Lange litt die Bevölkerung von Myanmar unter einer ruchlosen Militärdiktatur. Jegliches Engagement für Menschenrechte und Umwelt wurde im Keim erstickt. Ab 2011 erfolgte eine schrittweise Öffnung und politische Reformierung. Seither bauen AktivistInnen Grassroots-Gruppen auf und kämpfen für ihre Rechte.
Bo Bo Lwin hat ein sanftes, fleischiges Gesicht und empfängt mich mit einem warmen Lachen. «Halte Ausschau nach einem Typen mit einem Drei-Monats-Schwangerschaftsbauch», hatte er mir per E-Mail zur einfacheren Erkennung mitgeteilt. Wir treffen uns in einer Espressobar im zweiten Stock einer Shoppingmall, wie sie in der boomenden Wirtschaftsmetropole Rangun derzeit wie Pilze aus dem Boden schiessen. «Noch vor fünf Jahren hätte ich einem solchen Treffen niemals zugestimmt», sagt er in geschliffenem Englisch. «Einen ausländischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu treffen, war gefährlich. Überall waren Spitzel der Militärregierung, jeder Schritt wurde überwacht.»
Lwin ist Leiter der Kalyana Mitta Development Foundation (KMF). Die Grassroots- Organisation beschäftigt heute 34 Mitarbeitende, hat Büros an drei Standorten und ist mit 35 Jugendgruppen in allen Provinzen des Landes aktiv. KMF organisiert Trainings für Jugendliche und unterrichtet sie im Aufbau von demokratischen Strukturen und Umweltfragen. Um ein Bewusstsein für die aktuellen Probleme Myanmars zu schaffen – darunter der enorme Druck von Modernisierung und Entwicklung auf Kosten der Umwelt –, verbindet Lwin Wissen aus den Natur- und Sozialwissen-schaften mit der buddhistischen Lehre. «Die Jugendlichen kennen und schätzen diese Geschichten. Sie erleichtern es ihnen, neues Wissen in ihre Lebenswelt zu übertragen.»
Besonders interessierte Jugendliche durchlaufen ein Programm zur Ausbildung zu Umweltexperten. Sie besuchen Kurse zur Arbeit und zur Relevanz von freien Medien, zur Bedeutung von «Environmental Advocacy» und eignen sich didaktisches Know-how zur wirkungsvollen Verbreitung ihres Wissens an. Die AbsolventInnen sollen dereinst zur Speerspitze der Zivilgesellschaft in Myanmar werden, so Lwins Idee. Themen wie Landgrabbing, intransparente und tendenziöse Umweltverträglichkeitsprüfungen für Staudamm- und Minenprojekte oder gesetzliche Lücken im Umweltschutz sollen über sie Eingang in einen kritischen öffentlichen Diskurs finden.
Heimliche Treffen im Wald
Lwin schöpft für die Arbeit mit KMF aus seiner eigenen Erfahrung: Als Jugendlicher musste er Myanmar verlassen, um sich Wissen zu Ressourcenmanagement und zum Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen anzueignen. Dank einem Stipendium konnte er in Bangkok studieren, wo er mit Umweltaktivisten in Kontakt kam. 2008 kehrt er nach Myanmar zurück, um seine eigene Grassroots-Bewegung aufzubauen – im Geheimen, wegen der Verbote und Repressalien der Militärjunta.»
«Wir gaben vor, eine Wandergruppe zu sein. In Wahrheit suchten wir einen unbeobachteten Ort, wo wir über Umweltprobleme diskutieren konnten.»
«Wir haben damals alles gemacht, um nicht aufzufallen», erinnert sich Lwin. «Unsere Dokumente haben wir stets in Rucksäcken mit uns herumgeschleppt. Die Armee sollte uns nichts nachweisen können, wenn sie in unserer Abwesenheit unsere Zimmer durchsuchte.» Ein offizielles Büro gab es nicht. Sämtliche Meetings fanden in unscheinbaren Teestuben statt, die dafür bekannt waren, dass man mehr oder weniger frei sprechen konnte. Um sich mit ausländischen Partnern zu treffen, schlich sich Lwin unbemerkt in ihr Hotelzimmer. Die jährlichen Treffen der KMF-Mitglieder fanden im Wald statt. «Wir gaben vor, eine Wandergruppe zu sein. In Wahrheit suchten wir einen unbeobachteten Ort, wo wir über Umweltprobleme, Menschenrechte und die Zukunft unseres Landes diskutieren konnten.»
Heute schaut Lwin mit Erleichterung, aber zugleich auch etwas nostalgisch auf die wilden Gründungsjahre seiner Bewegung zurück. Mittlerweile investiert er viel Zeit in Finanzierungsanträge oder Wirkungsberichte für Donatoren und reist für Meetings nach London. Seit der Öffnung des Landes sind Dutzende internationale NGOs ins Land gestürmt, die meisten arbeiten mit lokalen Hilfswerken zusammen. Kritiker fürchten, dass der plötzliche Geldsegen kontraproduktiv sein könnte für den nachhaltigen Aufbau einer starken Zivilgesellschaft.
Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen aus der Ferne
Die Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) gehört zu den NGOs, die schon während der Militärdiktatur in Myanmar tätig waren. Ich treffe Mirco Kreibich, den Leiter des Myanmar-Programms, im HBS-Büro in der Township Kamaryut – eine der grünen und aufgeräumten Gegenden Ranguns mit einer Flaniermeile am grössten See der Stadt. Sie zieht NGOs und Botschaften genauso an wie Bauinvestoren und Jadehändler. Vor der Büroeröffnung im Jahr 2012 arbeitete die HBS von Bangkok aus. Ab 2004 pflegte sie trotz Abschottung und Embargos gute Kontakte ins Land und ermöglichte jährlich fünf Studierenden eine Ausbildung in Thailand oder Vietnam.
Dabei fokussierte die HBS auf die Bereiche Soziales, Politik, Entwicklung und Umwelt – Disziplinen des kritischen Denkens, die von der Militärregierung an den lokalen Universitäten eingestampft worden waren. Viele der damals Geförderten, darunter auch Bo Bo Lwin, sind mittlerweile aus dem Exil ins Land zurückgekehrt, ausgestattet mit Wissen, Erfahrungen und Kontakten, die Myanmar auf dem Weg zur Demokratisierung dringend braucht.
Heute kann die HBS ungestört im Land arbeiten. Seit dem Reformkurs von Präsident Thein Sein ab 2011 hat sich die Lage für AktivistInnen und NGOs deutlich entspannt. Trotzdem kämpfen Kreibich und seine Mitstreiter in der täglichen Arbeit nach wie vor mit einer Reihe von Herausforderungen: «Die Vertreter der aktuellen, demokratisch gewählten Regierung sind für uns fast nicht erreichbar.» Politiker müssen seit der Machtübernahme der National League for Democracy (NLD) von Aung San Suu Kyi Anfang Februar von der Parteiführung eine Erlaubnis einholen, wenn sie mit Journalistinnen sprechen oder Anlässe von zivilgesellschaftlichen Gruppen besuchen wollen. Das ist widersprüchlich, gehörte doch die Zivilgesellschaft stets zu den grössten Unterstützerinnen von Aung San Suu Kyi. «Die Euphorie über ihre Wahl ist besonders bei internationalen Beobachter bereits wieder etwas verflogen», weiss Kreibich.
Ein weiteres Problem, insbesondere für internationale NGOs, ist der erschwerte Zugang zu den Menschen auf dem Land. In den Provinzen Kachin und Shan an der Grenze zu China bekämpft das Militär bis heute bewaffnete Gruppen ethnischer Minderheiten. Tausende von Zivilisten sind nach China oder Thailand geflohen. Die umkämpften Gebiete werden vom Militär grossräumig abgesperrt und sind für Ausländer gesperrt – aus Sicherheitsgründen, wie es heisst.
«Die Regierung hat versprochen, unsere Expertise in Zukunft in ihre Entscheidungen einzubeziehen.» Shining Nang
Kreibich sieht den Grund für den fehlenden Zugang jedoch vielmehr im Bestreben des Militärs, die Kontrolle über Gebiete zu behalten, die reich an natürlichen Ressourcen sind und zugleich Schauplätze von Protesten gegen umstrittene Infrastrukturprojekte. Um trotzdem an Informationen aus diesen Regionen zu kommen, arbeitet er mit lokalen AktivistInnen zusammen. Manche sind Alumni eines HBS-Programms, wie Shining Nang, die gegen einen geplanten Megastaudamm in ihrem Heimatdorf mobilisiert. Kürzlich hat die Aktivistin zusammen mit anderen Gruppen eine Petition lanciert, in
der sich 30 000 Menschen gegen das Projekt aussprachen.
Milliarden für die «Batterie Südostasiens»
Nang wuchs in Mong Pan auf, einem kleinen Dorf in der östlichen Provinz Shan. «Ich habe mich schon immer für soziale Fragen interessiert», erinnert sie sich. Doch bis zu ihrem 22. Lebensjahr konnte sie weder ihre Meinung frei äussern noch sich mit Gleichgesinnten öffentlich versammeln. «Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich weg muss, wenn ich später einmal etwas in meiner Heimat verändern will.»
2005 ging sie mit Unterstützung von internationalen Organisationen nach Thailand ins Exil und studierte dort Internationale Entwicklung. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit beschäftigte sie sich intensiv mit den sozialen Folgen von Megastaudammprojekten. Nach weiteren Studien auf den Philippinen und in Costa Rica kehrte sie 2014 in ihr Heimatdorf zurück und gründete die Mong Pan Youth Association, mit der sie gegen einen der grössten Staudämme in Südostasien mobilisiert.
Der Mong Ton Dam (früher Tasang Dam) ist ein 6-Milliarden-Dollar-Projekt am Saluen-Fluss (auch Thanlwin), der die Lebensgrundlage für Millionen von Menschen in Myanmar bildet. Die vorgesehene Flutungszone entspräche etwa der Fläche Singapurs. Der thailändische (Electricity Generating Authority of Thailand) und der chinesische (China Three Gorges Corporation) Hauptinvestor argumentieren mit der Elektrifizierung Myanmars. Doch die Verträge zeigen, dass nur zehn Prozent des produzierten Stroms tatsächlich in Myanmar bleiben würden, während der Rest den beiden Nachbarländern zugutekäme. Wie sagte Kreibich von der HBS: «Myanmar wird derzeit zur Batterie Südostasiens umgebaut.»
Aktuell finden in Mong Pan Probebohrungen, Messungen und Vorbereitungen statt. «Doch was genau vor Ort geschieht, wissen wir nicht, weil wir keinen Zugang zum Gelände haben», sagt Nang. Das künftige Flutungsareal ist weiträumig vom Militär abgesperrt und weder den Bauern und Bäuerinnen noch lokalen NGOs zugänglich. Nang und ihre Mitstreiterinnen kämpfen dafür, dass die vom Damm betroffenen Bauern und Bäuerinnen konsultiert und ihre Rechte respektiert werden. Denn seit der ersten Projektierung des Damms vor 20 Jahren wurden bereits Hunderte vertrieben.
Mehr Hoffnung als Sorgen
Seit Nangs Jugend in Myanmar hat sich in Mong Pan einiges zum Besseren verändert. Heute kann sie Missstände öffentlich anprangern und sich mit Gleichgesinnten versammeln. Wirklich frei ist sie in ihrer Arbeit aber nach wie vor nicht. Bis heute ist das Militär stets präsent, wenn Nang eine Kundgebung mit vom Staudamm betroffenen Gemeinden organisiert. Die Aktivitäten ihrer Organisation werden genau dokumentiert und die Versammlungen muss sie im Voraus genehmigen lassen. «Die Menschen, die eigentlich mit uns zusammenarbeiten wollen, werden dadurch eingeschüchtert.»
Nang schaut sowohl hoffnungsvoll als auch mit Sorge in die Zukunft: Noch seien viele Versprechungen, die von Myanmars erster demokratisch gewählten Regierung seit nahezu 50 Jahren gemacht wurden, noch nicht in den lokalen Behörden und bei den Menschen in den Dörfern angekommen. «Doch unsere Zusammenarbeit mit den Beamten wird besser. Die Regierung hat versprochen, unsere Expertise in Zukunft in ihre Entscheidungen einzubeziehen», erzählt Nang. Für die Zukunft Myanmars am wichtigsten sei jedoch, dass die bewaffneten Konflikte in Shan und anderen Provinzen endlich aufhörten. «Sonst könnte das Militär wieder die Macht im Land ergreifen und das wäre das Ende unserer neu gewonnenen Freiheiten.»
Samuel Schlaefli hat Journalismus, Soziologie und Kulturwissenschaften studiert. Heute arbeitet er als freischaffenderJournalist und Redaktor für verschiedene Magazine und schreibt zu Nachhaltigkeit, Klimawandel und Auswirkungen der Globalisierung. Am liebsten tut er dies auf Reisen in Form von Reportagen. www.samuelschlaefli.ch