Nach einer Klage der Stiftung Urgenda hat ein Gericht den niederländischen Staat verpflichtet, die klimawirksamen Emissionen deutlich stärker als geplant zu reduzieren.
Obwohl die Regierung gegen das Urteil rekurriert, ist der Urgenda-Jurist Dennis van Berkel davon überzeugt, dass der Prozess zu Fortschritten im Kampf gegen die Erderwärmung führen wird.
Eine Klage gegen den eigenen Staat – wie sind Sie dazu gekommen?
Anstoss für den Prozess war das Buch «Revolution Justified» des niederländischen Rechtsanwalts Roger Cox. Darin zeigt der Autor auf, dass der Klimawandel auch eine juristische Seite hat. Er legt dar, wie wir nationales Recht nutzen können, um die Bürgerinnen und Bürger gegen die Folgen des Klimawandels zu schützen. Marjan Minnesma, die Direktorin der Nichtregierungsorganisation Urgenda*, hat daraufhin beschlossen, eine Klage gegen den niederländischen Staat einzureichen. Klage führen wir einerseits als Stiftung, andererseits im Namen von 868 Bürgerinnen und Bürgern.
Worauf basiert die Klage?
Der Klimawandel und seine Folgen sind nicht mehr wegzudiskutieren. Der niederländische Staat hat eine gesetzliche Pflicht, seine Bevölkerung vor den Gefahren zu schützen und Massnahmen zu ergreifen. Aber er tut es nur unzureichend.
Haben die Niederlande Angst vor dem steigenden Meeresspiegel?
Nicht nur. Auch bei uns sind Hitzewellen zu erwarten, ebenso dürften heftige Niederschläge häufiger werden. Diesen Sommer etwa haben wir einen Hagelsturm erlebt, der Ernten und Treibhäuser verwüstet, sowie Keller und sogar Wohnräume überflutet hat. Das kostete viel Geld. Es geht im Übrigen nicht nur um die Niederlande, sondern auch um globale Bedrohungen.
Zum Beispiel?
Nehmen wir die aktuelle Flüchtlingskrise. Schon Jahre vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien litten die Bauern und Bäuerinnen in den ländlichen Regionen unter Trockenheit. WissenschaftlerInnen wiesen darauf hin, dass der Klimawandel zu dieser lang anhaltenden Dürre beiträgt. Viele der hungernden Menschen zogen in die Städte und kritisierten die Machthaber dafür, nichts dagegen unternommen zu haben. Das ist eine der Wurzeln für den Bürgerkrieg in Syrien und zeigt, dass lokale Probleme wie Kriege und globale Entwicklungen wie die Klimaerwärmung häufig zusammenhängen.
Sind Sie mit Ihrer Klage durchgedrungen?
Leider nicht vollständig. Wir hatten 40 Prozent Emissionsreduktion klimarelevanter Gase bis 2020 verlangt; das Gericht beschränkte sich dann auf mindestens 25 Prozent gegenüber 1990.
Wie hat es die Differenz begründet?
WissenschaftlerInnen hatten für Länder wie die Niederlande oder die Schweiz schon 2007 eine notwendige Emissionssenkung von zwischen 25 und 40 Prozent errechnet. Wir fanden, dass ein reiches Land angesichts der Gefahr, die vom Klimawandel ausgeht, zu einer Reduktion am oberen Ende verpflichtet sein müsste. Das Gericht hat den tieferen Wert genommen. Es hat auch abgelehnt, die Regierung zu verpflichten, die Bevölkerung besser über die Gefahren zu informieren, damit die Menschen selber handeln und verantwortungsvolle Politiker wählen können.
Bezüglich der Schadstoffreduktion hat die Regierung gegen das Urteil rekurriert. Was würde es für Urgenda bedeuten, wenn der Staat Recht bekommen würde?
Selbst dann liesse sich die Dynamik nicht mehr stoppen. Sogar wir sind überrascht, was der erstinstanzliche Entscheid alles ausgelöst hat. Bislang war der Klimawandel in der niederländischen Politik schlicht kein Thema. Der Chef der grössten Parlamentsfraktion hatte sich zum Beispiel geweigert, anzuerkennen, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Heute würde sich ein Politiker mit einer solchen Aussage unmöglich machen. Eine der wichtigsten Folgen des Gerichtsentscheids ist somit, dass der Klimawandel auf die politische Agenda gesetzt worden ist.
Wird im Parlament nur diskutiert oder gibt es schon Entscheide?
Vor wenigen Wochen hat das Parlament beschlossen, alle Kohlekraftwerke vorzeitig stillzulegen, um die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. Darunter sind auch drei Anlagen, die erst kürzlich ans Netz gegangen sind. Alternativen zur Kohle gibt es ja zuhauf: Solarsysteme, Windenergie, Bioenergie und vor allem Einsparungen. Technisch ist das kein Problem, zudem ist es günstiger, schafft 100 000 neue Arbeitsplätze im Inland und reduziert die Abhängigkeit vom Ausland. Einen Durchbruch gibt es auch im Bereich der Mobilität: Die Mehrheit hat im Parlament hat dafür gestimmt, dass Neuwagen ab 2025 emissionsfrei sein müssen.
Warum gehört der Klimawandel überhaupt vor Gericht?
Es existiert doch – gerade in der Schweiz – ein breites Arsenal an politischen Instrumenten, um Massnahmen zu erzwingen. Die Wissenschaft weiss seit den siebziger Jahren, dass sich der Klimawandel potenziell katastrophal auswirkt. 1992 beschloss die Weltgemeinschaft am Nachhaltigkeitsgipfel von Rio, der Klimawandel müsse gestoppt werden. Das ist nun ein Vierteljahrhundert her. Die Politik ist untätig geblieben und weigert sich nach wie vor, die nötigen Massnahmen zu ergreifen. Deshalb sind nun die Gerichte dran.
«Staaten sind praktisch die einzigen Akteure, die genügend Einfluss haben, um auf das System als Ganzes einzuwirken.» Dennis van Berkel
Welche Vorteile bietet eine Gerichtsverhandlung?
Anders als im Parlament sind vor Gericht die Tatsachen entscheidend. Gerichte sind einer der wenigen Orte in der Gesellschaft, wo es Ruhe und Zeit gibt, alle Fakten sachlich zu prüfen und gegeneinander abzuwägen. Genau das hat das Gericht bei der von uns eingereichten Klage getan: Es hat alle unsere Argumente beurteilt und ist zum Schluss gekommen, dass es sich bei der Klimaerwärmung um eine grosse Gefahr handelt, die bekämpft werden muss. Die Regierung konnte vor Gericht nicht plötzlich eine andere Position einnehmen als jene, die sie auch im Parlament vertritt. Dort konnte sie beispielsweise einfach behaupten, gewisse Massnahmen seien nicht finanzierbar – vor Gericht musste sie das belegen.
Ist eine Klage wie in den Niederlanden auch in andern Ländern erfolgversprechend?
Der Klimawandel ist global. Für Klima-klagen braucht es natürlich eine funktionierende Rechtsprechung. Aktuell konzentrieren sich ähnliche Klagen deshalb auf Länder wie Belgien, Neuseeland, die USA oder jetzt eben die Schweiz. Ich bin aber überzeugt, dass solche Prozesse mittelfristig auch in Schwellen- und Entwicklungsländern erfolgreich angestrengt werden können.
Gibt es Beispiele dafür?
2015 hat ein Gericht in Pakistan die Regierung dazu verurteilt, mehr für den Klimaschutz zu tun, um die Schäden zu mindern. Und auf den Philippinen hat die Kommission für Menschenrechte kürzlich einen Prozess gegen Grossverschmutzer angestrengt. Solche Verfahren sind wichtig, denn die reichen Länder tragen zwar die grössere Verantwortung, aber der Kampf gegen den Klimawandel ist eine globale Aufgabe.
Warum nimmt man Regierungen und nicht Firmen ins Visier?
Die Regierungen nehmen an internationalen Konferenzen teil, ratifizieren Abkommen und führen die Beschlüsse in nationale Gesetze über – mit diesem Verhalten dokumentieren sie, dass sie sich für das Thema verantwortlich fühlen. Allerdings sind die beschlossenen Massnahmen viel zu schwach. Dazu kommt: Staaten sind praktisch die einzigen Akteure, die genügend Einfluss haben, um auf das System als Ganzes einzuwirken. Nur Staaten können die nationale Energieversorgung umbauen oder das Verkehrsregime anpassen – auch darum müssen wir juristisch auf der Staatsebene ansetzen.
Was erwarten Sie nun von der niederländischen Regierung?
Sie soll sich bemühen, die vorgegebenen Ziele einzuhalten. Wenn sie das tut, wird die Reduktion nicht bloss 25 Prozent betragen, sondern es ist viel mehr möglich. Wenn erst einmal eine Dynamik in Gang kommt, aus den fossilen Energieträgern auszusteigen, werden die Politiker erkennen, dass sich schnelles Handeln lohnt – nicht zuletzt, weil wir uns damit auch wirtschaftliche Vorteile verschaffen.
* Die 2007 gegründete Nichtregierungsorganisation Urgenda will den Wandel der Wirtschaft zu Nachhaltigkeit und Klimaneutralität beschleunigen. Unter anderem ist es ihr gelungen, mit einer Kampagne für den Import von 50 000 Solarpanels deoren Preis massiv zu senken und den Markt zu öffnen. Kürzlich hat die Stiftung eine Firma gegründet, die Wohnhäuser ohne Erhöhung der Energiekosten energie-autark saniert.
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DENNIS VAN BERKEL (35) hat in Leiden (NL) Recht studiert. Er besitzt Masterabschlüsse der London School of Economics sowie der New York University School of Law. Seit 2013 arbeitet er als Rechtsberater bei Urgenda.
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PIETER POLDERVAART, 1967, ist freier Journalist im Pressebüro Kohlenberg in Basel. Er ist spezialisiert auf Umwelt- und Konsumthemen. Unter anderem ist er verantwortlicher Redaktor der Zeitschrift «Forum Raumentwicklung» des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE).
Klimaklagen machen weltweit Schule
Nicht nur in der Schweiz und in den Niederlanden, sondern rund um die Welt klagen Privatpersonen, Organisationen und Firmen gegen ihren Staat oder gegen Unternehmen, um deren Verhalten in Sachen Klimaschutz zu verändern.
Hier die Karte als PDF.
Klimawandel betrifft uns alle: «A Story of Hope» (engl. Video)