Der Krieg in Syrien zeigt beispielhaft, wie wichtig es wäre, dass Bäuerinnen und Bauern selber bestimmen können, welches Saatgut sie verwenden.
Wer schon einmal selbst gezogenes Gemüse geerntet oder sich über die bunten Blumen im Gartenbeet gefreut hat, weiss aus eigener Anschauung, welch wundersame Verwandlung ein Samenkorn im Verlauf des Jahres durchmacht. Der Griff zur bunt bedruckten Samentüte für den Blumen- und Gemüsegarten ist für viele so selbstverständlich wie der Einkauf im Supermarkt, der zu allen Jahreszeiten mit einer beeindruckenden Gemüseauswahl aufwartet. Doch woher stammt das Saatgut, das im Baumarkt verkauft wird, und wo kommt eigentlich das Saatgut für das in den Supermärkten angebotene Gemüse her?
Dass Saatgut die Basis der Lebensmittelproduktion ist, wir alle also von dessen Verfügbarkeit existenziell abhängig sind, ist inzwischen allgemein bekannt. Und doch ist den wenigsten klar, wie prekär die Lage in diesem wichtigsten Bereich der landwirtschaftlichen Produktion heute ist. Betroffen sind wir alle, auch wenn sich dies in einem reichen Land wie der Schweiz auf eine ganz andere Weise zeigt als beispielsweise in Syrien, wo seit vier Jahren Krieg herrscht.
Saatgut und Selbstbestimmung
Die syrische Landwirtschaft ist infolge der anhaltenden Kämpfe inzwischen weiträumig zerstört. Die Preise für Lebensmittel sind seit 2011 markant gestiegen: Reis wurde um 387 Prozent, Weizenmehl um fast 200 Prozent teurer. Vor dem Krieg war die Landwirtschaft intensiviert und industrialisiert worden. Anstatt für lokale Märkte zu produzieren, wurden zunehmend Cash Crops * für den internationalen Markt angebaut und damit auch Bewässerungssysteme eingeführt, Pflanzenschutz- und Düngemittel, grosse Maschinen und sogenanntes Hochleistungssaatgut. Eine zentrale staatliche Stelle entschied, wer welches Saatgut bekam, und trieb mit dem Ende der Saison auch die Erträge ein. Saatgut für das nächste Jahr aufzubewahren, war streng verboten. In kurzer Zeit verloren die syrischen Bäuerinnen und Bauern das Wissen und die Souveränität über ihr eigenes Saatgut — eine Entwicklung, die sich in der aktuellen Krisensituation als besonders verheerend erweist.
Seit 2014 versucht ein internationales Netzwerk, das sich «The 15th Garden» nennt, zu helfen. Mit Saatgut-Workshops und dem gemeinsamen Aufbau von Gärten gerade auch in den umkämpften und belagerten Städten sollen die Menschen in die Lage (zurück)versetzt werden, ihre eigenen Nahrungsmittel zu produzieren. Im Zentrum der Arbeit steht die Wissensvermittlung, etwa zur Saatgutvermehrung oder zu Bewässerung und Kompostierung, aber auch die politische Vernetzung spielt eine wichtige Rolle. Auf geheim gehaltenen Wegen wird darüber hinaus Saatgut ins Land gebracht. Das Netzwerk ist nicht nur in Syrien, sondern auch in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern aktiv. Dass die Arbeit mit dem Saatgut über die blosse Selbstversorgung bzw. Überlebenssicherung hinausgeht und von grosser politischer Relevanz ist, weil die Menschen so auch Entscheidungsfreiheit zurückgewinnen, ist ein wichtiger Antrieb der Aktivisten und Aktivistinnen.
Backup aus dem Eis
Der Krieg beeinflusst die lokale Saatgutversorgung noch auf einer anderen Ebene. Im syrischen Aleppo hat das Internationale Zentrum für Agrarforschung in trockenen Regionen (ICARDA) seinen Hauptsitz. Bereits 2012 zog es nach Beirut, um das kostbare Saatgut in Sicherheit zu bringen. Weil die Vervielfältigung der an trocken-heisse Regionen angepassten Sorten wegen der Kämpfe aufgegeben werden musste, fordert das Institut nun Saatgutproben — vor allem von Weizen, Gerste und Kichererbsen — aus der norwegischen «Svalbard Global Seed Vault» zurück. Auf Spitzbergen, tief im Inneren eines Berges und umhüllt von Permafrost, lagert die grösste Saatgutsammlung der Welt. Geschützt vor Wetterextremen, Naturkatastrophen und Kriegen sollen mehr als 860 000 Kulturpflanzen-Samen aus so gut wie jedem Land der Erde die Jahrhunderte überdauern. Mit der Anfrage aus Beirut könnte die Sammlung nun zum ersten Mal geöffnet werden. Das aus Syrien stammende Saatgut soll im Libanon und in Marokko angebaut, vermehrt und anschliessend an Wissenschaftlerinnen, Züchter, Bäuerinnen und Bauern abgegeben werden. Ein Teil des neu gewonnenen Saatguts würde auch wieder auf Spitzbergen eingelagert — als Sicherheit für die Zukunft.
Das Geschäft mit dem Saatgut
Unsere enorme Vielfalt an Kulturpflanzen verdanken wir der langjährigen Arbeit von Bäuerinnen und Gärtnern. An den unterschiedlichsten Standorten entwickelten sie aus Wildpflanzen durch Selektion und Züchtung über Jahrhunderte neue Sorten, angepasst an Boden und Klima vor Ort. Nicht nur die Züchtung von Pflanzen, auch die Produktion von Saatgut war über lange Zeit ein wichtiger Teil der bäuerlichen Arbeit. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich in Europa — unterstützt durch wissenschaftliche Entwicklungen wie die Wiederentdeckung der Mendel’schen Vererbungslehre und die Intensivierung der Landwirtschaft — ein eigenständiges Züchtungsgewerbe zu entwickeln. Obwohl sich bereits ab dem Ende des 19. Jahrhunderts für einige Kulturen (z.B. Getreide) ein internationaler Saatguthandel entwickelte, blieben die eher kleinteiligen Unternehmensstrukturen fast ein Jahrhundert lang erhalten. Erst in jüngster Zeit sind Züchtung und Saatgutproduktion zu einem Industriezweig geworden, in dem wie in anderen Geschäftsfeldern Kapitalstärke, Konkurrenz, Marktmacht und Shareholder-Value dominieren.
Lange war es selbstverständlich gewesen, dass Bäuerinnen und Bauern einen Teil der Ernte zurückbehielten, um ihn im nächsten Jahr wieder auszusäen. Auch der Saatguttausch war verbreitet. Kommerzielle Interessen, wie sie die Agrarkonzerne verfolgen, lassen sich allerdings nur schwer durchsetzen, solange sich Saatgut nachbauen lässt und das entsprechende Wissen darüber vorhanden ist. Denn Bäuerinnen oder Bauern, die nur einmal Saatgut kaufen und es danach selbst vermehren, sind als Kunden verloren.
Lukrative «Einmalsorten»
Um diesen bäuerlichen Nachbau zu unterbinden und aus dem Saatguthandel ein profitables Geschäft zu machen, wurden zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen. Zum einen veränderten die Firmen die Pflanzen biologisch so, dass sich ein Nachbau entweder nicht mehr lohnt oder gar nicht mehr möglich ist. Hybridsorten zum Beispiel sind «Einmalsorten»: Wird eine Hybridsorte weiter vermehrt, spaltet sie sich in verschiedene Formen auf; die Sorte als solche ist nicht beständig, weshalb jedes Jahr neues Saatgut gekauft werden muss. Zum anderen erliess die Politik rechtliche Restriktionen wie den Sorten- oder Patentschutz, die den Nachbau entweder einschränken — es muss z.B. eine Gebühr bezahlt werden — oder gleich ganz verbieten. Für die Unternehmen ist die Rechnung aufgegangen: Mit Saatgut lässt sich heute viel Geld verdienen, vor allem wenn es im Paket mit den dazugehörigen Pflanzenschutzmitteln verkauft wird. Auf bäuerlicher Seite hingegen ist wegen dieser Entwicklung viel Wissen über den Umgang mit Saatgut verloren gegangen.
Vielfalt auf dem Teller?
Dass das Geschäft mit dem Saatgut inzwischen — für einige wenige — äusserst profitabel ist, machen auch die regelmässig veröffentlichten Zahlen zum Stand der Konzernkonzentration deutlich. Über die Hälfte des globalen kommerziellen Saatgutmarktes (53,4 Prozent) entfallen laut der kanadischen ETC-Group (2013) auf nur drei Unternehmen: Monsanto, DuPont Pioneer und Syngenta. Die zehn grössten Unternehmen machen mehr als 75 Prozent des globalen Saatgutmarktes aus. Dies hat Auswirkungen auf die Bäuerinnen und Bauern, die nicht nur mit hohen und weiter steigenden Saatgutpreisen zu rechnen haben, sondern auch mit einer sinkenden Angebotsauswahl konfrontiert sind: Bei Cash Crops wie Mais, Raps oder Soja gibt es z.B. in den USA so gut wie keine Alternative mehr zu den teuren, gentechnisch veränderten Sorten der Saatgutmultis, die nur im Doppelpack mit der dazugehörigen Agrarchemie erhältlich sind.
Von diesen Entwicklungen betroffen sind aber auch die Verbraucher, die — z.B. beim Gemüse — ebenfalls fast nur noch die Sorten der ganz Grossen im Handel finden. Bereits 71 Prozent aller geschützten Blumenkohlsorten, 62 Prozent der Tomaten und 56 Prozent der Peperoni kommen in Europa von Syngenta und Monsanto. Bei diesen Sorten handelt es sich ausnahmslos um Hybriden. Dies hat zwar durchaus Vorteile, z.B. für den Produzenten, der das sehr einheitliche, gleichmässig reifende Gemüse in grossen Chargen verkaufen kann. Auch der Handel ist zufrieden, erfüllen diese Sorten doch die heute so wichtigen Merkmale der langen Transport- und Lagerfähigkeit. Die Verbraucher müssen jedoch auf Vielfalt verzichten: Was vor allem bei den äusseren Eigenschaften — Grösse, Farbe, Festigkeit — auch nur leicht von der Norm abweicht, schafft es schon als Sorte nur schwer oder gar nicht auf den Acker und erst recht nicht in den Handel. Dies liegt auch daran, dass das Saatgutrecht die sehr einheitlichen, uniformen Hybridsorten begünstigt. Die sogenannten samenfesten Sorten, die sich vermehren lassen, ohne dass sie wie die Hybriden ihre Sorteneigenschaften verlieren, haben es dagegen noch immer schwer, weil sie die absurd hohen Anforderungen der Sortenprüfung vor allem hinsichtlich der Einheitlichkeit häufig nicht erfüllen.
Doch nicht nur die älteren, samenfesten Sorten mit ihrer grossen Geschmacks-, Farben- und Formenvielfalt, auch die neu entwickelten Sorten aus der Biozüchtung sind es, die das grösste Potenzial für die Zukunft haben. Denn eine Saatgut- und Ernährungssouveränität kann es nur mit vermehrungsfähigen Sorten geben, mit denen — möglichst überall auf der Welt — weitergezüchtet werden kann. Eine Weiterentwicklung ist aber nur dann möglich, wenn dies auch rechtlich erlaubt ist. Deshalb lehnen nicht nur Erhaltungsorganisationen wie ProSpecieRara, sondern auch Biozüchtungsunternehmen wie Sativa Rheinau geistige Eigentumsrechte an Pflanzen ab.
Samenfeste Sorten sind darüber hinaus nicht für einen hohen Input an Dünge- und Pflanzenschutzmittel gemacht; sie sollten im Gegenteil auch bei einem geringeren Nährstoffangebot noch angemessene Erträge bringen. Nur mit samenfesten Sorten wird es also zum seit Jahren geforderten grundlegenden Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft kommen können. Es gibt viele gute Gründe, dass diese Sorten noch stärker als bislang von Bäuerinnen und Bauern, aber auch von den Verbrauchern nachgefragt werden.
* Die Bezeichnung Cash Crops steht für den Anbau von hochwertigen landwirtschaftlichen Produkten, die ausschliesslich für den Export verwendet werden, da sie den Ansprüchen des Weltmarktes genügen.
Dr. Eva Gelinsky leitet die Interessengemeinschaft für gentechnikfreie Saatgutarbeit und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Pro-Specie-Rara und freiberuflich tätig.