Gemeinsam mit 538 anderen Frauen klagt die Zürcher Historikerin Heidi Witzig gegen den Bundesrat. Die Landesregierung gefährde mit zu tief angesetzten Klimazielen die Gesundheit älterer Menschen, insbesondere von Frauen.
«Natürlich liege ich wegen der Klimaerwärmung nicht im Sterben», räumt die 72-jährige Heidi Witzig ein. Ihr mache eine Hitzewelle nicht viel aus, sie habe es gern wärmer. Gleichwohl habe sie zusammen mit 538 weiteren «Klimaseniorinnen» Klage gegen den Bundesrat eingereicht: «Weil ich als ältere Frau klageberechtigt bin, und weil es sich um ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen handelt.» Ihr mache eine Hitzewelle nicht viel aus, sie habe es gern wärmer. Gleichwohl habe sie zusammen mit 538 weiteren «Klimaseniorinnen» Klage gegen den Bundesrat eingereicht: «Weil ich als ältere Frau klageberechtigt bin, und weil es sich um ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen handelt.»
Die Klageberechtigung ergibt sich aus der Statistik: Wenn die Durchschnittstemperatur auf der Welt stetig steigt und sich auch in der Schweiz Hitzeperioden häufen, leiden ältere Frauen deutlich stärker als Männer und jüngere Personen. Dies ergab eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO. Eine weitere Studie des Bundesamtes für Gesundheit führte zum Ergebnis, dass im Hitzesommer 2003 die Sterblichkeitsrate bei Seniorinnen stark angestiegen war.
Nach Ansicht der Klägerinnen verstösst der Bundesrat mit seinen zu tief angesetzten Klimazielen gegen die Verfassung, denn die Mass-nahmen reichen nicht aus, um solche Hitzewellen in Zukunft zu verhindern. Dabei verpflichtet neben der Europäischen Menschenrechtskonvention auch Artikel 74 der Bundesverfassung die Regierung, Mensch und Umwelt «vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen» zu schützen. Ausserdem garantiert Artikel 10 allen das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
«Kein Klamauk»
Wenn es um Grundrechte und Schutzpflichten geht, sind tatsächlich die Gerichte zuständig und nicht die Parlamente. Der Weg der Klage sei deshalb auch kein Klamauk, betont Heidi Witzig: «Ich will nicht in einem Land leben, das sich ums Klima foutiert.» Hier habe sie die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, «politisch zu unternehmen», betont sie nochmals, denn sie ist genervt, wie einige Klimaseniorinnen in den Medien dargestellt wurden.
Etwa Monika Stocker «im blöden Interview» des Tages-Anzeigers. Darin wurde der Zürcher Alt-Stadträtin ihre Fitness vorgehalten sowie das Phänomen kritisiert, dass Schweizer Rentner ihren Lebensabend gerne in wärmeren Ländern verbringen. Als ob die eigene Gesundheit jede Sorge um die Umwelt und die Zukunft auslöschen könnte – und ein Pensionärinnen leben in Thailand oder Spanien gleichzusetzen wäre
mit Gutheissung der Erderwärmung.
Heidi Witzig ist seit 1968 in der Frauenbewegung aktiv. Weil sie Geschichte studiert, ihre Dissertation aber in Kunstgeschichte geschrieben hatte, fand sie keine Stelle als Gymnasiallehrerin. Also arbeitete sie als Dokumentalistin beim Schweizer Fernsehen, zog mit ihrem Partner eine Tochter auf – und vermisste zusehends ihr Spezialgebiet. Ihrer Freundin, der Histori-kerin Elisabeth Joris, die als Geschichtslehrerin arbeitete, ging es ähnlich. Beide wollten zurück in die Forschung und begannen Frauengeschichte(n) zu recherchieren «weil Frauen in der Schweizer Geschichte kaum vorkamen».
Das Buch der Schweizer Frauen, zu dem etliche Historikerinnen Dokumente beisteuerten, erschien 1986 und gilt heute noch als Standardwerk. Erschienen ist es im Limmat Verlag, zu dessen Gründerinnen Heidi Witzig gehört. Diese Arbeit leistete sie neben ihrem Job beim Fernsehen. Natürlich sei das neben der Familie eine grosse Belastung gewesen, aber sie wie Elisabeth Joris hätten damals in WGs mit anderen Elternpaaren gelebt. «Das gab einen Tag Haushalt in der Woche, einen einzigen Tag Kinderbetreuung. Das ging.»
Das Buch schlug dermassen ein, dass die Aufträge von selber kamen, als erstes vom Nationalfonds. Sie kündigte ihre Stelle beim Fernsehen und wurde freischaffende Historikerin mit Fokus Frauen-, Regional- und Alltagsgeschichte. Ihr wichtigstes Werk ist «Polenta und Paradeplatz», ein Buch über den Alltag von Frauen und Männern um 1900.
Sie habe grosses Glück gehabt, dass das Thema sie zutiefst interessiert und bewegt habe. Sie könnte noch heute jede Woche einen Artikel platzieren und jeden Tag einen Vortrag halten, sagt sie. Doch mit 67 habe sie ihr Arbeitspensum reduziert: «Ich musste mich entscheiden, wofür ich meine Energie einsetzen will.» Ihr letztes Buch – «Wie kluge Frauen alt werden» – ist vor neun Jahren erschienen.
Der Reiz des Alterns
Alt zu werden, sei einfach spannend, sagt sie. «Es ist eine Zeit der Reifung, der Versöhnung und», jetzt muss sie lachen, weil sie sich immer noch furchtbar aufregen kann: «eine Zeit der Mässigung.» Sie sei ein feuriger Typ, inzwischen aber «relativ gemässigt unterwegs». Früher habe sie immer haargenau gewusst, was richtig und was falsch sei; sie sei «enorm fundamentalistisch» gewesen. Jetzt lache sie manchmal über ihr damaliges Ich.
Ihren Fundamentalismus musste sie schon einmal auf Eis legen – in den Achtzigern, als sie acht Jahre für die SP im Gemeinderat Uster sass. Da war Gespür gefragt, um Sachfragen gemeinsam zu lösen. «Ich habe dort gemerkt, dass nicht nur ich das Beste für meine Stadt wollte, sondern auch meine politischen Gegnerinnen und Gegner. Ihr Bestes war einfach etwas ganz anderes.» Heute würde sie nie mehr in einem Parlament politisieren, obwohl sie die SP in Winterthur, wo sie seit vielen Jahren lebt, wiederholt auf die Wahlliste setzte. «Ich brauche meine Energie für anderes und der raue Ton, der heute herrscht, ist mir auch zuwider.» Jetzt sei sie mehr unterwegs, sei es, wie gerade eben, auf einer Schamanen-Tour durch die Mongolei oder wandernd durch die Schweiz.
Kein bisschen ruhiger geworden ist sie aber in ihrer Haltung. Das Private sei für sie – wie
in den bewegten Zeiten – nach wie vor politisch. Bis vor vier Jahren wohnte sie wieder in einer Wohngemeinschaft, nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal ohne ihn in einer WG mit drei älteren Frauen. Das sei erstmals schiefgegangen: «Diskussionen finde ich beim Zusammenleben absolut in Ordnung, Streit und harte Worte muss ich aber nicht haben.» Schlimm findet sie das Scheitern nicht. Jetzt wohne sie eben zum ersten Mal in ihrem Leben allein und finde es toll.
Zumal sie auch ihre Enkel regelmässig sieht; sie hat jede Woche einen fixen Betreuungstag. Als ihr erstes Grosskind auf die Welt kam, war sie noch voll am Arbeiten und teilte ihrer Tochter mit, wöchentliche Hütedienste kämen für sie nicht in Frage. «Und dann hab ich den Buben zum ersten Mal gesehen, er hat mich mit grossen Augen angeschaut, und es war um mich geschehen.» Sie ist heute froh darum – auf der Website der Klimaseniorinnen steht nicht von ungefähr: «Historikerin und engagierte Grossmutter».
Zum Engagement gehört auch ihre Tätigkeit im Matronat eines Think Tanks für die ältere Frauengeneration. Dass diese Plattform «Grossmütter(R)evolution» heisst, macht Heidi Witzig nicht besonders glücklich: «Wir haben schliesslich nicht unser Leben lang dafür gekämpft, dass Frauen nicht in erster Linie Mütter sein müssen, um jetzt ältere Frauen pauschal zu Grossmüttern zu machen.» Sie verstehe jede Frau, die sich darüber aufregt. Aber nun sei es halt so – den Namen bringe man nicht mehr los und die Medien liebten ihn sowieso. Sie zuckt mit den Schultern. Das Alter, die Zeit der Mässigung.
Vorbild Holland
Die Klimaklage ist ein Projekt der Klimaseniorinnen (www.klimaseniorinnen.ch). Sie wird unterstützt von Greenpeace Schweiz und weiteren Organisationen. Der Verein hat rund 540 Mitglieder, alles Frauen im AHV-Alter. Sie kritisieren, dass die Klimaerwärmung mit dem im Schweizer CO2-Gesetz verbrieften Reduktions-Ziel bis 2020 nicht auf 2 °C reduziert werden kann – und schon gar nicht auf die 1,5 Grad gemäss Übereinkommen der jüngsten Klimakonferenz in Paris. Immer mehr Menschen rufen die Justiz an, weil die Politik nicht genügend tut, um die Klimaerwärmung zu begrenzen. In Holland haben fast 900 Zivilisten mit der Stiftung Urgenda gegen den Staat geklagt und erstinstanzlich Recht bekommen. Das Gericht hat den Staat verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2020 stärker als geplant einzudämmen, nämlich um 25 bis 40 Prozent statt der geplanten 17 Prozent gegenüber 1990. Die Regierung hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. In Belgien, den USA, Norwegen und den Philippinen laufen ähnliche Klagen.