Nach fünfjährigem Ringen und einem politischen Hin und Her um den Atomausstieg wollen die BundesparlamentarierInnen den AKW-Betreibern erlauben, ihre Atommeiler zeitlich unbegrenzt und ohne weitere sicherheitstechnische Auflagen weiter laufen zu lassen.
Obwohl sich die eidgenössischen Räte in der Herbstsession für die Energiestrategie 2050 ausgesprochen haben, bleibt der wichtigste Punkt indes ungelöst: Eine Laufzeitbeschränkung für die Schweizer Altreaktoren. Diesen verantwortungslosen Entscheid will die Atomausstiegsinitiative verhindern, und mit einem Ja zum geordneten Atomausstieg kann die Bevölkerung am 27. November die Versäumnisse des Parlaments korrigieren und die Energiestrategie bestens ergänzen.
Am 11. März 2011 kommt es in Fukushima in drei Atomreaktoren zu einer Kernschmelze. Weltweit herrscht Entsetzen, die Zweifel an der Atomenergie wachsen – auch in der Schweiz. Denn hier steht das älteste Atomkraftwerk der Welt: Beznau 1. Es hat den Betrieb 1969 aufgenommen und ist zum Zeitpunkt des Unglücks 42 Jahre alt. Der Zwillingsreaktor Beznau 2 ist zwei Jahre jünger. (Video dazu findest du hier)
Zwei Monate nach Fukushima verkündet der Bundesrat den Atomausstieg. Er will den Bau neuer AKW gesetzlich verbieten. Die bestehenden Kraftwerke sollen in Betrieb bleiben, «solange sie den Sicherheitskriterien genügen». In der Vorstellung der Energieministerin Doris Leuthard wären dies ungefähr 50 Jahre: Bis zum Jahr 2034 könnte demnach Schluss sein mit der Atomstromproduktion. (Video dazu findest du hier)
Im selben Jahr beschliessen Regierung und Parlament in Deutschland, 8 der 16 Atomkraftwerk umgehend still zulegen, die übrigens stufenweise bis zum Jahr 2022. Den Grünen gehen die Pläne des Bundesrats nicht weit genug. Mit ihrer kurz vor der Ausstiegsankündung des Bundesrats lancierten Volksinitiative für einen geordneten Atomausstieg fordern sie ein Verbot neuer Atomkraftwerke, definieren aber auch die Zeitlimite für die alten Kraftwerke unmissverständlich: Nach maximal 45 Jahren Betriebszeit sollen sie endgültig vom Netz. Demnach müsste Leibstadt den Betrieb als letztes der fünf Schweizer AKW 2029 einstellen, Beznau 1 ein Jahr nach der Annahme der Initiative.
Die Ausstiegsankündigung riecht von Anfang an nach einem faulen Kompromiss: Zwar wird der Bau neuer AKW verboten, aber die bestehenden Anlagen könnten theoretisch ewig weiterlaufen. Das Ende der Atomkraft wird zeitlich nicht definiert.
(Video dazu findest du hier)
Im Oktober 2011 finden in der Schweiz National- und Ständeratswahlen statt, während die Aufräumarbeiten in Fukushima erst richtig anlaufen. Die Medien berichten nach wie vor fast täglich über die Folgen der Katastrophe. Der Schock sitzt tief bei der Schweizer Bevölkerung. Viele Politikerinnen und Politiker beschwören den Atomausstieg im Wahlkampf und versprechen, sich dafür einzusetzen, dass die Schweizer AKW nach spätestens 50 Betriebsjahren vom Netz müssen.
Das Parlament befasst sich von Juni bis Dezember 2011 mit der Ausstiegsfrage. Es ist ein zähes Ringen um den atompolitischen Grundsatzentscheid. Auf Drängen bürgerlicher Exponenten in der FDP streiten die Politiker monatelang, ob das Verbot einer bestimmten Technologie überhaupt angemessen sei. Am Ende resultiert ein Kompromiss mit Hintertüren: Das Neubauverbot für Atomkraftwerke darf nicht zu absolut sein. Der Bundesrat soll zuerst einmal eine Gesetzesgrundlage schaffen – entscheiden könne man dann später.
Im April 2012 stellt der Bundesrat fest, dass der Atomausstieg technisch und wirtschaftlich machbar wäre. Das Departement für Umwelt, Verkehr und Energie (UVEK) unter der Leitung von Doris Leuthard wird mit der Erarbeitung einer Gesetzesvorlage für ein erstes Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 beauftragt. (Video dazu findest du hier)
Im November 2012 wird die Atomausstiegsinitiative eingereicht. Einen Monat später äussert sich das Eidgenössische Nukleare Sicherheitsinspektorat (ENSI) erstmals mit vorsichtigen zweifeln an der eigenen Aufsichtsgesetzgebung. Da grundsätzlich die Gefahr bestehe, dass Betreiber gegen Ende der AKW-Betriebszeit nicht mehr in die Sicherheit investierten und das Risiko eines Unfalls aufgrund alternder Bauteile stark steige, sollten Atomkraftwerke bis zum letzten Tag über einen ausreichend hohen Sicherheitspuffer verfügen. Vor 2011 war diese zusätzliche Sicherheitsmarge aus der Warte des ENSI durch den planbaren Ersatz nach 40 Jahren Betriebszeit gewährleistet. Aufgrund der veränderten politischen Debatte, könnten AKW jedoch länger laufen – dafür stiegen ohne zusätzliche Bestimmungen die Sicherheitsrisiken für den sogenannten Langzeitbetrieb. Das ENSI empfiehlt daher die Verankerung zusätzlicher Sicherheitsnachweise im Gesetz. Ausserdem solle der Weiterbetrieb nach 40 Jahren an verbindliche Auflagen und Investitionskonzepte geknüpft sein. Den Kern ihrer Erkenntnis spricht die Aufsichtsbehörde nie deutlich aus: Wir können die Sicherheit bei über 40 Jahre alten Atomkraftwerken nicht gewährleisten.
Im Oktober 2013 beginnt die Energiekommission des Nationalrats ihre Beratungen zur Energiestrategie 2050 und kommt dabei auch an den Hinweisen des ENSI nicht vorbei. Im bürgerlichen Lager hält sich die Bereitschaft, über Laufzeitbefristungen zur Gewährleistung der Bevölkerungssicherheit nachzudenken, allerdings in Grenzen.
Nach über einjähriger Arbeit der Energiekommission brütet im Dezember 2014 der Nationalrat über der Energiestrategie und beschliesst im Kernenergiegesetz eine vom Bundesrat abweichende Bestimmung: Das Verbot neuer AKW soll mit Bestimmungen für bestehende AKW ergänzt werden. Ab dem 40. Betriebsjahr müssen Betreiber alle 10 Jahre ein Langzeitbetriebskonzept einreichen, welches vom ENSI geprüft wird. AKW, die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits älter sind als 40 Jahre, sollen ihren Betrieb nach spätestens 60 Jahren einstellen. Von dieser Bestimmung wären Beznau 1 und 2 (Inbetriebnahme 1969/1971) sowie Mühleberg (1972) betroffen.
Nach drei viertel Jahren der Diskussion in seiner Energiekommission schliesst sich der Ständerat im Herbst 2015 nicht einmal den zaghaften Beschlüssen des Nationalrats an, sondern verwirft sowohl das Langzeitbetriebskonzept wie auch die Laufzeitbefristung.
Was nach einem Durchbruch klingt, ist in Wahrheit ein politischer Kompromiss auf bescheidenem Niveau: Der Nationalrat ignoriert eine wesentliche Empfehlung seiner eigenen Energiekommission: Er streicht die Anforderungen an zusätzliche Sicherheitsmargen aus dem Langzeitbetriebskonzept. So ist eine qualitative Verbesserung der Sicherheit im hochriskanten Altersbetrieb auch mit dem neuen Konzept nicht möglich. Die AKW Gösgen (Inbetriebnahme 1979) und Leibstadt (1984) könnten nach den Plänen des Nationalrats 70, 80 oder noch mehr Jahre laufen. Aber selbst bei Beznau 1 und 2 – notabene mittlerweile in ihrem 47. respektive 45. Betriebsjahr – können sich die meisten Nationalräte nicht mehr daran erinnern, dass sie im Wahljahr 2011 versprochen haben, die Laufzeiten auf 50 Jahre zu begrenzen. Stattdessen beschliessen sie eine um 10 Jahre verlängerte Limite, die der äussersten technischen Schmerzgrenze eines AKWs älterer Bauart entspricht.
Der neue, deutlich rechtskonservativer zusammengesetzte Nationalrat bestätigt im Frühjahr 2016 die Streichungsbeschlüsse des Ständerats. Wer ein AKW an der Alterslimite betreibt, soll überhaupt keine Auflagen erhalten. Die AKW Schweiz wird sowohl strompolitisch wie auch in Sachen Sicherheit in den Blindflug entlassen. Niemand weiss, wann die Reaktoren in Beznau, Gösgen und Leibstadt vom Netz gehen sollen. Niemand weiss, welche sicherheitstechnischen Nachrüstungen in den heikelsten Betriebsjahren getätigt werden sollen.
Nach fünfjährigem Hin und Her ist die Ausgangslage prekär: Geht es nach Bundesrat und Parlament, ist das Bauverbot für neue Atomkraftwerke zwar unbestritten. Die bestehenden AKW können jedoch weiterlaufen – ohne weitere sicherheitstechnische Anpassungen, geschweige denn mit einem gesetzlich verankertem Enddatum.
Am 27. November hat es das Schweizer Stimmvolk mit der Initiative für einen geordneten Atomausstieg in der Hand, die atomaren Risiken der AKW für die Bevölkerung mit Laufzeitbefristungen auf ein Minimum zu begrenzen. Zudem kann mit der Initiative eine geordnete und planbare Ausserbetriebnahme der fünf Schweizer AKW -festgelegt werden. Nur so lässt sich verhindern, dass die Schweiz aus parlamentspolitischer Uneinsichtigkeit den richtigen Zeitpunkt zum Atomausstieg verpasst.
Anne Koch ist Verantwortliche Politik bei Greenpeace Schweiz.