Seit einigen Jahren ergeben die grossen «Jugendstudien» ein ähnliches Bild: Junge haben keine Zeit, sie sind mit sich selbst beschäftigt, politische Parteien sind nicht cool und es fehlt an politischer Bildung.
Kolumne von Markus Waldvogel
Ein starkes Argument steht aber auffallend abseits. «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme»! Das heisst, Junge entsprechen in ihrem (politischen) Verhalten weitgehend dem familiären Nährboden. Dem wird auffallend wenig Beachtung geschenkt. Vielmehr sollen es die Schulen richten, Verbände sind gefragt, Vereine und kulturelle, allenfalls auch religiöse Institutionen. Die «heilige Familie» aber bleibt eigenartigerweise tabuisiert.
Dies entgegen aller entwicklungspsychologischer Einsichten. Gottfried Kellers Bemerkung, dass zu Hause beginnen muss, was später im Dorf, in der Gemeinschaft, in der «Allmende» eben wirken soll, wird negiert. Offensichtlich traut man sich nicht an die eigentliche Pädagogik heran. Das ist höchst brisant. Es tangiert nicht nur die Umweltorganisationen direkt, die mit einem kleinen Teil ökologisch bereits motivierter Jugendlicher zusammenarbeiten. Auch die Parteien sind betroffen. Das rotgrüne Lager besonders, denn junge Wähler/innen sind zurzeit kein Garant für die fortschrittlichen Kräfte. Im Gegenteil. Die aktive Jugend entspricht dem politischen Klima im Lande und der Löwenanteil der ganzen Generation verhält sich abstinent. Die Jugend spiegelt eben ihre Sozialisation; wie sie aufwächst, so verhält sie sich. Im Wesentlichen gehören die Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie wir alle zu einer von drei sozialen Schichten: Die am besten Ausgebildeten gehören zur (oberen) Mittelschicht, haben halbwegs vernünftige Löhne und in vielen Fällen eine Erbschaft in Aussicht und oft Eltern, die bereit sind, sich enorm zu engagieren, damit sowohl Töchter und Söhne die berufliche Laufbahn und die Kinder unter ein Dach bringen können. Politisches Engagement in diesem Segment läuft mehrheitlich unter dem Motto: „Nice to have“. Die Jungen mit den schlechtesten Aussichten dagegen zählen kaum mehr zur Mittelschicht und resignieren häufig schon früh angesichts der Anforderungen qualifizierender Bildungsziele. Oft haben sie gar keine Vorstellung, was denn werden soll. Von ihren Eltern erwarten sie wenig und sie haben auch wenig zu erwarten. Sie suchen ihre Erfolgserlebnisse in der Provokation jener, die sich ihrer Meinung nach einen Deut um die Abgehängten scheren und die das „ganze System“ zu verantworten haben. Oft ist das die Polizei. In diesem Segment, das etwa 10% der Generation ausmacht, dominiert eine diffuse Wut.
Dazwischen bewegen sich junge Menschen, deren Eltern kaum auf Familiengüter zurückgreifen können und die im Falle negativer sozialer Ereignisse wie Scheidungen oder Arbeitsplatzverluste fast keine familiären Ressourcen zur Verfügung haben. Dadurch geraten sie in akute soziale Abstiegsgefahr. Umso mehr zählt für sie nur die eigene Anstrengung. Diese führt -aller künstlicher Glamourwelten zum Trotz- zu manchmal recht biederen Zielen. Für politisch-öffentliche Aktivitäten ist die Luft sehr dünn. Anders als in anderen europäischen Ländern schätzen die Jugendlichen in der Schweiz aber ihre eigene berufliche Zukunft positiv ein. Rund 90 Prozent sind zuversichtlich, die Ausbildung zu erhalten, die sie sich wünschen.
Grundsätzlich prägt die aktuellen Jungen auch ein veränderter Erziehungsstil: Aus den mitunter strengen Eltern der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurden -wenn nicht Freunde- so doch zumindest Garanten für ein grosses Mass an Freiheit und in vielen Fällen auch an seelischer und materieller Verwöhnung. Viele Kinder und Jugendliche lernen „mit der Muttermilch“, dass sie im Zentrum der Welt stehen und dass das eigene Vorankommen den „Sinn“ des Lebens ausmache. Andere fallen allerdings auch in eine lieblose Leere, gleichsam in ein pädagogisches Vakuum. Das war für die 68er-Generation, welche sich mit dem Literaturnobelpreisträger Bob Dylan symbolträchtig nochmals selber inszeniert, weniger der Fall. Sie lebte stärker in einem „Wir“-Gefühl, das auch sozial Benachteiligte atmosphärisch auffangen konnte.
Man mag beklagen, dass dies heute anders sei. „Die Jungen“ verhalten sich allerdings folgerichtig. Wer sich während der Kindheit an einen individualisierenden Dauerapplaus und eine „Overprotection“ gewöhnt hat, wer immer schon über sehr viel „Materielles“ verfügte, hat -ebenso wie „Abgehängte“- wenig Energie und Lust, sich um etwas Anderes als sich selber zu kümmern. Das von Horst Eberhard Richter so genannte „Lernziel Solidarität“ rückt entsprechend in den Hintergrund. Die alten Griechen nannten Leute ohne politisches Engagement übrigens „idiótes“. Doch so idiotisch denken die Jungen nicht. Ein gewisser Robin-Hood-Effekt lebt ebenso wie der (theoretische) Wunsch der Mehrheit, den Umweltschutz höher als Wirtschaftsinteressen zu gewichten.
Aber die Stimmung in der Gesellschaft und unter den Jungen hat sich gewandelt. Daran ist nicht nur die „Macht der etablierten elterlichen Polit-Helden“, die den Heranwachsenden keine Widerstandserfahrung ermögliche, wie das der Psychologe Allan Guggenbühl jüngst formulierte, Schuld. Die sogenannte Entpolitisierung spiegelt lupenrein die gesamte Logik des Aufwachsens. Man soll sich also nicht wundern. Immerhin: Politik (und Recht) bleiben für engagierte junge Erwachsene ein erfolgversprechendes und spannendes Betätigungsfeld, auch wenn deren Mehrheit das kaum berührt.
Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.