Tiere sollen grundlegende Rechte wie das Recht auf Unversehrtheit, Freiheit und Leben haben. Lebenshöfe geben uns eine Ahnung davon, wie eine gerechte, von Menschen und Tieren geteilte Gesellschaft aussehen könnte.
«Lucy, Jahrgang 2010, war schon immer eine Aufgeweckte, Freche, Wilde. Bis zu diesem 26. April 2014, als Geronimo, ihr Freund fürs Leben, in einen Elektrozaun gerät. Er kämpft, leidet sehr, dann steht sein Herz still. Lucy muss zusehen, sie kann nichts für ihn tun. Und fällt in abgrundtiefe Trauer. Seit diesen Tagen hat sie viel von ihrer Lebensfreude verloren. Darum braucht sie besondere Zuneigung.»
So könnte Samar Grandjean noch lange erzählen. Sie weiss viel Herzhaftes, Trauriges, Wundersames über all die Tiere auf ihrer Arche Samar bei Bern zu berichten. Vielleicht ein Dutzend solcher Lebenshöfe – früher hiessen sie Gnadenhöfe – gibt es inzwischen in der Schweiz. Sie gleichen den Bauernhöfen aus Kinderbüchern oder aus der Werbung der Tierindustrie: gackernde Hühner auf dem Misthaufen, Schweine, die sich in einer Pfütze suhlen, friedlich grasende Kühe, Ziegen und Schafe.
Doch Lebenshöfe sind anders. Hier müssen die Tiere nichts nützen, hier werden sie nicht geschlachtet. Hier dürfen sie leben, einfach so.
Und hier tragen sie keine Nummern, sondern haben Namen: Ami, Mimi, Bubu, Bella, Rosetta, Violetta, Elvis und eben Lucy. Viele stammen aus Tierfabriken. Sie wurden freigekauft, manche auch beschlagnahmt, andere befreit. Und nun werden sie auf den Lebenshöfen zu Botschaftern einer vom Menschen ausgebeuteten Klasse. Die «lucky ones», die Davongekommenen, stehen stellvertretend für die vielen Rinder in unserem Land, die an 275 Tagen im Jahr im Stall sind, festgebunden an die Futterkrippe, und denen nichts bleibt als: sich hinlegen, aufstehen, sich wieder hinlegen. Für all die Schweine, die in den Betonbuchten dahinvegetieren ohne Einstreu oder Auslauf, tagein, tagaus. Oder für die Millionen Legehennen, die in Hallen bis zu 18 000 Tieren ihre 300 Eier legen, um dann, mit nur eineinhalb Jahren, ausrangiert und vergast zu werden. Alle diese Praktiken werden vom Schweizer Tierschutzgesetz toleriert, angeblich einem der schärfsten der Welt.
Lebenshöfe als Vision der Tierrechtsbewegung
«Lebenshöfe haben die Chance, die Herzen der Menschen zu öffnen, sie hellhörig zu machen für das Los der Nutztiere», sagt Sarah Heiligtag vom Hof Narr. Ihr Lebenshof im zürcherischen Hinteregg hat das grosse Ganze im Blick: ein nachhaltiger Umgang mit der Natur, der unbedingte Respekt vor Mensch und Tier. Weil Schweine, Hühner und Rinder oft weggesperrt und so zur namenlosen Masse werden, sei der Kontakt mit dem einzelnen Tier um so lehrreicher. Um nicht zu vergessen, wie einzigartig jedes von ihnen ist. Und wie sie sein könnten, wenn man sie liesse – statt sie einzusperren, zu mästen und zu schlachten.
«Natürlich ist es wichtig, Tiere vor dem Schlachthaus zu retten», sagt Sarah Heiligtag, denn jedes Leben zählt. Doch das reiche nicht aus, zum Lebenshof gehöre auch die Öffentlichkeitsarbeit: «Wir müssen die Menschen dazu bringen, das System der Ausbeutung zu hinterfragen. Sonst wird sich nichts ändern.» Wie anderen, die Lebenshöfe betreiben oder sich für sie engagieren, geht es ihr nicht um übersteigerte Tierliebe oder Gefühlsduselei. Sie sieht sich als Teil einer sozialen Bewegung, der Tierrechtsbewegung. Stellt sich der Tierschutz die Frage, wie wir mit Tieren, die wir für unsere Zwecke nutzen, umgehen sollten, steht für die Tierrechtsbewegung etwas Grundsätzlicheres zur Debatte: Dürfen wir sie überhaupt nutzen?
Nein, sagt Tobias Sennhauser von der Tierrechtsorganisation Tier im Fokus, denn in der industriellen Landwirtschaft würden die Rechte der Tiere konsequent missachtet. «Da dreht sich alles um den Profit, das Tierwohl kommt erst an zweiter Stelle – wenn überhaupt.» Dass wir auch für Tiere grundlegende Rechte wie das Recht auf Unversehrtheit, Freiheit oder Leben einfordern, sei ein Gebot der Gerechtigkeit. «Lebenshöfe versuchen das umzusetzen und verkörpern so die Vision der Tierrechtsbewegung», sagt Sennhauser.
Zoopolis: Leben in einer gemischten Gesellschaft
Doch wie soll das gehen in einer Gesellschaft, die – wie unsere – zwar die Tierwürde schützt, aber zugleich zwei Tiere pro Sekunde schlachten lässt?
Für das kanadische Wissenschaftlerpaar Sue Donaldson und Will Kymlicka geht das nur, wenn wir die Grundprinzipien der politischen Gerechtigkeit auch auf Tiere übertragen. In ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel «Zoopolis» haben sie unlängst vorgeschlagen, allen domestizierten Tieren eine Art Staatsbürgerschaft zu verleihen. Das mag zuerst weltfremd klingen, die Idee dahinter liegt aber recht nahe: Wir haben Lebewesen – in diesem Fall Schweine, Hühner, etc. – in unsere Gesellschaft geholt, um sie auszubeuten. Wollen wir unseren Umgang mit ihnen grundlegend überdenken, ist es an der Zeit, sie als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft zu akzeptieren. Ein solches Recht auf Mitgliedschaft würde nicht bloss beinhalten, dass man sie nach Möglichkeit vor Leid schützt und für sie sorgt. Es hiesse auch und vor allem: dass man sie in ihrer Individualität anerkennt und an unserem Leben teilhaben lässt.
Auch für Donaldson und Kymlicka sind Lebenshöfe die Orte, an denen sich ihre Idee von einer Zoopolis derzeit am ehesten umsetzen lässt. Einfach ist es aber nicht, denn oft geht es um ganz Praktisches. So etwa um das Recht, selbst zu bestimmen, mit wem man welche Art von Beziehung eingehen möchte, sei das nun mit Menschen oder anderen Tieren. Der Lebenshof Tante Martha kommt diesem Ideal nahe. Auf der ehemaligen Hirschfarm in Romont, einem Bauerndorf im Berner Jura, leben heute an die 200 Tiere, von Tauben bis Alpakas. Das grosse Gelände samt Wald ist umzäunt, sonst gehen die Tiere aber ein und aus, wie sie möchten. Viele von ihnen – Schafe, Hühner, Rinder, Ziegen – teilen sich den Stall und nicht selten sind dort, wo sich Menschen aufhalten, auch Tiere – und andersrum.
Aber das ist eher die Ausnahme. «In den häppchenweise parzellierten Regionen der Schweiz zwingen Lage und Infrastruktur die Lebenshöfe oft zu Kompromissen und setzen dem Modell einer gemischten Gesellschaft enge Grenzen», gibt Sarah Heiligtag vom Hof Narr zu bedenken. Und so leben auf vielen Höfen die Bewohnerinnen und Bewohner mehr nebeneinander als unter- und miteinander, also Rinder hier, Menschen da, Schweine dort.
Leben oder aussterben lassen?
Eine andere Sache treibt Heiligtag viel mehr um, sie redet von einem «Dilemma». Natürlich hätten Tiere – als Mitglieder der Gemeinschaft – das Recht, sich auch frei fortpflanzen zu dürfen. Trotzdem sind auf dem Hof Narr alle Tiere kastriert. Viele der domestizierten Tiere seien heutzutage nämlich das Produkt einer Leistungszucht mit schlimmen Auswüchsen. Tatsächlich gehören Mastitis, Stoffwechselprobleme oder Verfettung inzwischen zu den gängigen zuchtbedingten «Berufserkrankungen» unserer Nutztiere. Hinter dem Drill auf Hochleistung steht ein regelrechtes «Tierzucht-Monopoly», wie die Agrarwissenschaftlerin Susanne Gura das nennt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: 70 Prozent aller industriell erzeugten Legehennen mit weissen Eiern stammen aus der Zucht der deutschen Erich-Wesjohann-Gruppe, und die niederländische Firma Hendrix Genetics ist nicht bloss Marktführer bei den braunen Legehennen, sondern weltweit auch die Nummer zwei in der Puten- und der Schweinezucht.
Für die Tierrechtsbewegung wie auch für viele Lebenshöfe liegt die Wurzel der modernen Tierausbeutung in diesen industriellen Zuchtprogrammen, die es in letzter Konsequenz einzustellen gelte. Was natürlich auch Auswirkungen auf die Lebenshöfe hätte, wie Samar Grandjean von der Arche Samar sagt: «Wenn es keine Nutztierhaltung und keine Schlachthäuser gäbe, bräuchte es auch keine Lebenshöfe mehr.» Das sieht auch Sarah Heiligtag so: «Wir müssen aufhören, Hochleistungstiere zu züchten.» Natürlich kann sie sich – irgendwie – vorstellen, dass man auch danach noch mit Kühen unter fairen Bedingungen zusammenleben könnte. Doch das seien Zukunftsvisionen.
Tatsächlich hat sich unsere Gesellschaft gerade erst auszumalen begonnen, wie man Tiere in die Gesellschaft einbinden könnte. Nicht als Objekte für menschliche Zwecke, sondern als vollwertige Mitglieder einer gemischten Gemeinschaft. Dafür aber müssten wir sie zuerst als eigenständige Individuen anerkennen und wohlmeinend auf ihre Interessen und Bedürfnisse eingehen. Lebenshöfe geben uns eine Ahnung davon, wie eine gerechte, von Menschen und Tieren geteilte Gesellschaft aussehen könnte – und rufen uns zugleich in Erinnerung, wie weit, verschlungen und beschwerlich der Weg dahin noch sein wird.
Klaus Petrus war bis 2012 als Philosophieprofessor an der Universität Bern tätig, seither freiberuflich als Fotograf und Publizist. Er interessiert sich in seinen Bildern und Artikeln für Tierschutz, Protestbewegungen und soziale Unruhen. Seine Fotografien sind in (Online-)Medien wie WOZ, Tagesanzeiger, Infosperber, VICE, Blick, 20Minuten, Bund, Hintergrund, Zeitpunkt, Schweizer Bauer, Schweizer Hundemagazin oder Tierwelt erschienen.