Haben Pflanzen Rechte, unter Umständen sogar eine Würde? Und wenn ja, welche? Je intensiver man sich mit dem Leben der Pflanzen auseinandersetzt, umso deutlicher wird, dass wir auf diese Fragen Antworten finden müssen.
(Text aus dem Buch ‚Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak’, 2016, Lenos-Verlag, überarbeitet)
Die Limabohne warnt ihre Nachbarinnen mit einem speziellen Duftstoff-Cocktail, wenn sie von Frassfeinden angegriffen wird. Am Speichel, der in ihre Bisswunde tropft, erkennt sie, ob es sich um eine Raupe oder um eine Spinnmilbe handelt. Je nachdem variiert sie ihr Duftstoffgemisch und lockt damit Nützlinge an, die ihr und ihren Nachbarinnen im Kampf gegen den Feind beistehen. Was für eine raffinierte Strategie.
Alle Pflanzen kommunizieren mit Duftstoffen. Sie lernen aus Erfahrungen und können sich an vergangene Ereignisse erinnern. Pflanzen scannen unablässig ihre Umgebung und verhalten sich entsprechend. Manche Forscher schliessen nicht aus, dass sie sogar empfindungsfähig sind. Wir wissen es nicht. Untersuchungen der letzten Jahre zeigen aber: Etliche Pflanzen kennen ihre nächsten Verwandten und bevorzugen diese; sie betreiben also Vetternwirtschaft, bilden Allianzen und konkurrenzieren sich.Unter dem Boden knüpfen sie umfangreiche Beziehungsnetze aus Wurzeln und Pilzen, sogenannte Mykorrhizanetze. Über dieses «Internet der Pflanzengemeinschaften» tauschen sie untereinander Nährstoffe und Informationen aus. Was für ein dynamischer Marktplatz.
Bislang galt die Pflanze in der Wissenschaft als eine Art passiver Bio-Automat mit genetisch programmierten Reaktionen. Man ging davon aus, ihn beliebig manipulieren und patentieren zu können. Neue Untersuchungen widerlegen dieses Pflanzenbild. Inzwischen wissen wir, dass Pflanzen ein aktives Sozialleben führen, und dass ihre Beziehungsnetze viel komplexer und differenzierter sind, als wir dachten.
Der Auftrag des Bundesrats
2004 erteilte der Bundesrat der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH), der ich angehörte, den Auftrag, zu erkunden, was der Begriff «Würde» in der Schweizer Bundesverfassung auf Pflanzen bezogen bedeuten könnte. Unser Grundgesetz gesteht in Artikel 120, Absatz 2 allen Kreaturen – also auch den Pflanzen – eine Würde zu, der Rechnung zu tragen sei. Das ist einmalig: Kein anderes Land kennt eine solche Verfassungsnorm.1 Doch was bedeutet sie?
Anfangs tat ich mich schwer mit dem Begriff. In meinen Ohren haftete ihm etwas Altehr-Würdiges, fast ein bisschen Verstaubtes an. Würde ist zudem etwas, was dem Menschen zusteht und ihn damit von Tieren und Pflanzen unterscheidet, dachte ich. Der Begriff Würde stammt vom althochdeutschen wirdekeit ab, das auf Wert, Wertigkeit oder Wertsein verweist. Würdig war eine Person, die wegen ihrer grossen Tugendhaftigkeit oder ihres hohen Ranges besondere Wertschätzung genoss. Und nun sollte auch einer Maispflanze oder einem Salatkopf Würde zuteil werden? Waren derartige Vermenschlichungen nicht unzulässig oder schlicht lächerlich? Anderseits: Würde könnte auch ein Zeichen sein, eine Metapher dafür, dass Pflanzen einen Eigen-Wert haben: einen Wert um ihrer selbst willen, unabhängig von menschlichen Interessen.
Wenn wir Pflanzen als Dinge, als passive Objekte betrachten, die alleinig unsere Interessen und Anforderungen zu erfüllen haben, ist es tatsächlich absurd, ihnen Würde zu attestieren. Das ergibt keinen Sinn. Wenn wir aber Pflanzen als sensitive Lebewesen anschauen, die vielleicht sogar zu subjektiven Wahrnehmungen fähig sind, dann gibt es gute Gründe, ihnen eine Würde zuzusprechen.
Hitzige Diskussionen
Für unsere Diskussionen in der Ethikkommission hatten wir kein Vorbild und konnten uns nicht auf die Literatur abstützen. Wir waren uns kaum je einig; einige Mitglieder hielten es sogar für verfehlt, Pflanzen eine Würde zuzusprechen. Also setzten wir uns mit den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Pflanzenbiologie auseinander. Wir suchten Antworten auf die Frage, ob Pflanzen empfindungsfähig sind, ob sie etwas als gut oder als schlecht erfahren, Schmerzen verspüren und auf Grund einer inneren, subjektiven Wahrnehmung darauf reagieren können. Und ob sie, als Konsequenz daraus, eigene Interessen haben und eine Verletzung derselben als solche registrieren können. Eine Uhr kann das nicht.
Mit Pflanzen kann man nach wie vor alles machen; es gibt kein Problembewusstsein, keinerlei ethische Bedenken. Warum eigentlich?
Wir stellten fest, dass sich das nach heutigem Wissensstand nicht belegen lässt. Es lässt sich aber auch nicht ausschliessen. Es gibt manche Indizien dafür, dass es sich so verhält, aber es fehlt eine lückenlose Beweiskette. Die Behauptung, Pflanzen, könnten keine subjektiven Empfindungen haben, ist also genau so spekulativ wie das Gegenteil. Wir wissen es einfach nicht. Unbestritten ist hingegen, dass wir die Fähigkeit der Pflanzen, ihre Umgebung wahrzunehmen, bisher massiv unterschätzt haben.
Flöteninstrumente der Empfindung
Den Tieren attestieren wir inzwischen die Fähigkeit, etwas zu empfinden. Wir nehmen wahr, dass sie eine subjektive Sicht auf ihre Umgebung und individuelle Verhaltensweisen haben. Dass sie lernen und das Gelernte verarbeiten können. Den Schlüssel dazu sehen wir im Hirn, im Vorhandensein von Nervenbahnen. Liegen wir mit dieser Definition richtig?
Gustav Theodor Fechner (1801–1887), ein grossartiger Philosoph und Befürworter der Pflanzenseele, bestand darauf, dass die Absenz von Nerven keineswegs beweise, dass Pflanzen keine Empfindungen haben und fand dafür eine hübsche Metapher. Er schrieb: «Der Leib ist sozusagen eine Violine, die das innere Spiel ihrer Saiten selbst fühlt. Nun aber, wenn ich sehe, dass die Flöte doch wirklich (…) Töne gibt, objektiv Empfindungen erzeugt, ohne Saiten zu haben, so weiss ich nicht, warum nicht auch die Pflanze subjektive Empfindungen soll erzeugen können, ohne Nerven zu haben. Die Tiere könnten ja Saiten-Instrumente, die Pflanzen Flöten-Instrumente der Empfindung sein. (…)»2
Auch Tiere wurden lange Zeit als seelenlose Maschinen betrachtet. Erst in den letzten Jahrzehnten sind sie – zumindest teilweise – dieser Falle entronnen. Das französische Parlament beschloss beispielsweise erst im Januar 2015, dass Tiere keine Möbel seien: «Les animaux ne sont pas des meubles.» Es handle sich um sensible Lebewesen («êtres vivants doués de sensibilité»). Diese Selbstverständlichkeit musste gegen den erbitterten Widerstand von Teilen der republikanischen Partei UMP und der Fleischindustrie errungen werden.
In vielen Ländern sind Tiere nicht nur keine Möbel, sondern Kreaturen, die man rücksichtsvoll behandeln sollte. Als Resultat davon gibt es in der Schweiz (und anderswo) Vorschriften zur artgerechten Haltung von Nutztieren. Genmanipulationen sind bei uns zumindest bei Haus- und Nutztieren in der Landwirtschaft verboten. Wie sich die Zeiten doch geändert haben: Ich erinnere mich, wie ich als junge Lehrerin mit einer Klasse im Biologieunterricht Ratten sezierte, und wie schwer es war, sie vorher mit Chloroform zu töten. Das würde ich heute um nichts in der Welt mehr tun.
Die Diskussion um die Würde von Pflanzen ist noch meilenweit von jener bei den Tieren entfernt. Mit Pflanzen kann man nach wie vor alles machen; es gibt kein Problembewusstsein, keinerlei ethische Bedenken. Warum eigentlich?
Willkür ist würdelos
In unserer Ethikkommission sassen Philosophen und Ethikerinnen, aber auch Forscher und Molekularbiologinnen. Eine Mehrheit war damit einverstanden, dass Würde kein absoluter Wert sei und es immer einer Güterabwägung bedürfe: Das Interesse einer Pflanze sollte gegen die Interessen der Menschen abgewogen werden. Die Würde einer Rose sei anders zu bewerten als die Würde eines Gorillas oder diejenige eines Menschen. Zum Schluss einigten wir uns darauf, dass Pflanzen nicht aus reiner Willkür geschädigt werden dürfen, denn das verletze sie in ihrer Würde. Doch über die Bedeutung von »willkürlich« waren wir uns wiederum nicht einig. Für einige fiel darunter bereits das Köpfen eines Löwenzahns am Wegrand ohne vernünftigen Grund. Für andere – dazu zählte auch ich – die totale und massive Verindustrialisierung und Instrumentalisierung von Pflanzen.
2008, nach vierjähriger Diskussion, veröffentlichten wir die Broschüre Die Würde der Kreatur bei Pflanzen – Die moralische Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst willen.3 Das Echo auf unsere Pressekonferenz war gross. Zeitungen, Radio und Fernsehen verkündeten überrascht: »Pflanzen haben eine Würde!« Einige Medien gingen sorgfältig auf den Bericht ein, andere überschütteten uns mit Spott und Häme. Über die Würde des Kopfsalats oder des Kaktus wurde gehöhnt oder darüber, dass nun auch das Jäten eines Unkrauts ethisch verwerflich sei. Ich aber war glücklich, dass überhaupt einmal eine öffentliche Debatte über den Status der Pflanze stattfand.
Etwas später erhielten wir für unseren Bericht gar den IG Nobelpreis. IG steht für «ignoble»: Es ist eine satirische Auszeichnung für besonders lächerliche Forschung, eine Forschung, die Menschen zuerst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringen («to honor achievements that first make people laugh, and then make them think»). Ein Mitglied unserer Kommission ging nach Harvard, um die Urkunde in Empfang zu nehmen.
Thesenpapier zu Pflanzenrechten
Mich und andere reizte es, weiter über dieses Thema nachzudenken. So lancierten wir das Projekt «Pflanzen neu entdecken». Fünfzehn Experten und Expertinnen aus der Landwirtschaft, der Botanik, der Philosophie, der Biologie und der Gärtnerei haben sich seither zu mehreren ganztägigen Diskussionsrunden getroffen. Wir versuchten, uns der Pflanze behutsam von verschiedenen Seiten her anzunähern und aus dem neu entstandenen Pflanzenbild heraus nach Grenzen zu suchen. Wir wollten den Versuch wagen, diese Grenzziehungen mit konkreten Forderungen – den Anspruchsrechten der Pflanze – zu verdeutlichen, und formulierten 29 Thesen.
Pflanzen Rechte zuzugestehen, erscheint auf den ersten Blick ziemlich abwegig. Aber wir waren alle überzeugt, dass wir dringend irgendwo Grenzen brauchen gegen deren totale Verindustrialisierung. Und dass wir Menschen auch irgendwelche Verpflichtungen den Pflanzen gegenüber haben, dass blosse Appelle zu mehr Respekt nicht genug seien. Dass Pflanzen etwas Verbindlicheres – ja: Rechte – brauchen. Man gibt jemandem Rechte, zu dem man eine Beziehung hat, um den man sich kümmert. Eine Uhr braucht keine Rechte.
Rechte für Pflanzen heisst natürlich nicht, dass wir sie nicht mehr essen, schneiden, pfropfen, mähen, jäten oder erforschen dürfen. So, wie es bei Tieren auch nie darum ging, sie aus dem Nahrungsmittelkreislauf zu entfernen oder Forschung an ihnen zu verbieten. Wir formulierten einfach unsere Visionen und schielten nicht dauernd auf gesellschaftlich durchsetzbare Kompromissvorschläge. Entstanden sind so die «Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen».4
Mit der Formulierung von Anspruchsrechten für Pflanzen betraten wir Neuland; wir verstanden diese Rechte quasi als «Wegweiser» für künftige Diskussionen. So sollen Pflanzen ein Recht auf eine gewisse Eigenständigkeit in Bezug auf Fortpflanzung und Anpassungsfähigkeit haben. Weiter formulierten wir Rechte auf das Überleben der eigenen Art und auf Nichtpatentierung.
Natürlich ist es schwierig, herauszufinden, wo wir Menschen die Grenzen gegenüber den Pflanzen überschreiten. Pflanzen können sich an sehr viele Manipulationen anpassen, ohne dagegen zu protestieren. Ein Kopfsalat schreit nicht, wenn seine Grenzen überschritten werden. Doch ist dies bei Tieren so anders? Als Kind verbrachte ich in den Ferien manche Stunden im Stall und schaute dem Bauern beim Melken zu. Die Kühe sahen auch im Winter ganz zufrieden aus – obwohl sie immer angebunden waren. Sie wussten nicht, dass zu ihrem «artgerechten Verhalten» regelmässige Bewegung im Freien gehört. Das änderte sich erst, als man freilebende Tiere beobachtete. Aus ihrem Verhalten leitete man Bedingungen für eine artgerechte Viehhaltung ab: Kühe müssen nun übers ganze Jahr regelmässig Auslauf erhalten.
Auch Pflanzen zeigen unter Laborbedingungen ein anderes Verhalten als in der freien Natur. Wie komplex pflanzliches Verhalten sein kann, wurde erst entdeckt, als Wissenschafter ihre Arbeitsplätze vom Labor in die Natur verlegten. Diese Forschung könnte uns ebenfalls Indizien für Pflanzenrechte liefern. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion.
Würde ist mehr als Respekt
Während der über viele Jahre dauernden Diskussion um die Würde der Pflanze begann ich diesen Begriff zu lieben. Würde ist mehr als Respekt oder Wert. Wenn wir für Pflanzen mehr Respekt einfordern würden, täte das niemandem weh. Doch der Begriff Würde kreiert Unruhe. Und verbindliche Rechte für Pflanzen sind erst recht eine Provokation. Das ist gut so. Und vielleicht, wer weiss, vielleicht werden wir alle in ein paar Jahren lachen – und es wird dann ein Lachen über unsere damalige Arroganz sein.
Florianne Koechlin, 1948, studierte Biologie und Chemie; sie wurde bekannt als Gentechnik-Kritikerin und ist Geschäftsführerin des Blauen-Instituts . Sie befasst sich seit Jahren mit neuen Erkenntnissen zu Pflanzen und andern Lebewesen (insbesondere Pflanzenkommunikation und Beziehungsnetze), mit zukunftsfähigen Konzepten in der Landwirtschaft und den dazu nötigen Forschungsstrategien und hat dazu etliche Bücher geschrieben (letztes Buch «Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak» 2016 Lenos-Verlag). Sie beschäftigt sich auch mit der Malerei (www.floriannekoechlin.ch).