegen bringen die Offenheit mit.» ❧ Leider gebe es Eltern, die das Erlebte gleich wieder kaputtmachen, fügt er an und erzählt aus einem Kinderkurs: Wie immer habe er die Teilnehmenden aufgefordert, sich einen Platz zu suchen und dort zu bleiben – aufmerksam, schauend und lauschend, was rundherum alles passiert. Dabei habe ein Junge aus nächster Nähe ein Reh beobachten können. Als ihn seine Mutter am Abend abholte, habe er ihr aufgeregt und mit riesiger Freude davon erzählt: «Mama, ich habe ein Reh gesehen!» Sie habe kurz zugehört, in Gedanken wohl woanders, und dann beiläufig gesagt: «Ach ja? Ich habe heute auch ein Reh gesehen.» Das, so Vogler, habe für den Jungen die ganze Bedeutung seines Erlebnisses zerstört. ❧ Meine Hoffnung ist, dass meine Kursbesucher, Kinder und Erwachsene, eine Art Bewusstseinserweiterung erleben», sagt Vogler. Sie sollen grundlegende Lebens- und Überlebenstechniken lernen und dabei zu sich selber finden: «Je mehr Aufmerksamkeit wir der Natur entgegenbringen, desto tiefer erleben wir auch uns selbst.»